Alternativen statt Korrekturen
DIE neoliberale Globalisierung ist weder vom Himmel gefallen noch ein zwingender Schritt in der Entwicklung von Wirtschaft und Technik. Sie ist vielmehr die Folge politischer Entscheidungen. Deshalb kann sie auch wieder rückgängig gemacht oder verändert werden. Die Bewegung für eine andere Globalisierung, die für eine neue soziale, wirtschaftliche und politische Ordnung kämpft, kann dies auf ganz verschiedenen Handlungsebenen anpacken: international, national, individuell. Denn eine andere Welt ist möglich.
Von JACQUES NIKONOFF *
In den letzten Jahren hat sich politisch mehr getan, als viele glauben. Das System der neoliberalen Globalisierung knirscht an allen Ecken und Enden. Das heißt zwar nicht, dass sein Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht. Doch auf der ganzen Welt entsteht eine riesige Bewegung für eine andere Globalisierung, die immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die Frage ist, wie diese Bewegung die Kompetenz und die kritische Masse erlangen kann, um Veränderungen durchzusetzen. Immerhin mehren sich die Anzeichen, dass dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt ist. Immer weniger Menschen sind bereit, die Ungerechtigkeiten und Absurditäten dieser Welt hinzunehmen. Und bei ihrer Suche nach Alternativen wenden sich viele von ihnen den Kritikern der liberalen Globalisierung zu.
Schon heute kann man eine historische Leistung der Globalisierungskritiker benennen: Sie haben es unter erheblichen Mühen geschafft, die neoliberale Ideologie zu entlarven und zu dekonstruieren. Außerdem wurden vor allem in den Debatten des Weltsozialforums zahlreiche alternative Ansätze und Initiativen entwickelt. Dabei ist vor allem deutlich geworden, in welchem Maß die liberale Globalisierung ein politischer Prozess ist, dem sich von nun an ein anderer, ebenso politischer Prozess entgegenstellen wird: die globalisierungskritische Bewegung. Da sich die Nebelschleier rund um die Globalisierung gelichtet haben, treten deren wesentliche Aspekte zutage: Es ist ein System der Unterwerfung des Südens durch den Norden, der Herrschaft des angelsächsischen Kapitalismus über andere Formen des Kapitalismus, der Ausbeutung der Armen durch die Reichen. Ohne jede Übertreibung kann man feststellen, dass die heutige Globalisierung eine getreue Umsetzung der neoliberalen Ideologie darstellt.
Das heißt auch: Die Globalisierung ist weder vom Himmel gefallen noch ein notwendiger Schritt in der natürlichen Entwicklung von Wirtschaft oder Technik. Sie ist die direkte Folge zahlreicher und vor allem politischer Entscheidungen. Sie gehört zu einer Strategie, die sich als Reaktion auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der späten 1960er-Jahre durchgesetzt hat und deren Ziel es ist, die Lohnempfänger erneut an die Kandare zu nehmen – im industrialisierten Westen mit Hilfe der Arbeitslosigkeit und in den armen Ländern durch die Schuldenfalle.
Richtig ist, dass der Kapitalismus mit seiner ihm eigenen Dynamik viel zur Entwicklung neuer Technologien und zur heutigen Dominanz der Finanzmärkte beigetragen hat. Ebenso richtig ist aber auch, dass diese Kräfte zu Beginn der 1980er-Jahre von den Verfechtern der konservativen Revolution – vor allem von Margaret Thatcher und Ronald Reagan – für ihre politischen Ziele genutzt wurden. Die neoliberale Globalisierung ist die direkte Folge einer Politik, die Regierungen und internationale Organisationen, mächtige Kapitalgeber und multinationale Konzerne durchgesetzt haben.
Vor allem Letztere haben aus der weltweiten Umwälzung der Arbeitsverhältnisse gleich mehrere Vorteile gezogen. In westlichen Industrieländern konnten sie durch die Verschlankung oder Abwanderung von Betrieben nicht nur Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Widerstände schwächen, sondern auch vom Wetteifern der Regionen um Arbeitsplätze profitieren. Sie drückten die Löhne der arbeitenden Massen und steigerten ihre Gewinne durch Steuergeschenke oder großzügige Entlastung von Sozialleistungen – von der Verlegung der Firmensitze in Steuerparadiese gar nicht zu reden. Schließlich gelang es den Konzernen auch noch, den Eindruck zu erwecken, sie würden durch die Verlagerung ihrer Produktionsstätten zum wirtschaftlichen Aufbau des Südens beitragen.
Bis Mitte der 1970er-Jahre hatte der Kapitalismus einen Teil seiner Dominanz eingebüßt. Das galt für jene Länder, die im Rahmen der Bewegung blockfreier Staaten eine Mittlerposition zwischen den Fronten des Kalten Krieges suchten, und für einige Unternehmen in Europa, die vom Gedankengut der Studentenbewegung erfasst wurden. Gewinne und Produktivität sanken, während die Löhne stiegen. Vor allem unter den Jugendlichen in allen Bevölkerungsschichten verbreiteten sich antikapitalistische Überzeugungen. In dieser Situation zogen Unternehmerkreise und Konservative an einem Strang, um in Betrieben, Medien, internationalen Organisationen, politischen Parteien und staatlichen Institutionen sowohl in ideologischer als auch praktischer Hinsicht wieder die Oberhand zu erhalten.
Wer die neoliberale Globalisierung genauer untersucht, verliert jeden Glauben an eine angebliche „Ohnmacht des Politischen“. Es ist sinnlos, immer wieder zu fordern, die Politik möge „die Wirtschaft wieder unter ihre Kontrolle bringen“. Denn tatsächlich hat die Politik diese Kontrolle nie verloren. Der Washington Consensus ist ein rein politisches Projekt. Seine Eckpunkte – Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Haushaltsdisziplin, Steuersenkung – werden systematisch und Schritt für Schritt umgesetzt.
Es ist entscheidend, das Phänomen der Globalisierung genau zu verstehen, denn nur so wird man ihm mit geeigneten und realistischen Strategien beikommen. Die Kritik der Globalisierung muss zu einem politischen und kulturellen Prozess der Emanzipation aller Menschen werden. Keinesfalls darf sie sich mit der Rolle einer „Laus im Wolfspelz“ der internationalen Organisationen, Regierungen, gewählten Vertreter und politischen Entscheidungsträger begnügen.
Würden wir nur an das allgemeine Mitgefühl appellieren, wären wir zwar immer noch nützlich. Aber wir blieben auf die Gegenwart fixiert und ohne jede historische Perspektive. Mit dem Slogan: „Eine andere Welt ist möglich“ hat die Bewegung aber immerhin einen weit reichenden Anspruch definiert: Sie kämpft für eine neue soziale, wirtschaftliche, politische und demokratische Ordnung auf der ganzen Welt. Um dieses Projekt mit detaillierten Inhalten zu füllen, müssen wir uns auf die geeigneten Mittel und Möglichkeiten zu seiner Ausgestaltung besinnen.
In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, den Begriff der „Alternative“ zu präzisieren. Denn auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstehen, als würde hier nur unter neuem Namen aufgewärmt, was die politischen Parteien ihr Programm und die Gewerkschaften ihre Forderungen nennen. Tatsächlich unterscheidet sich unsere Alternative von alldem radikal, denn sie zielt nicht auf Korrekturen innerhalb des Systems, sondern auf dessen Veränderung. Sie versteht sich als global und antiliberal, und bei den Weltsozialforen kann man erleben, dass sie von Anfang an auf weltweiter Ebene angesiedelt ist. Ziel der Bewegung für eine andere Globalisierung ist es, der neoliberalen Ideologie in aller Welt und auf allen Ebenen entgegenzutreten: auf der Ebene individueller Verhaltensweisen über die der Unternehmen und ihrer Märkte, bis hin zur Politik internationaler Organisationen.
Die neoliberale Globalisierung lässt sich als eine systemische Matrix mit verschiedenen Machtzentren verstehen. Für die Kritiker der Globalisierung geht es nun darum, möglichst alle innerhalb dieser Matrix reifenden politischen Maßnahmen zu beeinflussen, allmählich deren neoliberale Logik zu eliminieren und durch alternative Herangehensweisen zu ersetzen. So kann etwa die Abschaffung der Steuerparadiese auf sechs verschiedenen Handlungsebenen in Angriff genommen werden: international, kontinental, national, regional, auf persönlicher Ebene und im Unternehmen selbst.
Die Intervention auf internationaler Ebene ist dabei nicht frei von Widersprüchen und deshalb nicht zwangsläufig von Vorteil. Sie impliziert nämlich das Eingeständnis, dass die wesentlichen Entscheidungen heute auf globaler Ebene fallen und dass die Staaten und ihre Regierungen nur noch Kleinarbeit machen dürfen. Doch die Völker haben auf internationaler Ebene nur sehr geringen Handlungsspielraum. Die repräsentative Demokratie und das universelle Wahlrecht (das sich etwa bei den französischen Regionalwahlen dieses Jahres als durchaus effektiv erwiesen hat) können hier nicht greifen.
Das schafft ideale Bedingungen für die Besitzenden. Sie können jede politische Entscheidung auf einer Ebene, zu der die Bevölkerung eines Landes keinen Zugang hat, nach Gutdünken bestimmen. Dennoch muss der Druck auf internationale Institutionen und die in ihnen vertretenen Regierungen aufrechterhalten werden, damit dort die Forderungen und Alternativvorschläge der Globalisierungskritiker vertreten sind. Um auf das Beispiel der Steuerparadiese zurückzukommen: Die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – alle könnten sich wirkungsvoll für deren Abschaffung einsetzen.
Bilaterale Absprachen zwischen Staaten sind in Verruf geraten, weil man davon ausgeht, dass bei dieser Form der Diplomatie meist ein starkes Machtgefälle zwischen dem größeren, mächtigeren und dem kleineren, schwächeren Staat besteht. Multilaterale Institutionen, in denen jedes Land Sitz und Stimme hat, erscheinen hier als die bessere Lösung. Dennoch ist hinreichend bekannt, dass bei WTO, IWF oder Weltbank von einem auch nur ungefähren Machtgleichgewicht keine Rede sein kann. Den Bilateralismus nach den Grundsätzen der Globalisierungskritiker wiederzubeleben stellt also durchaus eine ernst zu nehmende Perspektive dar – und zwar in dem Maß, wie damit zwei Ländern die Chance gegeben wäre, sich aus der Umklammerung der neoliberalen Dogmen zu befreien.
Was die kontinentale Ebene betrifft, so lassen sich die Probleme anhand der europäischen Einigung exemplarisch aufzeigen. Die neoliberal ausgerichteten Direktiven der Union wurden in das nationale Recht der Staaten eingearbeitet und über die nationale Rechtsprechung durchgesetzt. Handelt es sich dabei um einen wirtschaftlichen, technologischen oder finanztechnischen Prozess? Keineswegs: Dieser Vorgang ist ausschließlich politisch. Und was auf politischem Weg entstanden ist, kann man auf demselben Weg rückgängig machen oder verändern. Vielleicht erweist es sich dabei sogar als unumgänglich, das geeinte Europa im Rahmen seiner politischen Institutionen – etwa durch gezielte Abstimmungsboykotte – auf eine neue Grundlage zu stellen. Um aber auf unser Beispiel zurückzukommen: Die EU hat ganz klar die Möglichkeit, Steuerparadiese auf ihrem Territorium zu verbieten.
Auf nationaler Ebene besteht das Problem heute vor allem darin, dass nach herrschender Meinung die wichtigen Entscheidungen global gefällt werden und die Staaten selbst immer weniger Handlungsspielraum haben. Demnach wäre es also zwecklos, wenn die Bürger eines Landes Kandidaten den Auftrag zur Umsetzung einer alternativen Politik erteilten. Sollte die neoliberale Globalisierung allerdings tatsächlich ein verbindlicher Rahmen für alles politische Handeln sein, dann würde das auch heißen, dass die gewählten Politiker mit geringfügigen Abweichungen alle nurmehr dieselbe Politik machen könnten – dass wir also in keiner Demokratie mehr lebten.
Derartige Denkverbote sind in der Politik mittlerweile tief verankert, und es ist dringend erforderlich, sie infrage zu stellen. Bei jedem einzelnen Thema müssen wir pragmatisch den tatsächlichen Handlungsspielraum einer Regierung ermitteln, die sich aus dem neoliberalen Korsett befreien will. Im Fall der Steuerparadiese wäre die französische – und jede andere – Regierung durchaus in der Lage, Maßnahmen zu setzen. Sie könnte zum Beispiel ein Unternehmen von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausschließen, wenn ihm Steuerflucht nachgewiesen werden kann.
Innerhalb der einzelnen Staaten, also auf Länder-, Bezirks- und Gemeindeebene, hat die neoliberale Politik dazu geführt, dass die lokalen Körperschaften als Wirtschaftsstandorte miteinander konkurrieren und dabei zunehmend verarmen. Viele Lokalpolitiker haben sich mit dieser Logik abgefunden und betreiben statt einer Ausweitung der Demokratie nur noch die Verwaltung dieser Zustände. Doch dagegen formiert sich zunehmend Widerstand, und das Beispiel der kommunalen Bürgerhaushalte in Frankreich und Deutschland oder die Proteste gegen das Dienstleistungsabkommen Gats und gegen die Genmanipulation zeigen, dass es auch anders geht. Selbst in Bereichen, in denen sie über keine direkte politische Ermächtigung verfügen, können lokale politische Instanzen effektiv handeln. Gemeinden und Bezirke wären etwa in der Lage, ihre Geschäftsbeziehungen zu Banken abzubrechen, die mit Steuerparadiesen operieren. Sie könnten außerdem die Bürger dazu ermutigen, ihrem Beispiel zu folgen.
Was die Ebene des individuellen Handelns betrifft, so gibt es unter den Kritikern der Globalisierung viele, die uns zur besseren Abstimmung unseres Verhaltens mit unseren Überzeugungen aufrufen. Auf diese Weise sind zahlreiche Initiativen zur Veränderung des Konsumverhaltens, zum verantwortungsvollen Umgang mit so genannter freier Software und mit der privaten Geldanlage entstanden.
Damit aus diesen Initiativen mehr als die Summe ihrer Einzelteile und ein kritisches Potenzial hervorgeht, sollten diese Initiativen allerdings jede belehrende Haltung gegenüber den Bürgern vermeiden und klar zwischen Schuldzuweisung und der Ermunterung zur Eigenverantwortung unterscheiden. Außerdem ist es falsch, sich so sehr auf individuelle Verhaltensweisen zu konzentrieren, dass darüber die globalen Strategien des Neoliberalismus aus dem Blick geraten. Dennoch ist es offensichtlich, dass konzertierter Boykott von Banken, die Steuerparadiese in Anspruch nehmen, die Abschaffung Letzterer beschleunigen könnte.
Was die Ebene der Unternehmen betrifft, so hat vor kurzem die Standesvertretung der französischen Metallindustrie UIMM einige Weitsicht bewiesen. In einem Bericht der Organisation heißt es, dass „die Protestbewegung gegen die Globalisierung […] offenbar zunehmendes Echo unter der Bevölkerung findet und neue Aktionsformen entwickelt, die sich zwar außerhalb der Unternehmen entfalten, langfristig aber negative Folgen für diese haben werden“. Die globalisierungskritische Bewegung, so heißt es weiter, „ist durchaus ernst zu nehmen. Dennoch scheinen die Unternehmen darauf nicht vorbereitet zu sein.“
Ein entscheidender Fortschritt ist in diesem Zusammenhang die zunehmende Beteiligung der Gewerkschaften an den Sozialforen und generell am Widerstand gegen die Globalisierung. Denn selbstverständlich kann die Bewegung für eine andere Globalisierung nicht beanspruchen, das Rad neu zu erfinden. Sie muss die Erfahrungen der Gewerkschaften nutzen und kann aus deren bald zweihundertjähriger Geschichte viel lernen. Umgekehrt kann sich auch die Arbeiterbewegung bei den neuen Initiativen Ideen holen. So ist, um bei meinem Beispiel zu bleiben, ein Arbeitskampf von Lohnempfängern und ihren Gewerkschaften gegen Unternehmen, die Steuerparadiese nützen, ein durchaus realistisches Ziel.
Dringend erforderlich ist ein konstruktiver Dialog zwischen Kritikern der Globalisierung und den gewählten Amtsinhabern – nicht alle unter ihnen sind Handlanger des Neoliberalismus, viele sind eher ratlos. Sie warten auf konkrete, unmittelbar umsetzbare Vorschläge. Außerdem kann wie einst die Arbeiterbewegung heute die Bewegung für eine andere Globalisierung viel von den Politikern lernen. Denn diese sind mit den Arbeitsweisen der Institutionen am besten vertraut und kennen zumindest durch ihr Aktenstudium den realen Alltag aus einer Nähe, zu der man nicht ohne weiteres Zugang bekommt. Doch wenn einerseits Dialog und Zusammenarbeit nötig sind, so kann sich andererseits auch der Konflikt als sinnvoll erweisen. Um Raymond Arons fünfzig Jahre alte Formel zur Beschreibung des Kalten Krieges abzuwandeln: „Der Krieg ist unmöglich, der Friede unwahrscheinlich.“
deutsch von Herwig Engelmann
* Vorsitzender von Attac Frankreich.