13.06.2003

Rechtlich ungebändigte Kriege

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Rechtlich ungebändigte Kriege

Von NIELS KADRITZKE

DEN politischen Atlantikgraben hat der US-amerikanische Politikberater und Kolumnist Robert Kagan jüngst so beschrieben: „In den entscheidenden strategischen und internationalen Fragen von heute sind die Amerikaner vom Mars, die Europäer von der Venus.“ Eine dümmliche Verallgemeinerung, die zahlreichen Widerspruch erregte. In Washington scheint man entschlossen, es Kagan Recht zu machen. Allen voran der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, der den Europäern bestätigt, was viele vermutet hatten: Die Behauptung, der Irak verfüge über einsatzfähige Massenvernichtungswaffen, sei zwar nur ein Vorwand gewesen, aber nötig, um die Venusmenschen in der eigenen Administration zu überzeugen. Und die Vereinten Nationen? Für den Marsmenschen existieren sie gar nicht mehr, nicht einmal als Adressat für Tricks und Lügen.

Der neue Unilateralismus der Ära Bush hat UN und Völkerrecht abgehakt. Wo die UN-Charta der Souveränität der USA im Wege ist, wird sie ignoriert oder gebrochen. Der Kern des Völkerrechts ist das ius ad bellum, die Frage nach dem Recht zum Kriege. In der nationalen Sicherheitsdoktrin vom September 2002 hat Washington dieses Recht ganz neu definiert: als souveräne Selbstermächtigung zum Präventivkrieg, und nicht nur zur Abwehr von Terroristen.

Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler sieht in der neuen US-Doktrin einen revolutionären Akt: „Die größte Errungenschaft in der Geschichte des Völkerrechts, die Ächtung des Angriffskriegs, ist von der stärksten Militärmacht der Welt außer Kraft gesetzt worden.“ Auf der Ächtung des Angriffskrieges basierte der Nürnberger Prozess gegen die Nazi-Kriegsverbrecher – ein Zusammenhang, den Bush in seiner Rede in Auschwitz nicht erwähnte. Denn der Internationale Strafgerichtshof (ICC), gegen den seine Regierung einen Präventivfeldzug führt, ist eine Fortentwicklung des Nürnberger Tribunals.

Der ICC ist für die Ahndung von Verbrechen zuständig, die gegen das ius in bello, auch humanitäres Kriegsrecht genannt, verstoßen. Die Bush-Regierung will also nach dem Präventivkriegsverbot mit dem ICC die zweite Säule des internationalen Rechtssystems kippen. Da die Gründung nicht zu verhindern war, soll zumindest kein Amerikaner vor dem Internationalen Strafgerichtshof erscheinen müssen. Bisher hat Washington von 35 Staaten die Zusage erhalten, dass sie keine US-Bürger an den ICC überstellen werden.

UN-Charta wie ICC sollen verhindern helfen, dass Krieg als Mittel der Politik wieder denkbar oder gar selbstverständlich wird. Dadurch fühlen sich die USA in der freien Entfaltung ihrer Souveränität behindert. Ihre neue nationale Sicherheitsdoktrin besagt, dass keine Macht die militärische Schlagkraft der USA auch nur annähernd erreichen dürfe, weshalb die eigenen Waffensysteme ständig optimiert werden müssten. Für diesen Zweck ist der Ernstfall eine willkommene Sache. Ein Krieg gegen eine morbide Armee bot unter anderem die einmalige Chance, bei geringen eigenen Verlusten das Zusammenspiel der intelligenten Waffensysteme zu testen. Um das eigene Risiko und die eigenen Opfer zu minimieren, ist es nötig, dass die eigene Kriegsführung durch das ius in bello möglichst wenig eingeschränkt wird. Wenn im Kosovokrieg die Bomben aus großer Höhe fielen, verringerte das das Risiko für die Piloten und erhöhte jenes für die Zivilbevölkerung. Das humanitäre Kriegsrecht verbietet Kampfmethoden, „die unnötiges Leiden oder vermeidbare Verletzungen“ verursachen. Das gilt auch und gerade für Clusterbomben, die im Irak ebenso eingesetzt wurden wie völkerrechtlich geächtete Minentypen. Kein Wunder, dass die USA die Einklagbarkeit des humanitären Kriegsrechts vor dem ICC scheuen. Zudem wird ein Staat, der sich der Kontrolle durch das ius in bello entzieht, leichter in den Krieg ziehen. Der US-Historiker Michael Byers argumentiert: Wo der rechtlich ungebändigte Einsatz von Hightech-Waffen die eigenen Opfer minimiert, ist ein Krieg innenpolitisch leichter durchzusetzen. Daher sei für manche US-Politiker „ein Krieg nicht mehr das hochriskante letzte Mittel, sondern eine attraktive Option zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele“.

Byers liefert damit eine plausible Erklärung für den Feldzug der Bush-Regierung gegen den Internationalen Strafgerichtshof. Doch die Europäer, die diesen Feldzug als Bedrohung empfinden, sollten ihr Eintreten für das geltende Völkerrecht nicht aus einer exklusiven oder kerneuropäischen Identität begründen. Was sie schützen wollen, galt auch in den USA einmal als Kern der „westlichen Wertgemeinschaft“. Die Bush-Administration versucht derzeit in Europa, feste Verbündete für ihre „Koalition der Willigen“ gegen den ICC zu gewinnen. Rumänien und Albanien haben sich bereits verpflichtet, keine US-Bürger an den ICC zu überstellen. Bulgarien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Mazedonien stehen unter Druck, dasselbe zu tun. Wenn der US-Botschafter in einem Brief an die Zagreber Regierung betont, man habe 19 Millionen Dollar Militärhilfe beiseite gelegt, und nach einer „beiderseits akzeptablen bilateralen Vereinbarung“ werde man dafür sorgen, „dass diese wichtige US-Militärhilfe weiter fließen“ könne, wird deutlich, auf welche Weise die Länder genötigt werden. Den Bulgaren stellt das Pentagon US-Stützpunkte in Aussicht, die aus ökonomischen Gründen höchst willkommen sein dürften.

Der US-Präventivkrieg gegen den ICC ist eine direkte Herausforderung an die EU. Wenn die Union verhindern will, dass mögliche Beitrittsländer ihre Position zum humanitären Völkerrecht konterkarieren, muss sie unverzüglich eine klare Haltung beziehen. Der ICC ist ein politisches Projekt, das maßgeblich von den EU-Staaten vorangetrieben und durchgesetzt wurde, dennoch hat die EU ihre Position bislang nicht klar genug formuliert. Zwar hat sie im September 2002 die bilaterale Vereinbarung Rumäniens mit den USA als völkerrechtswidrig zurückgewiesen, aber diese Position ist angesichts des Drucks aus Washington unzureichend. Was fehlt, ist eine rechtliche Form, die alle Mitglieds-, Beitritts- und Kandidatenländer auf eine gemeinsame Position verpflichtet. Deshalb müsste man in die (für alle verbindlichen) „Kopenhagener Kriterien“ das Verbot von Ausnahmeklauseln einarbeiten, oder besser noch: in dem EU-Verfassungsdokument, das noch 2004 verabschiedet werden soll, die verbindliche und lückenlose Zusammenarbeit mit dem ICC festschreiben. Damit wäre das künftige Europa verpflichtet, das ius in bello auch gegen die Erosionsbemühungen der USA zu schützen.

Ein solcher Schritt würde der Polarisierung zwischen „Kerneuropäern“ und „Atlantikern“ keinen Vorschub leisten. Denn die künftige Rolle des ICC wird auch in den USA kontrovers erörtert. Die Coalition for the International Criminal Court, der über tausend Nichtregierungsorganisationen der USA angehören, hat der EU ausdrücklich gedankt, „dass sie die von den USA vorgeschlagenen, gegen das ICC gerichteten Vereinbarungen als unvereinbar mit dem Völkerrecht ablehnt“. Im Kampf gegen die Zerstörung des Völkerrechts gibt es keinen Atlantikgraben.

Dieser Text erscheint nurin der deutschsprachigen Ausgabe

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von NIELS KADRITZKE