13.06.2003

Die Inszenierung einer surrealen Demokratie

zurück

Die Inszenierung einer surrealen Demokratie

TROTZ der Selbstmordattentate, bei denen in Tschetschenien erst jüngst wieder 75 Menschen starben, hält der russische Präsident Putin beharrlich an seiner Position fest: Es gelte den Konflikt zu „tschetschenisieren“, sagte er in einer Rede am 16. Mai und benannte als die vier zentralen Punkte die Sicherung von Recht und Ordnung durch lokale Polizeieinheiten, die Wahl eines Präsidenten und eines Parlaments noch in diesem Jahr, einen Vertrag über die Kompetenzen der Russischen Föderation und des Tschetschenischen Bundesstaates und last, not least: eine Amnestie. Kein Wort über die Ausschreitungen russischer Soldaten, deren Gewalttätigkeiten bei den jungen Leuten in Tschetschenien vor allem einen Wunsch nähren: den nach Vergeltung.

Von GWENN ROCHE *

Was einen bei der Ankunft in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny erstaunt, sind nicht die Kontrollposten, nicht die maskierten Militärs auf ihren Panzerwagen, nicht einmal die dröhnenden Maschinengewehrsalven, nicht die Schuttberge oder die aufgerissenen Straßen, die umgestürzten Bäume oder die verwüsteten Häuser, nicht die zerklüfteten Fassaden und nicht die ausgebrannten Ruinen. Das alles hat man in etwa erwartet, es gehört zu unserer Vorstellung von einer Kriegslandschaft. Was überrascht, sind die Spuren des Alltags, die Zeichen menschlicher Aktivität, das Auftauchen von leibhaftigen Menschen in dieser Geisterstadt. So seltsam es erscheint, man ist überrascht über den beinah absurden Anblick der zwischen Mauerrissen trocknenden Wäsche, der statt Fensterscheiben aufgespannten Laken, über die Getränkestände und ausgebreiteten Waren am Straßenrand.

Vor etwas mehr als drei Jahren, von September 1999 bis März 2000, wurde Grosny massiv bombardiert. Die meisten Einwohner flohen, doch einige blieben, andere sind inzwischen wieder zurückgekehrt. Inmitten der Trümmer geht das Leben weiter, hier und da bilden sich neue Initiativen – ein Leben, das den Trümmern gleicht, versprengt, zerhackt, zerstückelt. Für dieses kleine Land ist es der zweite Krieg innerhalb von zehn Jahren. Ein erster Konflikt hatte zwischen 1994 und 1996 bereits den Großteil der zivilen Infrastruktur zerstört und an die 100 000 Tote hinterlassen.

Vielleicht vollzieht sich derzeit in Tschetschenien eine Wende. Zwar konzentrieren sich die umfangreichen Militäroperationen – massive Bombardierungen von Städten oder Dörfern – seit dem Frühjahr 2000 auf die Bergregionen (die Bezirke von Chatoi, Itum-Kalinski und Wendenski), seit sie im Flachland gestoppt wurden, und auf der Suche nach „Terroristen“ haben die russischen Militärs schreckliche „Säuberungsoperationen“ durchgeführt – mit Plünderungen, Misshandlungen, willkürlichen Festnahmen, Folterungen und summarischen Exekutionen (die Zahl der zivilen Opfer seit 1999 wird auf rund 70 000 geschätzt). Doch die russische Regierung redet von einer „Normalisierung“ der Lage und versucht, die eigene Bevölkerung und die westlichen Staaten von der Notwendigkeit der „Antiterroroperationen“ in Tschetschenien zu überzeugen. Am 11. Februar 2003 erklärte Putin in den Fernsehnachrichten von TF 1: „Die gesamte Infrastruktur des Widerstandes ist zerschlagen. Heute gibt es nur noch einzelne, versprengte Terrorgruppen.“

Die Übergriffe gegen Zivilisten jedoch gehen weiter. In den letzten Monaten, besonders seit der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater im Oktober 2002, haben die föderalen Truppen ihre „gezielten Aktionen“ verstärkt. Diese willkürlichen Festnahmen, bei denen Leute verschwinden oder kurzerhand exekutiert werden, finden nachts statt, ausgeführt von maskierten Männern, die sich meistens nicht ausweisen, aber sehr genau wissen, auf wen sie es abgesehen haben. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial spricht von organisierten Verbrechen, die durch Männer aus verschiedenen Truppeneinheiten ähnlich den „Todesschwadronen“ begangen werden.

K. lebt in einem Dorf des Bezirks Urus-Martan, südwestlich von Grosny. „Ich habe fünf Söhne“, sagt er. „In der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 2002 sind Soldaten mit einem Panzerfahrzeug in meinen Garten eingedrungen. Sie waren vermummt und bewaffnet und haben erklärt, sie seien vom GRU, dem militärischen Geheimdienst. Sie haben vier meiner Söhne im Alter zwischen 22 und 28 Jahren mitgenommen und verschleppt. Seither sind sie verschwunden. Obwohl ich bei allen Instanzen nachgeforscht habe – beim FSB [das ist die Nachfolgeorganisation des KGB], bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Armee –, habe ich keinerlei Information darüber erhalten, wo meine Söhne sind.“

Zur Zeit gelten mehrere tausend Menschen – vorwiegend Männer – als vermisst. Immer wieder stößt man in Massengräbern auf Leichen von Vermissten, die von Militäreinheiten, FSB oder Polizei verhaftet wurden. Sie belegen einmal mehr die Mitverantwortung der föderalen Streitkräfte. Die Verbrechen, die die russische Armee in Tschetschenien begeht, werden nicht strafrechtlich verfolgt. Lediglich etwa fünfzig Militärangehörige sind seit Kriegsbeginn wegen verschiedener Straftaten gegen Zivilisten verurteilt worden. Gegen die Verantwortlichen der „Säuberungsoperationen“ von Alchan Jurt (Dezember 1999) und Nowije-Aldy (Februar 2000), die wegen der besonders hohen Zahl ziviler Opfer traurige Berühmtheit erlangten, wurde bis zum heutigen Tag nicht einmal ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Heute existieren in Tschetschenien zwei parallele Regierungen: Zum einen gibt es den im Januar 1997 unter dem Schutz der OSZE gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, der sich an die Spitze des Widerstands gesetzt hat und die „russischen Invasoren“ bekämpft, wie er das nennt. Zum anderen hat der Kreml im Juni 2000 den ehemaligen Mufti der Republik, Achmad Kadirow, als Leiter einer prorussischen tschetschenischen Verwaltung eingesetzt.

Seit einigen Monaten ziehen bewaffnete Milizen, die dem direkten Befehl Kadirows unterstehen, des Nachts los, um willkürlich Leute festzunehmen und die Bevölkerung zu terrorisieren. Vielleicht „entlasten“ sie auf diese Weise die föderalen russischen Truppen um manche ihrer Operationen. Doch zumindest teilweise sind diese Razzien durch individuelle Repressalien oder rein kriminelle Absichten motiviert.

Der tschetschenische Widerstand befindet sich in einer heiklen Lage: Seit dem 11. September 2001 hat das russische Militär seine Aktionen verstärkt und die Gruppen teilweise aufgerieben. Hinzu kommt, dass die eigenen Versorgungsnetze schwächer geworden sind: Die logistische und finanzielle Unterstützung aus der Türkei und aus Saudi-Arabien bleibt aus, und da die Bevölkerung, erschöpft von dreieinhalb Jahren Krieg, offensichtlich mehr und mehr bereit ist, den Scheinfrieden der russischen Obrigkeit zu akzeptieren, wird es auch immer schwieriger, neue Kämpfer zu rekrutieren.

Die ausgebluteten, versprengten, nicht selten radikalisierten Widerstandsgruppen richten ihre Aktionen zuallererst gegen die russische Militärpräsenz, wie die jüngsten Attentate gegen die russischen Streitkräfte bezeugen. Seit jeher schwankte Maschadow in seinem Verhältnis zu den Islamisten, doch in jüngster Zeit näherte er sich ihnen an, und im Sommer 2002 schuf er sich ein islamistisches Aushängeschild: Die Madschlis al-Schura (Beratende Versammlung), zu deren Vorsitzenden er Schamil Bassajew ernannte. Seither haben radikale Islamistenchefs wie Mowladi Udugow oder Selimchan Jandarbijew neuen Auftrieb erhalten.

Seit einigen Monaten ist übrigens zu beobachten, dass Maschadow, der sich doch stets auf einen gewissen Laizismus berufen hat, besonders bei Medienauftritten islamistische Symbole benutzt. Diese Tendenz ist unter den tschetschenischen Kämpfern offenbar weit verbreitet – man hat es auch an der Haltung der Geiselnehmer des Musical-Theaters gesehen – und scheint weniger Ausdruck einer echten Radikalisierung: Sie sind überzeugt, dass sie vom Westen nichts mehr zu erwarten haben, und hoffen, aus der islamistischen Symbolik Profit schlagen zu können. Unmerklich verschiebt sich das Bild, das sie von sich selbst haben und der Welt darbieten. Damit riskieren sie, dass sie all jenen, die sie als Geschöpfe Ussama Bin Ladens darstellen, in die Hände arbeiten. Aber kümmert sie das noch?

Die Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater vom Oktober 2002 durch ein tschetschenisches Kommando war ein Glücksfall für die russische Regierung, die das Schreckgespenst der „terroristischen Bedrohung“ aus Tschetschenien seit langem beschworen hatte, vor allem seit dem 11. September 2001. Im Endeffekt hat das Geiseldrama Maschadow ins Abseits gedrängt, denn er wird nun von russischer Seite offiziell dem Lager der al-Qaida zugeschlagen. Jede Aussicht auf politische Verhandlungen mit den tschetschenischen Partnern ist in weite Ferne gerückt, weshalb manche Beobachter über mögliche Verbindungen zwischen den tschetschenischen Geiselnehmern und den russischen Geheimdiensten spekulieren.

Die russische Journalistin Anna Politkowskaja hat in der Wochenzeitschrift Nowaja Gaseta vom 28. April 2003 einen denkwürdigen Zufall enthüllt: Ein noch lebendes Mitglied des Kommandos, früher Maschadows Vertreter in Jordanien, arbeitet heute ausgerechnet in Putins Pressestab! Wie gefährlich die Suche nach der Wahrheit werden kann, erfuhr Sergei Juschenkow, ein Duma-Abgeordneter, der der Untersuchungskommission über das Attentat angehörte: Er wurde am 17. April dieses Jahres von Unbekannten ermordet.

Auch hinsichtlich der Anschläge vom September 1999 auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk, die den tschetschenischen Rebellen zugeschrieben und von Putin damals als Rechtfertigung für neuerliche Militäroperationen in Tschetschenien benutzt wurden, gibt es nach wie vor erhebliche Zweifel. Bisher konnte keinem Tschetschenen eine Schuld nachgewiesen werden, aber zahlreiche Zeugenaussagen gaben Hinweise auf den FSB. Jeder weiß, dass der russische Oligarch Boris Beresowski, der mittlerweile nach London ins Exil gegangen ist, jedoch seinerzeit der Familie Jelzin nahe stand, Männer wie den tschetschenischen Warlord Schamil Bassajew oder den Islamisten Mowladi Udugow finanziert hat.

Nachdem die russische Regierung entschieden hatte, jeden Kompromiss abzulehnen, musste sie einen anderen Weg einschlagen: Sie erfand einen „politischen Prozess“, der ohne Verhandlungen mit der Gegenpartei auskommt. In dieser Absicht hat Moskau am 23. März 2003 in Tschetschenien ein Referendum über die Einführung einer neue Verfassung durchgeführt, deren erster Paragraf besagen soll, dass das Territorium der Republik Tschetschenien integraler Bestandteil der Russischen Föderation ist. Ferner wurde über die Abhaltung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Ende 2003 abgestimmt.

Das Referendum wurde zum Erfolg für die russische Regierung, doch diverse Fakten deuten darauf hin, dass es dabei keineswegs demokratisch zugegangen ist. Am 23. März waren die Straßen von Grosny fast menschenleer. Die einzigen sichtbaren Zeichen waren bunte, an die Ruinen geheftete Spruchbänder, die (mitunter mit drohendem Unterton) zur Teilnahme am Referendum aufriefen: „Das Referendum, unsere Überlebenschance“, „Nimm dein Schicksal in die Hand, geh zum Referendum“, „Lieber eine schwache Legalität als der Abgrund der Gesetzlosigkeit“. Nur wenige Menschen suchten die Wahlbüros auf.

Entlang einer trostlosen Straße mit dem lächerlichen Namen „Siegesallee“ taten ein paar Dutzend mutige Demonstranten ihre Ablehnung der Volksbefragung kund, indem sie Fotos ihrer toten oder vermissten Angehörigen in die Höhe hielten. Eine seltsame Atmosphäre: Auf der einen Seite (in der Bevölkerung) herrscht Angst und Anspannung, und die andere (die Kontrollposten und Sicherheitsdienste) zeigt Erleichterung und legt eine betonte Lässigkeit an den Tag. Der Kontrast ist beträchtlich: Während die russischen Medien Euphorie verbreiten –Tschetschenen im Freudentaumel, überall Tanz, Musik, reges Leben – sind die Straßen menschenleer, nur hier und da hört man Explosionen oder Schüsse aus Maschinengewehren.

Einen Tag vor dem Referendum wurden mehrere Zivilisten in Grosny durch Explosionen verletzt. Das Personal einer medizinischen Versorgungsstelle der Nichtregierungsorganisation Ärzte der Welt in Grosny beispielsweise hat am 22. März ein junges Mädchen behandelt, das in einem Vorort der Stadt von einer im Hof ihres Hauses eingeschlagenen Granate getroffen worden war. Am gleichen Tag hat das Hospital Nr. 9 vier Menschen aufgenommen, die durch die Explosion zweier auf Minen gefahrener Panzerwagen unterschiedlich schwere Verletzungen davongetragen hatten – einer von ihnen starb kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus. Außerdem haben tschetschenische Widerstandskämpfer in den Tagen vor dem Referendum mehrere Anschläge auf Wahlbüros verübt.

Das Land ist für Nichtregierungsorganisationen und unabhängige Journalisten nach wie vor nur beschränkt zugänglich. Die unzähligen Checkpoints auf den Straßen erschweren jede Fortbewegung. In den drei Kriegsjahren haben sich die Menschen daran gewöhnt, dass jeder Gang über die Straße mit Angst verbunden ist. Und obwohl die Soldaten am 23. März offensichtlich Befehl hatten, die Kontrollen zu „erleichtern“, waren die Autobusse dennoch leer, offensichtlich blieb man lieber zu Hause. Der auf die Wähler ausgeübte Druck, sich am Referendum zu beteiligen, die Androhung kollektiver Repressalien im Fall einer schwachen Wahlbeteiligung und die individuellen Einschüchterungsversuche in Verbindung mit allen möglichen Versprechen – angesichts all dieser Gefahren, verschlossenen Türen, Pressionen und Drohungen kann von freier Meinungsäußerung schwerlich die Rede sein.

Gleichwohl sprachen die russischen Machthaber bereits am Morgen der Abstimmung von einem massiven Ansturm auf die Wahlbüros und verkündeten noch am selben Abend die offiziellen Endergebnisse mit einer Wahlbeteiligung von rund 85 Prozent und 96 Prozent Zustimmung zur neuen Verfassung.

Diese Zahlen sprechen der Wahrheit Hohn. Die Straßen von Grosny waren am 23. März ebenso leer wie die Wahlbüros, und es wurden grobe Unregelmäßigkeiten konstatiert. K. etwa, Mitglied einer Wahlkommission in einem Wahlbüro des Viertels Staropromislowski, beteuert: „Man hatte mir Anweisung gegeben, ich solle meinen Platz nicht verlassen und mit niemandem sprechen. Da ich sonst nichts zu tun hatte, zählte ich die Leute, die wählen kamen. Um 15 Uhr war ich bei 243 Wählern angelangt. Die Wahlkommission hatte schon um 11 Uhr 1 457 abgegebene Stimmen gemeldet. Nach 15 Uhr kamen vielleicht noch 20 Personen, aber am Ende des Tages gab die Kommission die Zahl von 2 185 Wählern für das Wahlbüro an. Manche wählten mehrmals, ich habe sogar Leute gesehen, die einen ganzen Stapel Ausweise mitbrachten und gleich für 15 oder 20 Leute wählten. Die Wahlzettel mit den Ja-Kreuzen waren sowieso im Voraus vorbereitet worden.“

Laut Schätzungen tschetschenischer und internationaler NGOs dürfte die tatsächliche Wahlbeteiligung bei 30 Prozent gelegen haben. Entscheidend ist aber, dass die russische Regierung von einem demokratischen Prozess redet und dabei den Willen des Volkes vollständig negiert, was die Tschetschenen als Erniedrigung, ja als kriegerischen Akt empfinden müssen.

Umso schamloser wirken die offiziellen russischen Stellungnahmen. Am Tag nach dem Referendum beglückwünschte sich Präsident Putin zu der hohen Wahlbeteiligung und erklärte, mit dem Referendum hätten die Tschetschenen zum Ausdruck gebracht, dass sie in der Russischen Föderation bleiben wollen. Die Frage der territorialen Integrität Russlands sei nun endgültig geregelt. In den Augen des Kremlchefs hat sich mit dem Wahlergebnis auch die Frage der Präsidentschaft von Aslan Maschadow erledigt: „Alle, die ihre Waffen noch nicht niedergelegt haben“, erklärte er, „kämpfen jetzt für falsche Ideale, und zwar gegen das eigene Volk“, sagte er am 24. März.

In Wirklichkeit bedeutet Putins „Lösung“ die Negierung jeder Volkssouveränität, und das auf allen Ebenen. Weder darf das Volk demokratisch seinen Willen kundtun, noch verhandelt er mit den gewählten Repräsentanten. Was kümmert es ihn? Gegenüber der russischen Öffentlichkeit präsentiert er sich zum einen als Verteidiger der russischen Kolonialinteressen im Kaukasus, zum anderen als Initiator einer „politischen Lösung“. Doch worin diese bestehen soll, weiß man nicht, denn er sagt zugleich, dass er nicht mit „Terroristen“ verhandeln werde. Tatsächlich hat er den verschiedenen Friedensplänen der im Exil lebenden Minister von Aslan Maschadow, die für Tschetschenien insbesondere eine Übergangsverwaltung unter internationalem Mandat vorgeschlagen hatten, nie zustimmen wollen.

Das Referendum vom 23. März ist also Teil einer neuen Entwicklung der letzten Monate. Durch die Einsetzung der prorussischen „Regierung“ und die häufig verkündete „Normalisierung“ haben sich in Tschetschenien zwei parallele Welten etabliert: Auf der einen die – reale – Kriegssituation, die Besatzungsarmee, die Guerillaaktionen gegen militärische Ziele mit massiven Repressalien gegen die Zivilbevölkerung beantwortet; auf der anderen die offizielle russische Darstellung, die surrealistisch anmutet, aber im tschetschenischen Alltag an Realitätsgehalt gewinnt.

Ob die verkündete Normalisierung Gestalt annehmen wird, ist schwer zu sagen. Jedenfalls begreift die russische Regierung das Referendum als Etappe eines Veränderungsprozesses. Wie der stellvertretende Innenminister Wjatscheslaw Tichomirow am 21. April 2003 bekannt gegeben hat, soll die im Januar 2001 dem FSB übertragene Leitung der Operationen in Tschetschenien nun dem Innenministerium überantwortet werden. Diese Entscheidung spiegelt den russischen Willen, den Konflikt zu „tschetschenisieren“, die föderalen Truppen allmählich abzuziehen und die Operationen nach dem Muster der letzten Monate einer lokalen Polizei zu überlassen.

Dadurch könnte sich die Situation – trotz aller vordergründiger „Normalisierung“ – noch weiter zuspitzen: einerseits durch eine Kriminalisierung der bewaffneten Gruppen, welche die tschetschenische Macht repräsentieren, andererseits durch einzelne Aktionen eines möglicherweise desorganisierten, zunehmend mittellosen und versprengten Widerstands.

Die russische Strategie setzt auf das Schweigen der internationalen Gemeinschaft, die bislang kein einziges Verhandlungs- oder Aussöhnungstreffen initiiert hat. Es werden zwar immer wieder Delegationen nach Tschetschenien entsandt, aber daraus entstehen keinerlei politische oder diplomatische Initiativen. Die OSZE hat im März 2003 die Region verlassen, wozu die russische Regierung sie aufgefordert hatte. Die UNO hat keinerlei Machtbefugnisse im Land, ihre Vertretungen vor Ort (Hohes Flüchtlingskommissariat, Welternährungsprogramm, Weltgesundheitsorganisation) beschränken sich auf humanitäre Aktivitäten. Das zweite Jahr in Folge hat die UN-Menschenrechtskommission auf ihrer 59. Sitzung im April 2003 eine Resolution zur Verurteilung der russischen Verbrechen in Tschetschenien verworfen.

Was die Parlamentarische Versammlung des Europarats betrifft, so hat sie nach höflichen Ermahnungen – Russland wurde von April 2000 bis Januar 2001 das Stimmrecht entzogen – zwei Jahre lang geschwiegen. Bei der jüngsten Sitzung verabschiedete sie eine Resolution, in der die Einrichtung eines internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshofs zur Aufklärung der in Tschetschenien verübten Kriegsverbrechen gefordert wird. Doch dies ist ein eher symbolischer Akt, denn nur der Weltsicherheitsrat kann ein solches Tribunal ins Leben rufen, und dort hat Russland ein Vetorecht.

Die von diversen Europaparlamentariern geforderte unabhängige internationale Untersuchungskommission steht noch aus. Und die internationale Gemeinschaft könnte von der russischen Regierung zumindest verlangen, dass die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung endlich juristisch untersucht werden und die Täter nicht länger straffrei davonkommen.

deutsch von Grete Osterwald

* Journalistin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von GWENN ROCHE