14.05.2004

Das Recht auf Geschichte

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Das Recht auf Geschichte

Auf der Veranstaltung „Stimmen des Widerstands“ zum 50-jährigen Jubiläum von „Le Monde diplomatique“ sprach der Philosoph Etienne Balibar zur Geschichte des Krisenherds Nahost.

Von ETIENNE BALIBAR *

WARUM unterstützen wir die palästinensische Sache, warum glauben wir, dass sie ein Prüfstein dafür ist, ob politische Diskurse verantwortungsvoll geführt werden? Meine Antwort ist eine persönliche, doch ich weiß mich mit vielen Menschen einig, und zwar nicht nur mit denen, die sich für einen „gerechten Frieden“ im Nahen Osten engagieren.

Ich unterstelle, dass die Palästinafrage uns alle angeht, sind wir doch in diesen Konflikt zu sehr involviert, um neutral zu bleiben, und gleichzeitig zu entfernt, um wirklich Bescheid zu wissen. Doch es ist gerade die Schwierigkeit, ein „objektives“ Bild der israelisch-palästinensischen Tragödie zu gewinnen, die die Lösung des Problems erschwert.

Was Recht und Gesetz betrifft, ist dieser Konflikt nicht eindeutig definiert: Wir haben es nicht mit einem Krieg zwischen Gut und Böse zu tun. Auffällig ist dagegen das ständig zunehmende Ungleichgewicht der Kräfte. Israel – eine der bedeutendsten Militärmächte der Welt, die enge Beziehungen zur Supermacht USA unterhält und über ein komplettes Arsenal zur Führung moderner Kriege verfügt – macht geltend, sein Vorgehen diene allein dem Schutz der Zivilbevölkerung. Wobei die Israelis historische Gründe haben, sich kollektiv bedroht zu fühlen. Doch es sind die Palästinenser, die heute um ihr Überleben als Volk kämpfen müssen.

Zweifellos mussten sich die Israelis in einer feindlichen Umgebung behaupten. Die internationale Gemeinschaft hatte den Juden das Recht auf Gründung eines Nationalstaats im „Gelobten Land“ ihrer Vorfahren gewährt. Das neue Staatsvolk bestand dabei zum Teil aus Überlebenden und Flüchtlingen, die dem größten Genozid der modernen Geschichte entkommen waren, und nach Israel strömten freiwillige und unfreiwillige Immigranten aus den arabischen Ländern und anderswo. Die Nachbarn verweigerten dem Judenstaat das Existenzrecht. Doch Israel drehte den Spieß um und ging von der Verteidigung zum Angriff über.

Der „Unabhängigkeitskrieg“ von 1948 ging von den arabischen Staaten aus. Israel konnte ihn aber zu einer „ethnischen Säuberung“ nutzen, deren Ausmaß erst heute deutlich wird. In den nachfolgenden militärischen Auseinandersetzungen stieg Israel zu einer bedeutenden Regionalmacht auf. 1967 besetzten und besiedelten die Israelis die den Palästinensern verbliebenen 22 Prozent des historischen Palästina und schufen damit unter Verletzung der völkerrechtlichen Bestimmungen ein Fait accompli. Die logische Konsequenz dieser Entwicklung, die von manchen zugegeben, von anderen geleugnet wird, lautet, dass die Palästinenser entweder Bürger zweiter Klasse in einem neuen „Großisrael“ werden oder dass es erneut zu einem großen Bevölkerungstransfer kommt – oder eine Kombination von beidem.

Für ein Drittel der Palästinenser ist der Flüchtlingsstatus längst Realität. Sie leben, unter oft elenden Bedingungen, in arabischen Aufnahmeländern, die ihnen die Bürgerrechte verwehren, während Israel ihnen nach wie das Rückkehrrecht verweigert. Die Palästinenser warten noch immer darauf, dass die internationale Gemeinschaft ihr Versprechen einlöst und ihnen zur Unabhängigkeit in einem überlebensfähigen Staat verhilft. Und soweit sie noch in Palästina leben, bekamen sie eine Rumpfregierung in Gestalt der Autonomiebehörde verpasst.

Die palästinensische Zivilgesellschaft hat jedoch, wie viele Beobachter bezeugen, unter der israelischen Besatzung eine ganz erstaunliche Widerstandsfähigkeit bewiesen, denn man hat weiter die Felder bestellt, das Bildungs- und Gesundheitswesen ausgebaut, Künstler und Schriftsteller gefördert, die Solidarität in Großfamilien und Vereinigungen gefestigt. Seit der zweiten Intifada hat Israel es jedoch verstanden, diese Gegenkräfte systematisch zu schwächen: Infrastruktur und Einkommensmöglichkeiten wurden zerstört, die mörderische Welle staatlichen Terrors trifft unterschiedslos einfache Bürger wie aktive Gegner Israels. Zugleich werden die Palästinensergebiete weiter zerstückelt, die Verwaltungsbehörden handlungsunfähig gemacht, unablässig neuer palästinensischer Boden konfisziert. Mit seiner vorgeblichen Suche nach „vertrauenswürdigen Verhandlungspartnern“ gelang es Israel, in der palästinensischen Gesellschaft auch die traditionellen ideologischen Auseinandersetzungen und Grabenkämpfe zwischen Interessengruppen zu verschärfen. Angesichts dessen wird es immer wahrscheinlicher, dass die in den internationalen Abkommen festgeschriebene Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr zu verwirklichen ist. Und das wird dramatische Folgen haben – auch für Israel.

Beginnend mit der großen Vertreibung (al-naqba) von 1948 und nun mit dem Grenzwall, wird dem palästinensischen Volk das Existenzrecht verweigert. Doch rechtfertigt diese Politik Israels die Formen des palästinensischen Widerstands und vor allem den Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung, den sich nicht nur islamistische Gruppierungen auf die Fahne geschrieben haben? Diese Fragen gilt es zu prüfen – und zwar nicht nur, um sich mit den Argumenten Israels und seiner Fürsprecher auseinander zu setzen, sondern auch aus grundsätzlichen Erwägungen.

Gängige Erklärungen für den Terrorismus sind die Verzweiflung und das Gefühl der Machtlosigkeit in der Bevölkerung, aber auch ideologische Motive und der Impuls, Israel den staatlichen Terror mit gleicher Münze heimzuzahlen. Doch für die Sache des palästinensischen Volks haben diese Aktivitäten katastrophale Folgen. Zum einen spielen sie der Strategie der Israelis, die palästinensische Gesellschaft zu zerstören, exakt in die Hände und erlauben es diesen, die eingesetzten Gewaltmethoden laufend zu verschärfen. Deshalb ist es nicht weiter erstaunlich, dass die israelische Regierung die Bedingungen für den Konflikt perpetuiert und diesen durch geeignete Aktionen immer wieder anheizt. Zum anderen führt der Terrorismus zu einer Lähmung der Kräfte innerhalb der israelischen Gesellschaft, die der gegenwärtigen Eroberungspolitik entgegentreten könnten, und behindert damit alle Versuche, durch vorläufige Abkommen eine Versöhnung der beiden Völker einzuleiten. Und drittens kultiviert die Politik des Terrors die Opferbereitschaft – eine Einstellung also, die den Wert eines Menschenlebens ausschließlich im Hinblick auf eine Freund-Feind-Polarität bemisst. Die historische Erfahrung beweist, dass damit auf lange Sicht die zivile Verfassung einer Gesellschaft in Auflösung gerät.

Was den Maßstab von Recht und Gerechtigkeit angeht, so ändert die Tatsache, dass ein Teil auf terroristische Gewalt zurückgreift, nichts an der bestehenden asymmetrischen Situation. Diese Tatsache verleiht Israel also auf keinen Fall das Recht, unter dem Vorwand, sich schützen zu müssen, seinen Gegner zu vernichten. Aber der palästinensische Terror droht, den Sieg über die Besatzungsmacht in eine ferne Zukunft zu rücken oder ihn hinfällig zu machen. Dieser Terror ist also zutiefst selbstzerstörerisch, doch das ist ein Problem, das vom palästinensischen Volk selbst gelöst werden muss. Aber daraus folgt nicht, dass die internationale Gemeinschaft lediglich abwarten sollte, ohne sich mit verantwortlich zu fühlen, bis sich irgendwie neue Kräfteverhältnisse herausbilden, unter denen der Terrorismus – als die „Waffe der Schwachen“ – nicht mehr als das einzige Mittel der Gegenwehr erscheint.

Der 11. September 2001 und die Kriege in Afghanistan und dem Irak haben dieses Problem auf eine ganz neue Basis gestellt. Wie in einem klassischen Fall von „Murphy’s Law“, sind die israelische Siedlungspolitik und der palästinensische Widerstand nun in einer Ökonomie der Gewalt gefangen, die weltweit die Logik des Kampfes von Gut und Böse durchzusetzen sucht – und damit den eigentlichen politischen Gehalt des konkreten Konflikts verdrängt.

Das Ergebnis ist eine neue, grundlegende Asymmetrie, in der die Konfliktpartner auf paradoxe Weise jeweils zum Spiegelbild der Gegenseite werden. Israel sah im bewaffneten Widerstand der Palästinenser stets nur eine Spielart des „internationalen Terrorismus“ und nahm damit jene „Globalisierung des Terrors“ vorweg, auf den heute die USA ebenso hindrängen wie die islamischen Fundamentalisten. Die Palästinenser wiederum – die sich schon immer mit einer arabischen Welt solidarisch fühlen, die sie nicht selten verraten hat – neigen dazu, die stärksten Feinde ihrer Feinde zu idealisieren: gestern noch Saddam Hussein, morgen vielleicht Ussama bin Laden oder einen seiner Nachfolger. Und eignen sich damit eine Sichtweise an, in der nur noch der Kampf zweier Welten, die globale Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident existiert, innerhalb dessen der israelisch-palästinensische Konflikt nur ein Unteraspekt ist. Damit entsteht der Eindruck, dass dieser Konflikt nur durch den „Sieg“ über das feindliche Lager gelöst werden kann. Den Protagonisten vor Ort wird damit die Chance zu jeder eigenen Initiative abgesprochen – außer der Möglichkeit, immer nur weiter an der Spirale der Gewalt von Terror und Gegenterror zu drehen.

Den Palästinensern verheißt diese Entwicklung nichts Gutes. Sie müssen sich als Schachfiguren in einem „heiligen Krieg“ fühlen, der nicht der ihre ist. Und befürchten, dass sie bei einem Flächenbrand in der Region zum Opfer prädestiniert sind. Eine solche Entwicklung muss aber auch Israel fürchten, es sei denn, man glaubt, auf Dauer als ständig belagerte Festung in der arabischen Welt überleben zu können.

Viele Israelis wissen oder ahnen das, ohne bislang die politischen Konsequenzen daraus gezogen zu haben. Diese Perspektive stellt aber auch – angesichts eines möglichen „Zusammenstoßes der Kulturen“ einen Gefahrenherd für die übrige Welt dar. Sie überformt und verfälscht die vielfältigen Probleme, die sich im israelisch-palästinensischen Konflikt nur am konzentriertesten bündeln: die Probleme des territorialen Status, der Souveränität und der Staatsbürgerschaft, die Probleme von Kolonisierung und Entkolonialisierung, von Reichtum und Armut, von religiösen Rivalitäten und kultureller Distanz. Darum liegt es im Interesse aller und insbesondere der Staaten in dieser geopolitischen Region, nach Lösungen zu suchen, solange dafür noch Zeit ist. Und Lösungen zu finden, die auf dem Existenzrecht der Völker, ihrer Sicherheit und der Wiedergutmachung früheren Unrechts basieren.

Nun hört man häufig das Argument, wer für die Sache der Palästinenser eintrete, wende sich gegen das Existenzrecht Israels. Das ist nicht richtig. Denn so wenig die palästinensischen Forderungen durch terroristische Aktivitäten einiger Palästinenser ihre Berechtigung verlieren, so wenig wird Israels Recht auf Fortbestand als „souveräne“ politische Körperschaft durch die Politik des Unrechts in Frage gestellt, die seine heutige Regierung betreibt. Wobei es eine offene Frage ist, auf welches Territorium sich diese Souveränität erstrecken soll. Und unter welchen lokalen und regionalen Rahmenbedingungen die Israelis bereit sein könnten, diese Souveränität einzuschränken, um ihrem Staat eine gesicherte demokratische Zukunftsperspektive zu verschaffen.

Zwei Umstände, die miteinander in Zusammenhang stehen, gefährden allerdings die Legitimität der israelischen Position. Das erste Fragezeichen ist die Definition Israels als „jüdischer Staat“. Denn dieser Staat expandiert nicht nur beständig auf Kosten der Palästinenser, er verweigert seinen eigenen palästinensischen Bewohnern auch die vollen Bürgerrechte und die symbolische Gleichstellung mit den „wahren“ Israelis hinsichtlich des Anspruchs auf das gemeinsam bewohnte Land. Der zweite kritische Punkt: Israel darf, rechtlich wie moralisch, seine Legitimität als moderner Nationalstaat weder aus einem sakralen Gründungsmythos noch aus dem Recht des Stärkeren beziehen. Israel darf auch nicht aus der Tatsache, dass viele Vorfahren seiner Bürger Opfer eines Völkermords wurden, eine Sonderstellung im Völkerrecht ableiten. Das Existenzrecht des Staates Israel muss auf der Anerkennung durch die Nachbarvölker beruhen – besonders durch das Volk, das die Israelis im Rahmen eines – allerdings außerordentlich spezifischen – Kolonisierungsprozesses „verdrängt“ haben.

Genau darum brauchen die Israelis einen souveränen Palästinenserstaat, der dem ihren gleichgestellt, besser noch eng verbunden ist. Es ist zwar ohne Zweifel richtig, dass Israel anfangs durch die arabische Welt jede Anerkennung verweigert wurde, und einige Staaten und auch viele Palästinenser verharren bis heute in dieser Haltung. Wenn es Israel allerdings gelänge, sich Palästinas und seiner Bewohner endgültig zu entledigen, wäre die letzte Chance auf Anerkennung verspielt: Israel könnte niemals ein „Staat wie jeder andere“ werden.

Bleibt die Frage, wie das Ausland diesen Konflikt beeinflussen kann, der globale Dimensionen angenommen hat und deshalb die Sicherheit vieler Länder bedroht. Für die Beilegung des Konflikts können natürlich nur die Kontrahenten vor Ort sorgen, und nur eine gerechte Lösung wird Bestand haben. Innerhalb dieses Rahmens gibt es viele Möglichkeiten. Und von außen können wir – ob als „neutrale Beobachter“ oder als „Freunde“ – niemandem vorschreiben, was nach einer hundertjährigen Geschichte des Kampfes zwischen den beiden Völkern und ihren konkurrierenden Projekten der Staatsgründung auf dem selben Territorium, im Einzelnen noch rückgängig gemacht werden kann und was nicht. Aber die Auseinandersetzung spielt sich heute weniger denn je in einer isolierten Sphäre ab. Palästinenser wie Israelis sind durch politische Bündnisse und ideologische Orientierung, durch Interessenkoalitionen und familiäre, kulturelle und religiöse Verbindungen überall in der Welt präsent. Und zahlreiche Staaten haben auf ihr gesellschaftliches Leben erheblichen Einfluss: über Militärhilfe und humanitäre Hilfsprogramme, durch Investitionen und wissenschaftliche Zusammenarbeit, Einwanderungskontingente und diplomatische Interventionen.

Kein Mensch geht zwar davon aus, dass man eine Lösung von außen erzwingen kann, aber zugleich wissen alle, dass es ohne internationale Vermittlung nicht geht. Abgesehen von den Vereinten Nationen, deren Glaubwürdigkeit hier auf dem Spiel steht, liegt die Hauptverantwortung bei den USA, bei Europa und den arabischen Staaten. Die US-amerikanische Grundposition ist daran abzulesen, dass Präsident Bush gegenüber Ariel Scharon die Unterstützung der israelischen Expansion verkündet hat. Wie sich diese Haltung weiterentwickelt, wird von dem dramatischen Geschehen im Nahen Osten und den Unwägbarkeiten der US-Innenpolitik abhängen. Angesichts dessen kommt Europa eine eindeutige Schlüsselrolle zu: Wir sind nicht nur gefordert, die eigene Position deutlich zu machen, sondern vor allem, die arabischen Länder gleichberechtigt in die Verhandlungen und Vermittlungsbemühungen einzubeziehen. Eine Roadmap gleich welcher Art wird niemals durchzusetzen sein, wenn wir die nicht die Notwendigkeit einer solchen „demokratischen“ Korrektur einsehen. Denn ohne sie können wir weder das Vertrauen der Palästinenser gewinnen noch die gesamte Region zu verantwortlicher Mitarbeit bewegen. Und ohne diese Einbindung der arabischen Welt werden wir auch keine Chance haben, der Logik des „Kampfs der Kulturen“ entgegenzutreten. Vermittlung kann einfach nicht funktionieren, wenn der „Vermittler“ zugleich die Schutzmacht der Invasoren ist.

Darum ist es so wichtig, die Öffentlichkeit in unseren Ländern zu bewegen, sich stärker mit diesem Problem zu befassen und dabei auf bestimmte Grundprinzipien zu dringen. Dabei sollte man unsere Regierungen auffordern, über den wichtigsten Erfordernissen der Gegenwart nicht die tatsächlichen Fakten der Vergangenheit zu vergessen, zugleich aber immer eine gerechte künftige Lösung im Auge zu behalten. Das ist natürlich keineswegs leicht, so wie es auch nicht leicht ist, die entsprechenden politischen Voraussetzungen in unserer eigenen Ländern zu schaffen. Damit es gelingt, die Solidaritätsgefühle und die symbolische Identifikation in den Migrantengemeinden darauf zu lenken, sich konstruktiv an internationalen Initiativen zu beteiligen. Wenn man aufrichtig ist, kann man in dieser ungleichen Situation keine Balance finden. Aber unsere öffentliche Meinung sollte immerhin, um weltweite Unterstützung für das unterdrückte Palästina zu mobilisieren, deutlich machen, dass es in diesem Fall um universale Prinzipien geht. Vielleicht ist es dafür bereits zu spät. Aber man muss es dennoch versuchen.

deutsch von Edgar Peinelt

* Professor em. der Universität Paris X Nanterre. Zuletzt auf Deutsch erschienen: „Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen“. Hamburg (Hamburger Edition) 2003.

Le Monde diplomatique vom 14.05.2004, von ETIENNE BALIBAR