Die Zeit der Endlichkeit
ZUM 50-jährigen Jubiläum der französischen Ausgabe von „Le Monde diplomatique“ fand am 8. Mai – gleichzeitig auch Feiertag zum Waffenstillstand von 1945 – im Pariser Palais des Sports eine große Veranstaltung statt, die unter dem Motto „Stimmen des Widerstands“ stand. Dieser Artikel basiert auf dem Vortrag von Albert Jacquard, der aus der Perspektive des Naturwissenschaftlers dazu aufruft, die natürlichen Ressourcen unseres bedrohten Planeten endlich als genauso schützenswertes Erbe zu würdigen wie die architektonischen Weltwunder der Menschheitsgeschichte. Denn das Nein zur Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts impliziert ein Ja zur Solidarität mit den kommenden Generationen, für deren Zukunft wir heute verantwortlich sind – nicht nur individuell jeder für sich, sondern auch in den internationalen Institutionen.
Von ALBERT JACQUARD *
Der Erste, der den Wandel, dem die Menschheit heute unterworfen ist, verstanden und in Worte gekleidet hat, war kein Politiker, auch kein Mann der Wissenschaft, sondern ein Poet. Im Jahr 1945 notierte Paul Valéry: „Die Zeit der endlichen Welt bricht an“ (aus: „Regards sur le monde actuel“). Diese Feststellung muss dringend Konsequenzen nach sich ziehen: Wir treten in eine neue Phase der Geschichte der Menschheit ein.
Es ist noch gar nicht so lange her, da konnten wir annehmen, der uns zugängliche Lebensraum sei praktisch unendlich, so gut wie unerschöpflich. Die Karten der Erde wiesen große weiße Flecken auf, die als Terra incognita bezeichnet wurden. Und die Gaben, die uns diese Erde gewährte, schienen endlos erneuerbar. Wenn sich die Menschen schon einmal gezwungen sahen, ihr Land zu verlassen, fanden sie anderswo eine neue Heimat. Jetzt gibt es für uns kein Anderswo mehr.
Manche Optimisten glauben, wir könnten dieser Endlichkeit entrinnen, indem wir uns auf einem anderen Planeten niederlassen. Aber wir wissen sehr gut über das Sonnensystem Bescheid. Keiner seiner Planeten ist geeignet, Menschen dauerhafte Lebensbedingungen zu bieten. Und irgendwelche utopischen Planeten, die um andere Sterne kreisen, sind so weit entfernt, dass schon die Hin- und Rückreise eines Forschungsteams mehrere Jahrhunderte dauern würde. Vernünftigerweise müssen wir einsehen, dass wir definitiv darauf angewiesen sind, auf dieser Erde zu wohnen. Das heißt, dass wir uns auf die damit verbundenen Zwänge einstellen und unser Leben entsprechend organisieren müssen. Sicher wird es möglich sein, erneut ein paar Schritte auf dem Mond zu machen oder auch über die Marsoberfläche zu wandern. Aber es wird bei Erkundungen bleiben, von Eroberungszügen kann also keine Rede sein.
Diese Erkenntnis ist nun keineswegs eine schlechte Nachricht. Im Gegenteil, sie erlaubt uns, die Bedingungen des Ehevertrags zwischen Erde und Menschheit in aller Klarheit zu definieren und für die Art des Zusammenlebens einen realistischen Plan zu entwerfen. Wie steht es um das Verhältnis der Menschheit zur Erde? Die Erde ist uns mittlerweile ziemlich gut bekannt. Wir haben ihre letzten Winkel und ihre Geschichte erforscht, und wir haben mit der Bestandsaufnahme ihrer Schätze und Reichtümer begonnen.
Der Begriff Menschheit darf nicht nur die heute lebenden sechs Milliarden Individuen umfassen, sondern die Gesamtheit aller Menschen in Vergangenheit und Gegenwart – und natürlich auch in der Zukunft. Das dürfte insgesamt gewiss mehrere tausend Milliarden Individuen ausmachen – vorausgesetzt, der kollektive Selbstmord findet nicht statt, den zur Zeit diejenigen Staaten vorbereiten, die über Massenvernichtungswaffen und vor allem über Atomwaffen verfügen. Natürlich können die noch nicht Geborenen ihre Meinungen nicht geltend machen, aber wenn wir uns überall auf der Welt stabile und dauerhafte demokratische Systeme wünschen, müssen wir die Bedürfnisse kommender Generationen berücksichtigen – und ihren noch gar nicht wahrnehmbaren Stimmen schon vorweg Gehör schenken.
Die heute so hohe Zahl der Erdbevölkerung täuscht darüber hinweg, wie gefährdet der Mensch eigentlich ist. Fast die ganze Geschichte der Menschheit hindurch lebten auf der Erde insgesamt eher wenig Menschen. Die blinde Gewalt der Natur hätte sie verschwinden lassen können. Aber im Gegensatz zu unserer Umwelt sind wir in der Lage, unser Schicksal nicht nur passiv hinzunehmen. Vor etwa zehntausend Jahren ist es dem Menschen gelungen, der Erde durch die Erfindung der Landwirtschaft mehr Nahrung abzuringen, als sie von sich aus zur Verfügung stellt. Zu Beginn der christlichen Zeitrechnung war die Gesamtbevölkerungszahl auf zwei oder drei Millionen Menschen angewachsen. Auf diesem Niveau hat sie sich dauerhaft gehalten, bis im Lauf der letzten Jahrhunderte ein so rasches Wachstum einsetzte, dass man von einer Bevölkerungsexplosion sprach.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien diese explosive Vermehrung gefährliche Züge anzunehmen: Sie lief auf eine Verdoppelung der Erdbewohner alle vierzig Jahre hinaus. Ein solcher Rhythmus ist auf Dauer natürlich nicht hinzunehmen. Glücklicherweise hat er sich dann früher verlangsamt, als die Demografen zunächst angenommen hatten. Die aktuellen Voraussagen gehen davon aus, dass sich vor Ende des 21. Jahrhunderts die Gesamtbevölkerungszahl auf einem Niveau von rund neun Milliarden Menschen stabilisieren wird.
Die Problemstellung ist klar: Wie sind unsere Bedürfnisse mit dem zu vereinbaren, was unser Planet uns bereitstellt? Diese Frage wird oft in anderer Form gestellt: Kann die Erde überhaupt so viele Menschen ernähren? Tatsächlich lautet die Antwort: Ja. Auch ohne eine neue „grüne Revolution“ wird die verfügbare Menge an Nahrungsmitteln ausreichen. Zwar leiden heute viele Menschen Hunger, aber das liegt viel eher an der Verteilung als an der Produktion. Die bedrohlichsten Versorgungsprobleme beziehen sich nicht auf die Nahrung, sondern auf Güter, die von früheren Ökonomen für wertlos, weil unerschöpflich gehalten wurden: die Luft und das Wasser. Die Verbreitung der westlichen Lebensart gefährdet die klimatischen Bedingungen, von denen diese beiden Güter abhängen. Denn die sind keineswegs unerschöpflich, vielmehr leiden sie ganz besonders unter den vielfältigen Schädigungen der Umwelt, die sich über unseren Planeten ausbreiten wie ein Leichentuch.
Erst angesichts des jüngsten Klimawandels haben wir die Warnung von Paul Valéry begriffen: Die Folgen unseres Handelns überschreiten die Grenzen dessen, was die Umwelt verträgt. Die Schäden sind oft irreversibel. Es ist also dringend erforderlich, kollektive Handlungsrichtlinien zu diskutieren und zu vereinbaren. Diese Notwendigkeit betrifft alle Güter, die uns die Erde liefert, aber nur einmal hervorbringen kann. Zerstört man sie, bedeutet dies für unsere Nachkommen einen endgültigen Verlust. Alles, was nicht erneuerbar ist, müsste darum als „Gemeinsames Erbe der Menschheit“ betrachtet werden. Die Unesco hat ein solches Konzept für Kunstwerke entwickelt. Die Tempel, die Kathedralen gehören im strengen Sinne nicht Individuen oder Gemeinschaften, sondern der Menschheit. Niemand hat das Recht, sie zu zerstören. Was für die Werke von Menschenhand von allen akzeptiert wird – zum „Weltkulturerbe“ gehören etwa die Tempelanlagen von Borobodur und die Kathedrale von Chartres – müsste auch für das „Weltnaturerbe“ gelten, also für die Werke der Natur vom Regenwald am Amazonas bis zu sämtlichen Ölvorkommen.
Dabei geht es keineswegs darum, alles zu verbieten, was den Planeten verändern könnte. Aber wir müssen unbedingt die Folgen abschätzen, bevor wir die tiefgreifendsten Eingriffe vornehmen. Dabei sind die Interessen aller zu berücksichtigen, also nicht nur der Zeitgenossen, sondern auch kommender Generationen. Wie aber kann eine Lobby aussehen, die für diejenigen spricht, die sich noch artikulieren können, weil sie noch nicht geboren sind?
Glücklicherweise setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die Menschheit ihr Erbe wohlüberlegt verwalten muss. Das gilt zum Beispiel für für die Antarktis. Dabei sah es am Anfang gar nicht gut aus. Auf den Karten erschien diese riesige Fläche wie eine aufgeteilte Torte. Ein Dutzend Nationen machten sich unter Berufung auf ihre Entdeckerleistungen die Tortenstücke streitig. Doch am Ende siegte die Vernunft: 1959 wurde ein internationales Abkommen unterzeichnet. Dieser Kontinent ist jetzt geschützt. Alles, was die lokalen Gleichgewichtssysteme nachhaltig stören könnte, ist strengen Restriktionen unterworfen. Die Antarktis ist als Welterbe der Menschheit anerkannt. Nichts hindert uns daran, diesen Status nach und nach auf alle Kontinente auszudehnen.
Weit schwieriger als das Einvernehmen mit der Natur ist es, die Verständigung unter den Menschen selbst zu erreichen. Die Endlichkeit der Welt bedingt, dass die Menschen voneinander abhängig sind. Das hat nicht nur mit dem jüngsten Wachstum der Weltbevölkerung zu tun, sondern vor allem mit dem rasanten Fortschritt der Kommunikationsmittel. Für Distanzen, die früher in Wochen oder Monaten zurückgelegt wurden, braucht man heute nur noch Minuten oder Stunden. Nachrichten werden unmittelbar übertragen: Wir werden Augenzeugen von Ereignissen, die auf anderen Kontinenten stattfinden. Die alte splendid isolation ist nicht mehr vorstellbar. Die Entscheidungen anderer Individuen, Kollektive oder Nationen wirken sich zwangsläufig auf längere Sicht auch auf alle anderen aus. Bei Entscheidungen, die alle betreffen, müssen auch alle mitreden können. Das mag im Einzelnen beschwerlich sein, doch tatsächlich ist er der Schlüssel, der jedem Einzelnen erst die Möglichkeit eines wahrhaft menschlichen Seins erschließt. Wer sich dieser Verpflichtung zu entziehen versucht, verzichtet auf das Wichtigste überhaupt: unsere „Menschlichkeit“, die wir nicht von der Natur empfangen, sondern uns aneignen müssen.
Erasmus hat gesagt, das man nicht „Mensch von Geburt“ ist, sondern erst dazu wird. Tatsächlich liefert uns die Natur alle notwendigen Elemente, um uns zum Mitglied der Gattung Homo sapiens zu entwickeln. Aber das bewusste Menschsein setzt eine andere, nicht biologische Komponente voraus, die sich aus der Begegnung mit anderen Menschen speist. Derjenige, von dem wir sprechen, wenn wir „Ich“ sagen, ist nicht der Sprecher selbst: Seine Person bildet sich in allen Beziehungen heraus, die durch die Begegnungen mit anderen entstehen. Unsere Besonderheit – die Sprachkompetenz, die uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet – ist die Grundvoraussetzung für den Austausch mit anderen. Isoliert sind wir Primaten, erst das gesellschaftliche Leben macht uns zum Menschen. Dabei begünstigt die wechselseitige Abhängigkeit, in der wir uns dank des begrenzten Lebensraums befinden, eine Vielfalt von Kontakten. Sie ist also eine Chance, aber wir müssen sie auch zu nutzen wissen. Kommunizieren ist zwar eine schwierige Kunst, aber man kann sie lernen. Und jede Gemeinschaft sollte es als ihre vorrangige Aufgabe sehen, ihren Mitgliedern diese Kunst zu vermitteln.
Nun mag zwar das derzeit vorherrschende Gesellschaftsmodell der westlichen Welt nach dem Maßstab ökonomischer Leistungsfähigkeit höchst effizient sein, doch was die Organisation des Miteinander betrifft, hat dieses Modell total versagt. Es ist ein Irrtum, den Wettbewerb, also den Kampf aller gegen jeden, als Motor für allen Fortschritt zu nutzen.
Im Verlauf eines menschlichen Abenteuers spielen menschliche Beziehungen die wichtigste Rolle. Reduziert auf einen Kampf, bei dem es nur Gewinner und Verlierer gibt, geht all das Produktive verloren, das aus einem fruchtbaren Miteinander für die Gesamtheit entstehen könnte. Und doch lehrt uns die Gesellschaft ständig aufs neue die Notwendigkeit des Kämpfens. Die überproportionalen Sendezeiten die belanglose sportliche Ereignisse in den Medien bekommen, sind ein extremes Beispiel für diese fast schon satirische Verzerrung. Das Leben jedes Einzelnen, als Individuum oder im Kollektiv, wird so auf eine Abfolge gelegentlich gewonnener Kämpfe reduziert, die in der Summe einen im Voraus verlorenen Krieg ausmachen. Angesichts dieser Vergeudung von Kräften müsste man das Modell des Wettstreits schleunigst durch das Modell des Wetteiferns ersetzen – durch den Kampf mit sich sich selbst, bei dem die einen die anderen helfen. Für den Bewohner der westlichen Welt wäre dies eine Revolution, die auch noch gewaltfrei wäre, wenn sie bereits in der Schule beginnen würde.
Vor uns steht die große Chance, eine Zeitenwende zu gestalten. Ob wir wollen oder nicht, die Menschheit schlägt neue Wege ein. Die Richtung kann nur kollektiv beschlossen werden. Es müssen also die strukturellen Voraussetzungen für eine weltweite Verwaltung geschaffen werden, wie es ansatzweise im Rahmen der UNO und einiger Sondereinrichtungen, etwa der Unesco oder der Weltgesundheitsorganisation, geschehen ist. Um diesem Überbau reale Machtbefugnisse zu verleihen, die aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit notwendig geworden sind, muss seine Funktionsweise radikal verändert werden. Ein solcher Wandel braucht einen langen Atem. Dennoch können wir jetzt bereits wenigstens symbolische Zeichen für den notwendigen Bruch mit der bisherigen Organisation setzen. Um mit dem Einfachsten anzufangen, könnten wir zum Beispiel den Sitz der UNO verlegen. Die Halbinsel Manhattan – Symbol einer Wettbewerbskultur, einer auftrumpfenden Wirtschaft und eines gnadenlosen Finanzsektors – ist sicher nicht prädestiniert für Begegnungen, die sich mit den Ängsten und Hoffnungen aller Völker befassen. Auf der Suche nach einem angemesseneren Platz für diese Rolle sollte der Blick in die Ferne schweifen, zu einem Ort, der von New York und der heute überheblichsten Nation der Welt weit entfernt liegt. Könnte dieser Ort nicht einer der Hügel sein, wo die Menschen im Lauf der Jahrhunderte ihrer Sorge um das Schicksal der menschlichen Gemeinschaft Ausdruck zu verleihen wussten? Ich denke dabei an Jerusalem.
deutsch von Grete Osterwald
* Genetiker und Professor am Collège des France; Autor u. a. von „J’accuse l’économie triomphante“, Paris (Livre de poche) 2000, und „Dieu?“, Paris (Stock) 2003. Zuletzt übersetzt erschienen: „Was wir wirklich wissen müssen, um die Welt zu verstehen. Wissenschaft für Nicht-Wissenschaftler“, Hamburg (Rogner und Bernhard) 2002.