Das Ruanda-Projekt
Am 6. April 1994 kam der ruandische Staatspräsident Juvénal Habyarimana bei einem Anschlag im Flugzeug ums Leben. Was danach begann, wurde zunächst als Bürgerkrieg wahrgenommen, war aber ein Völkermord unfassbaren Ausmaßes: Zwischen Mai und Juli 1994 – binnen 100 Tagen also – brachten Hutu-Milizen eine Million Tutsi um, zwei Millionen Ruander flüchteten in die Nachbarländer. Die Weltöffentlichkeit schwieg; sie intervenierte zu spät.
Der chilenische Fotograf und Architekt Alfredo Jaar (geb. 1956) inszeniert seit Mitte der 1980er-Jahre mit den Mitteln der Kunst, vor allem der Foto-Installation, politische Themen aus aller Welt (u. a. das Schicksal der Vietnam-Flüchtlinge oder ausländerfeindliche Anschläge in Deutschland). Im August 1994, als er durch die Zeitschrift Newsweek vom Völkermord der Hutu-Milizen an den Tutsi erfuhr, reiste er nach Ruanda, zunächst an Orte, an denen die Massaker stattgefunden hatten, dann in Flüchtlingscamps. Er filmte, was er sah, und machte an die 3 000 Fotos, nicht von Leichenbergen oder Verwüstungen, sondern von Davongekommenen. Er filmte Menschen, die Zeugnis geben können, zum Beispiel die vierzigjährige Gutete Emerita, die ein Massaker in einer Kirche überlebte, bei dem 400 Leute, darunter ihr Mann und ihre Söhne, umgebracht wurden. Wie aber kann man die Tragödie darstellen, wie kann man Betrachtern, die nicht dabei waren, das Grauen vorstellbar machen?
„Schock-Bilder“, hat Roland Barthes einmal ausgeführt, greifen unsere Vorstellungs-, Urteils- und Handlungsfähigkeit nicht an: „Jemand ist für uns geschockt, jemand hat für uns nachgedacht, jemand hat für uns geurteilt. Uns selber hat der Fotograf nichs übrig gelassen, nur das minimale Recht, mit dem Kopf zu nicken.“
Alfredo Jaar hat zwischen 1996 und 2000 die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Geschehen in Ruanda in den Mittelpunkt seiner Arbeiten gestellt. Ein Work in Progress aus Video- und Foto-Installationen, das in dem Katalog „Ruanda-Projekt 1994–2000. Let there be light“ mittlerweile vorliegt, jedoch nicht abgeschlossen ist. Ein einziger Toter, zitiert Jaar Stalin, ist eine Tragödie, Millionen Tote sind Statistik. „Gegen das Denken in Statistik muss man sich auf den Einzelnen konzentrieren“, setzt er dagegen. „Nicht Millionen Tote, sondern einen. Nicht Tausende Flüchtlinge, sondern einen, der einen Namen hat.“
In einem weißen Videobild erscheint wie aus dem Nebel das Gesicht der 88-jährigen Caritas Namazuru („Epilog“), einer Hutu, die aus Ruanda geflohen ist. Binnen drei Minuten ist sie aufgetaucht und wieder im Nebel verschwunden. Auf einem 6 mal 6 Meter großen Tisch liegen eine Million Dias von Nduwayezu („The silence of Nduwayezu“), einem fünfjährigen Tutsi-Jungen, dessen Eltern umgebracht wurden und der im Flüchtlingslager über Wochen keinen Ton herausbrachte. Der Besucher kann mit einer Dia-Lupe dem Jungen in die Augen sehen. In einer anderen Arbeit sieht man überdimensional groß die Augen von Gutete Emerita, leuchtend in einem schwarzen Raum. Daneben wurde in Leuchtschrift ihre Geschichte erzählt. Warum gelingt es Alfredo Jaar, so fragt man sich, durch die Augen von Gutete Emerita dem Betrachter das Grauen von Ruanda nahe zu bringen? Spiegeln diese Augen, was sie gesehen haben? Oder sehen wir etwas anderes in ihnen?
Fantasien stehen in Verbindung zu Aspekten der eigenen Erlebniswelt oder zur eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ängste, Freuden oder Erinnerungen tragen dazu bei, Unbekanntes lesbar zu machen. Daran knüpft Jaar in seinen Bildern an: Er inszeniert die Bedrohung des Menschen und die Begegnung mit dem Individuum und wendet sich direkt und unmittelbar an die Einbildungskraft des Betrachters. So nähert sich dieser dem Schrecken, wohl wissend, dass die Wirklichkeit unfassbar bleibt.
Fast alle Ruanda-Installationen Jaars haben eins gemeinsam: Die Räume sind fast immer schwarz. Eine Ruhe-Stätte für die Toten. An den Wänden Leuchtschriften, Fotos in Leuchtkästen und Videofilme: Licht für die Lebenden.
M.L.K.