Stadtbilder
EIN schönes Mädchen hockt in unmissverständlicher Haltung über grünem Gras, das Röckchen gerafft, die Zigarette in der Hand. Mitten in der Stadt.
Intelligente Werbung ist selbstironische Werbung. Sie fordert keine ästhetische Verstehensleistung. Sie wendet sich direkt an unser Körperbewusstsein, sie rechnet mit unseren physiologischen Instinkten. Hingucken erlaubt. Haltestellen zeigen ölglänzende Männermuskeln in Lebensgröße hinter Glas, Anfassen erlaubt. Bis der Bus kommt, hat unser Selbst die Botschaft längst erfasst. Mein Mann müsste mal wieder was für seine Figur tun.
Die Ware, die beworben wird, speichert sich als Sekundärinformation ab. Riesige City Light Boards halten Autofahrer an belebten Ampelkreuzungen in Schach, sobald deren Konzentration nachlässt. Fünf, sechs Sekunden Spannungsabfall genügen, um einen Frauenkörper und eine Bierbüchse, ein Auto und einen Highway unter hohem Himmel über eine riesige bedruckte und hinterleuchtete Folie im erschlafften Großhirn zu verlinken.
Außenwerbung stiehlt sich allein durch Überdimensionierung in die kurzzeitig unbenutzten Regionen der Wahrnehmung. Das ist ihre Strategie. Sie besetzt die Leere. Sie setzt sich da fest, wo Stillstand ist und Langeweile.
Sie füllt die winzigen Fenster ins Nichts mit ihrem Nichts.
NACHRICHTEN-BRIEFING auf U-Bahn-Monitoren, unterbrochen von bewegten Werbebildern, erzeugt im sanften Vibrieren der Züge ein vages Zuhausegefühl, dem nur die sprichwörtliche Pinkelpause fehlt. (Wer springt schon aus einem fahrenden Zug.)?
Das mykotische Netz der unbewussten Wahrnehmung hält uns auch in jenen Momenten fest, wenn wir entspannt in uns selbst zurückzufallen wünschen. Ein unkontrollierter Blick des Mitmenschen auf der Bank gegenüber und wir signalisieren sofort, dass wir jetzt bitte in Ruhe gelassen werden möchten. Niemand lässt sich gern anstarren. Also starren alle gemeinsam auf die stummen Monitorbilder, auf denen sich Blicke treffen, die einander nicht mehr ertragen können.
Im geschlossenen Lärmhorizont der Großstadt ist Sichtwerbung ein Ort kollektiver Stille.
Was sie uns als Stadtbürger nimmt, den unverstellten Blick auf Architektur und erfahrbare kommunikative Räume, schenkt sie uns als vereinzelte Einzelne: ein paar Sekunden gedankenleerer Teilhabe.
IN ganz Europa nimmt die Dichte der Großwerbung mit wachsendem Abstand zur City zu. Auf Brandmauern, an Abrisshäusern, in wüstem Gelände häuft sich die Frequenz der Werbetafeln. An Bauzäunen, hinter denen nichts gebaut wird. Insolvente Grundstückseigner verdienen sich so die Bankzinsen, Nutzer von Industrieparks rechnen beim Grundbucheintrag schon mit den Werbemieten in Autobahnnähe.
Das hängt mit den Vorschriften der Stadtentwicklungsämter zusammen, die über die sittliche Verträglichkeit von Stadtbild und Werbung wachen, insbesondere in der Nähe von Schulen, Kindergärten, kulturellen oder geistlichen Bauten.
In gutbürgerlichen Vierteln mit ihren Einzelhandelsgeschäften und schmalen Gehwegen, wo sich die städtische Mobilität verlangsamt, sind die Litfasssäulen ohnehin der kulturellen Werbung von Konzerthäusern und Museen reserviert.
Wien hat Großwerbung aus der Altstadt fast ganz verbannt. So springt sie immer häufiger und umso lieber den öffentlichen Haushalten der Städte als Sponsor zur Seite und erträgt gelassen, dass Geiz-ist-geil-Kampagnen gewisser Discounterketten dafür sorgen, dass Großwerbung den Ruf des kapitalistischen Schmuddelkindes mit schlechten Manieren behält.
WERBETRÄGER Nummer eins der Berliner Innenstadt, das Brandenburger Tor, verdankt seine Sanierung dem Verkauf der Bauplanen als Werbefläche. Der werbende Telefonkonzern ließ, weil ihm die Abbildung seines Firmenlogos untersagt worden war, das Bauwerk selbst darauf abbilden.
Die nicht minder berühmte Ruine der Gedächtniskirche ließ sich vor ein paar Jahren von einer Waschmittelwerbung verhüllen, auf dem eine deutsche Hausfrau zu sehen war, die etwa dem gleichen Jahrgang angehörte wie die Kriegsschäden an der Kirche. So setzte man, wohl eher unfreiwillig, ein zwanzig Meter hohes Sühnezeichen mitten in die deutsche Hauptstadt.
MAN kann Werbung mögen oder nicht, sie hat die Stadt, sie hat die Bürger längst nach ihrem Bild geformt. Sie stiehlt sich in den öffentlichen Diskurs und passt sich den bürgerlichen Normen selbstironisch an. Das pinkelnde Mädchen tut es im Namen gleicher Rechte für die Geschlechter. Andere tun es im Namen der kommunalen Wohlfahrt, wieder andere gegen das Elend in der Welt. Nur in China gilt Werbung im Stadtbild noch als unanständig.
Während die Ungarn und Tschechen, wie die meisten ehemaligen Staaten des Ostblocks, eher zögerlich und stadtväterlich streng mit der Werbeindustrie umspringen und per politischem Beschluss ihre Stadtentwicklungskonzepte über die großzügigen Avancen der Werbeindustrie stellen, ist Ostberlin aus einer praktisch werbefreien Zone innerhalb weniger Monaten nach der Wende zu einem Plakatwald geworden.
DIE stillen Reklameschriftzüge auf den Hochhäusern, zu DDR-Zeiten nicht Produkt-, sondern schlichte Firmenwerbung für Orwo-Filme, RFT-Fernsehtechnik oder das staatliche Reisebüro Intourist, wurden nicht einfach eingetauscht gegen westliche Firmenlogos. Die scheinheilige Umwidmung ärmlicher, doch intakter Fußgängerzonen zu riesigen innerstädtischen Abrissgeländen setzte Umsatzpotenziale frei für Werbeflächen, an deren Plakaten bald der Wind riss.
An der Fassade der Marienkirche am Rand des Berliner Alexanderplatzes hängt nun seit ein paar Monaten wieder eine Stoffbahn, auf der für ein Mineralwasser geworben wird (nachdem eine Baustadträtin von Berlin-Mitte dies zuvor verboten hatte). Als Garantie für die rein spirituelle Gesinnung seines Sponsors hat der Pfarrer auf dem Poster vermerken lassen, dass er die Sanierungskosten der Kirche anders nicht aufbringen könne: Werbung, geheiligt mit dem Wasser der Unschuld.
Werbung ist längst gesellschaftsfähig. Wir bemerken ihre Anwesenheit kaum noch. Sie verschmilzt mit dem Stadtbild. Sie macht die Stadt bunter. Sie ist die Stadt.
BEATRIX LANGNER
Publizistin, Berlin