Sechzig Lastwagen für Falludscha
Im Irak gehen die Besatzungstruppen gleichzeitig gegen schiitische und sunnitische Widerstandszentren vor. Das eint noch keine Nation, verbindet aber die beiden islamischen Gruppen.
Von JUAN COLE *
DER große Aufstand in Falludscha vom April 2004 kündet von der Wiederkehr des irakischen Nationalismus, der sich nach dem Untergang des Baath-Systems zu einer ernst zu nehmenden politischen Bewegung entwickelt. Die diskreditierte Baath-Partei hatte einen irakischen wie auch arabischen Nationalismus propagiert, zum einen durch die Glorifizierung der zivilisatorischen Rolle des Irak in der Geschichte, zum anderen durch die Assoziation ihrer eigenen Herrschaft mit den babylonischen Königen Hammurabi und Nebukadnezar. Unter Saddam hatte der Irak zudem versucht, Ägypten als Vorkämpfer der Interessen der arabischen Welt abzulösen. Weil jedoch das Baath-System so verhasst war, lösten diese allzu glatten nationalistischen Bekenntnisse bei vielen Irakern nur Aversionen aus, die bis heute nachwirken.
Nach dem Fall von Saddam brachten viele Iraker den Palästinensern, die der Diktator als Symbol der arabischen Einheit in den Irak aufgenommen hatte, vor allem Misstrauen und Ablehnung entgegen. Der Panarabismus und seine Parolen kamen nicht mehr an. Und Medien, die wie al-Dschasira panarabistische Ideen verbreiteten, mussten sich von irakischen Politikern vorhalten lassen, sie hätten Saddam nicht hart genug kritisiert. Zudem verurteilten viele Iraker die von sunnitischen Kräften dominierte Arabische Liga für deren Kritik an der zunehmenden Macht der Schiiten und Kurden im Irak.
Die radikalen Schiiten schienen sich ideologisch stärker auf den iranischen Religionsführer Ajatollah Chomeini zu beziehen als auf irgendwelche irakischen Geistlichen. Der einflussreichste geistliche Führer der Schiiten, Großajatollah Ali Sistani, ist ein aus der Nähe von Maschad stammender Iraner, der erst 1952 in den Irak umsiedelte – und vom theokratischen Staatsmodell à la Chomeini nichts wissen will.
Auch kurdische Führer wie Dschalal Talabani pflegten ihre Kontakte mit politischen Größen in Teheran. Ganz allgemein zogen es die Kurden offenbar vor, sich auf ihre eigenen Gebiete zurückzuziehen und nur spärliche Verbindungen mit Bagdad zu unterhalten. Von den irakischen Sunniten wiederum waren viele für nationalistische arabische Strömungen und für islamistische Bewegungen sunnitischer oder salafitischer Prägung empfänglich, die über Jordanien in den Irak vordrangen.
Die Aufstände in Falludscha und in den schiitischen Zentren des Südens haben deutlich gemacht, dass die US-Besatzung womöglich das Wiedererstehen eines alle religiös-sektiererischen Trennlinien übergreifenden irakischen Nationalismus begünstigt. Der Auslöser für die Rebellion in Falludscha war offenbar die Ermordung von Scheich Ahmed Jassin durch die Israelis am 22. März. Als Racheakt ermordete eine nach dem Hamas-Führer benannte sunnitische Gruppe in Falludscha vier Angehörige eines privaten US-Sicherheitsunternehmens, die zuvor bei den Navy Seals, einem Sonderkommando der US-Marine, gedient hatten. Die Leichen wurden verstümmelt und an einer Brücke aufgehängt. Die US-Marines schlugen zurück, umstellten und belagerten die gesamte Stadt und setzten schwere Waffen ein, die viele zivile Todesopfer forderten.
Daraufhin kursierten überall im Irak eher unwahrscheinlich klingende Berichte, wonach die meisten der 600 bis 700 irakischen Toten Frauen und Kinder gewesen seien. Die salafitische Erweckungsbewegung hatte sich von Jordanien aus bis nach Falludscha ausgebreitet, also entlang der 800 Kilometer langen Lastwagenpiste, die Amman mit Bagdad verbindet. Diese auf buchstabengetreuer Koranauslegung beruhende Variante des politischen Islam hatte zunächst in kleineren jordanischen Städten wie Maan und Zarqa Fuß gefasst. Von dort wanderte die Bewegung in den Irak weiter, wo das Saddam-Regime in seiner letzten Phase die Restriktionen gegen derartige religiöse Strömungen gelockert hatte. Denn in denen sah man, als der Druck seitens der USA und der UN anwuchs, potenzielle antiimperialistische Verbündete.
Zeitgleich mit ihrer Belagerung Falludschas beschlossen die Amerikaner auch, gegen den jungen radikalen Schiitenprediger Muktada al-Sadr vorzugehen. Dessen Zeitung al-Hawzah hatte nach der Ermordung von Scheich Jassin ebenfalls antiisraelische und antiamerikanische Ressentiments geschürt. Die Besatzungsmacht verbot die Zeitung und erließ am 3. April Haftbefehle gegen 28 Militante aus al-Sadrs Umgebung. In der Überzeugung, dass die Amerikaner ihn verhaften würden, zettelte al-Sadr einen Aufstand an in Städten wie Kufa, Nadschaf, Nasirija und Kut, aber auch in Basra und einigen östlichen Vierteln von Bagdad. In Basra haben sich die Briten rasch mit Muktadas Milizen verständigt. In den anderen Städten sahen sich die US-Truppen gezwungen, unter schwierigen Bedingungen innerstädtische Gebiete zurückzuerobern.
Muktada al-Sadr strebt zwar eine islamische Republik nach iranischem Vorbild an, beharrt aber bei vielen Problemen auf einer innerirakischen Sichtweise. So beklagt er sich bitter über den beherrschenden iranischen Einfluss auf die irakischen Schiiten und besteht darauf, dass diese von einem Iraker geführt werden müssten. Damit widerspricht er direkt dem Anspruch von Ali Chamenei, dem obersten Rechtsgelehrten des Iran, die höchste rechtliche und geistliche Autorität aller Schiiten zu sein. Das Denken von al-Sadr enthält also durchaus Züge eines irakischen Nationalismus.
Die von al-Sadr angeführte Bewegung wurde in den 1990er-Jahren von dessen Vater Muhammad Sadik al-Sadr gegründet, den das Baath-Regime 1999 ermorden ließ. Saddam Hussein hatte den Schiiten ihre traditionellen Freitagsgebete verboten. Der alte al-Sadr verlegte die Gebete daraufhin in die hauptsächlich von Schiiten bewohnten Slums von Bagdad, die für die Baath-Leute nicht leicht zu kontrollieren waren. Dort predigte er gegen Israel und die USA, bemühte sich aber auch um die Schiiten der ländlichen Gebiete, die noch stärker in Stammestraditionen eingebunden waren. All diese Leute versuchte er von ihren alten Loyalitäten abzubringen und auf die reine schiitische Lehre zu verpflichten. Seine Gefolgschaft gewann er zunehmend unter den Massen aus den Armenvierteln der irakischen Städte, vor allem unter den jungen Leuten. Damit wurde er zum Hauptrivalen der obersten religiösen Autorität der Schiiten, des Großajatollahs Ali Sistani. Der wollte für den Irak eine islamische Republik nach dem Vorbild Chomeinis, meinte jedoch immer, die geistlichen Führer sollten sich aus den staatlichen Angelegenheiten heraushalten; entsprechend hatte er unter der Saddam-Herrschaft stillgehalten.
Normalerweise können die salafitischen Sunniten und die schiitischen Gefolgsleute von al-Sadr nicht viel miteinander anfangen. Doch als sie mit den US-Truppen aneinander gerieten, entstand in beiden Bewegungen so etwas wie ein irakischer Nationalismus und ein panislamisches Bewusstsein. So erklärte sich Muktada al-Sadr zum „Arm der Hamas“, also einer radikalen sunnitischen Bewegung, die aus der ägyptischen Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Und die Widerstandsgruppen im sunnitischen Falludscha hängten Al-Sadr-Poster auf.
Der Feind meines Feindes
EIN weiteres Beispiel dieser Zusammenarbeit war in Kasimija, einem Schiitenviertel von Bagdad zu beobachten. Trotz ihrer alten Rivalität mit dem Nachbarviertel Asamija, wo relativ reiche Sunniten wohnen, sammelten die Einwohner von Kasimija – zusammen mit ihren sunnitischen Nachbarn – Riesenmengen an Hilfsgütern für Falludscha. Als die am 8. April mit 60 Lastwagen auf den Weg gebracht wurden, fuhren sie durch eine jubelnde Menge, die Bilder des ermordeten Scheich Jassin und von Muktada al-Sadr schwenkten. Und den US-Marinesoldaten vor Falludscha blieb nichts anderes übrig, als einige der Laster passieren zu lassen.
Die Konfrontation um Falludscha erlaubte es auch einer anderen Gruppe, ihr Prestige aufzubessern: Der Rat der muslimischen Geistlichen, eine radikale sunnitische Gruppierung unter Führung von Abdul Salam al-Kubaisi, konnte sich als Vermittler zwischen der Stadt und den US-Truppen profilieren. In einer Verlautbarung vom 17. April erklärte der Rat aber auch seine Unterstützung für al-Sadr und rief alle Iraker auf, „die Besatzer zu vertreiben“. Und Muhammad Ajasch al-Kubaisi, der den Rat außerhalb des Irak repräsentiert, erklärte gegenüber dem Satellitensender al-Arabija, dass sich alle Iraker, die den Besatzungsmächten Widerstand leisten, für dasselbe Ziel einsetzen, wobei er al-Sadr einschloss.
Diese Beispiele von panislamischer Zusammenarbeit zeigen, dass sich bei den Irakern im Lauf der vergangenen Jahrzehnte eine feste nationale Identität herausgebildet hat. Bei den verschiedenen Glaubensrichtungen ist das Nationalbewusstsein der religiösen Identität keineswegs untergeordnet. Und je nach Situation stellen sie mal eher ihre nationale, mal die religiöse Identität heraus. Während des Kriegs mit dem Iran haben die meisten irakischen Schiiten alles gegeben, um die Invasoren zurückzuschlagen, obwohl die Iraner als Schiiten für einen schiitischen Staat kämpften. Aus der eine Million Soldaten starken irakischen Armee, in der überproportional viele schiitische Rekruten dienten, sollen insgesamt nur 40 000 Mann in den Iran desertiert sein. Und in der irakischen Kriegspropaganda kam die Religion nicht vor, sie polemisierte vielmehr rein rassistisch und auf proarabischer Linie gegen die „verfluchten Perser“.
Unter Saddam Hussein wurden die schiitischen Parteien natürlich konsequent verfolgt. Das gilt etwa für die al-Dawa, die 1958 entstanden war und die Idee eines islamischen Staats propagieren sollte. Viele ihrer Mitglieder sind in den Iran oder nach Großbritannien geflohen, und von den Hunderttausenden, die trotz der schrecklichen Verfolgung im Irak blieben, endeten viele in Massengräbern. Seit den 1980er-Jahren war die Teheraner Exilgruppe der al-Dawa gespalten. Die eine Fraktion war eher nationalistisch orientiert und wollte ihre Unabhängigkeit als irakische Partei erhalten. In der anderen versammelten sich die Geistlichen, die al-Dawa direkt dem iranischen Ajatollah Chomeini unterstellen wollten.
Bei diesem Fraktionskampf behielten letztlich – in Teheran wie in London – die Nationalisten die Oberhand. In den 1990er-Jahren tat sich al-Dawa zeitweise mit Ahmad Tschalabi zusammen, als dieser ein Bündnis von irakischen Exilparteien auf die Beine stellen wollte. Doch in der Frage der Autonomie für die Kurden kam es dann zum Bruch mit Tschalabis Irakischem Nationalkongress (INC). Denn al-Dawa besteht auf einer irakischen Zentralregierung, an der Sunniten und Schiiten, Araber und Kurden beteiligt sein sollen.
Obwohl viele Beobachter meinen, der Irak zerfalle in einen schiitisch-arabischen Süden, das sunnitisch-arabische Zentrum und den kurdischen Norden, gibt es einige Indizien dafür, dass sich inzwischen ein starkes und beständiges irakisches Nationalgefühl entwickelt hat.
Am 18. April 2003 veröffentlichte die in London erscheinende saudische Zeitung al-Hayat ein Interview mit Muhammad Rida Sistani, dem Sohn des Großajatollahs. Der meinte, sein Vater lehne es ab, dass „irgendeine ausländische Macht den Irak regiert“. Er rief zur Einheit aller Muslime und aller Iraker auf. Sein Vater habe Überfälle von Schiiten auf sunnitische Moscheen, wie sie in gemischten Vierteln vorkamen, immer verurteilt und zu Spenden für deren Wiederaufbau aufgefordert. Und er zitierte den Großajatollah mit dem Satz: „Der Irak ist für die Iraker da. Sie müssen den Irak verwalten, und es ist ihnen nicht zuzumuten, dies unter einer fremden Macht zu tun.“
Das Interview endete mit der Erinnerung daran, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Geistlichen zusammen mit ihren Kindern in den Kampf gegen die britische Besatzungsmacht gezogen seien. Die „Große Rebellion“ von 1920 war der erste nationale Aufstand in der modernen Geschichte des Irak. An ihr hatten sich, obwohl sie unter der Führung von schiitischen Geistlichen und Notabeln stand, auch andere Gruppen der irakischen Bevölkerung beteiligt.
Seither äußerte sich Großajatollah Sistani zwar nicht mehr so militant, aber er hörte nicht auf, die Fremdherrschaft zu kritisieren und auf die nationale Einheit zu setzen. Ein Besucher, der im Februar 2004 mit Ali Sistani gesprochen hat, gab dessen Ansichten wie folgt wieder: „Er hält die Unterschiede zwischen Schia und Sunna für viel unbedeutender als die Gefahr, der die irakische Nation derzeit ausgesetzt ist.“ Den Stammesvertretern und den sunnitischen Geistlichen übersandte er die Bitte, sich mit allen anderen Irakern, also Schiiten, Kurden, Christen und Turkmenen, zu verbünden. Der Bericht schloss mit dem Eindruck: „Dabei sprach er dauernd von der ‚arabischen Nation‘. Er sah sich ganz offensichtlich als Araber.“
Innerhalb der Hauptströmung des schiitischen Islam muss sich jeder religiöse Laie unter der höheren Geistlichkeit eine gelehrte, geachtete Autorität aussuchen, deren Auslegung des heiligen Gesetzes er befolgt, einschließlich ihrer Fatwas. Bei dieser persönlichen Wahl haben sich Millionen Schiiten im Irak, im Libanon, in Pakistan und anderen Ländern für den Großajatollah Sistani entschieden. Dieser trifft sich auch mit kurdischen und sunnitischen Politikern und versteht sich eindeutig als jemand, der sich für das Wohlergehen des ganzen Landes einsetzt. Wann immer er sich mit den Amerikanern angelegt hat, ist Sistani Sieger geblieben. So bestand er darauf, dass die irakische Verfassung von direkt gewählten Delegierten geschrieben sein müsse und jede legitime Regierung des Irak nach dem Prinzip „eine Person – eine Stimme“ gewählt werden muss, womit er den US-Plan vereitelt hat, der für das Frühjahr 2004 eine indirekte, von Washington inszenierte Wahl vorsah.
Neben der Kooperation spielte für die Ausbildung einer nationalen irakischen Politik aber auch die Konkurrenz zwischen den politischen Gruppierungen eine wichtige Rolle. So leben in der nordirakischen Ölstadt Kirkuk gut eine Million Einwohner, sie sind etwa zu gleichen Teilen Kurden, Turkmenen und Araber. In der Vergangenheit stellten die Turkmenen, die teils Schiiten, teils Sunniten sind, stets die Mehrheit. Die Kurden wanderten erst später zu, als in der Ölbranche viele Arbeitsplätze entstanden. Unter Saddam wurden dann viele Kurden vertrieben und durch Araber ersetzt, die aus dem Zentrum und dem Süden des Irak nach Kirkuk verpflanzt wurden. Unter diesen Zuwanderern waren auch viele Schiiten. Als im August 2003 in der Nähe von Kirkuk Kämpfe zwischen schiitischen Turkmenen und sunnitischen Kurden ausbrachen, wurden die schiitischen Turkmenen auch von arabischen Schiiten aus Nadschaf unterstützt. Auch Muktada al-Sadr sandte zu diesem Zweck seine Leute nach Kirkuk. Als sich die ethnischen Spannungen in Kirkuk Ende Dezember 2003 verschärften, nachdem die Kurden den Plan vorgebracht hatten, die Stadt dem halb autonomen kurdischen Gebiet zuzuschlagen, mobilisierte al-Sadr 2 000 Mann seiner „Mahdi-Milizen“, die zur Unterstützung für den Protest der 300 000 turkmenischen Einwohner anrückten.
Der irakische Nationalismus in der Post-Baath-Ära trägt deshalb so auffällig panislamische Züge, weil die religiösen Parteien in dieser Phase eine so wichtige Rolle spielen. Sunnitische Radikale wie der palästinensische Scheich Ahmed Jassin und schiitische Radikale wie Muktada al-Sadr sind beide zu Symbolen einer breiten, alle Gruppen übergreifenden Opposition gegen die Besetzung arabischen Territoriums durch ausländische Truppen geworden, seien sie nun israelisch, US-amerikanisch oder britisch.
deutsch von Niels Kadritzke
* Lehrt Geschichte an der University of Michigan. Autor von: Sacred Space and Holy War, London 2002.