14.05.2004

Bekehrte Anti-Atlantiker

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Bekehrte Anti-Atlantiker

WIE rechtfertigen die Staatsführer Mittelosteuropas, dass sie den amerikanischen Führungsanspruch anerkennen? Sie glauben, durch das Bündnis mit den Vereinigten Staaten würden sie in der Europäischen Union ein größeres Gewicht gegenüber Deutschland und Frankreich erhalten.

Bei genauerem Hinsehen erweist sich, dass die eifrigsten Atlantiker größtenteils exkommunistische Apparatschiks sind, die mit ihrer Vergangenheit gebrochen haben. Die bekanntesten unter ihnen dürften der polnische Staatspräsident Aleksander Kwašniewski, in den Achtzigerjahren Minister für Sport und Jugend, der rumänische Staatspräsident Ion Iliescu, ehemals Mitglied des KP-Zentralkomitees, und der bulgarische Staatspräsident Georgi Parvanov, auch er einst Mitglied der KP-Nomenklatura, sein. Die Liste der exkommunistischen Regierungschefs, Minister und Parlamentarier, die zu vorbehaltlosen Befürwortern der US-Politik konvertierten, ließe sich beliebig fortsetzen. Andere hochrangige Würdenträger des Ancien Régime, wie etwa der ungarische Ministerpräsident Péter Medgyessy und dessen Außenminister László Kóvacs bezogen während des transatlantischen Tauziehens um den Irakkrieg allerdings nuanciertere Positionen.

Während die Linke seit längerem ins atlantische Lager übergelaufen ist, finden sich heute die amerikakritischen Stimmen paradoxerweise eher bei den Rechten, egal, ob sie in der Regierung oder in der Opposition sind. In Budapest und anderen osteuropäischen Hauptstädten wird immer wieder der Abzug der eigenen Soldaten aus dem Irak gefordert.

Doch mitunter schwingt in diesen Stellungnahmen primitiver Antiamerikanismus mit, bisweilen tragen sie sogar rassistische und antisemitische Züge. Ähnliche Töne gab es bereits während des Zweiten Weltkriegs, erinnern sich die Ältesten; damals wurde der „jüdische Bolschewismus“ verbunden mit den „kosmopolitischen Kapitalisten“ für alles Unheil in der Welt verantwortlich gemacht.T. S.

Le Monde diplomatique vom 14.05.2004, von T. S.