14.05.2004

Alt-neue Feindbilder

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Alt-neue Feindbilder

Von CHRISTIAN SEMLER *

FALSCHER Alarm? Hatte Salomon Korn, der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, ein Gespenst herbeizitiert, als er im Vorfeld der Berliner Antisemitismus-Konferenz vor antisemitischen Tendenzen in den ostmitteleuropäischen Beitrittsländern warnte? Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob hier ein Stereotyp vermittels eines zweiten ausgetrieben würde. Denn die Rede vom Antisemitismus bei den Völkern des östlichen Europa gehört zu den Lieblingsvorstellungen unserer so aufgeklärten Breitengrade. Ein zweiter Blick ist ratsam.

Dabei darf uns der leichthändige, von Verboten und Tabus unbehelligte Gebrauch antisemitischer Stereotype bei Gesprächen östlich der Oder nicht überheblich machen. Was etwa in Deutschland im offiziellen Leben verpönt ist und leicht das Ende einer politischen Karriere nach sich zieht, wuchert in der Dunkelzone weiter, wo die politische Korrektheit nicht hinreicht. Darüber belehren uns die einschlägigen Umfragen. In etlichen Beitrittsländer gibt es solche Umfragen nicht, so müssen Beobachtungen und Indizien reichen.

Was in Ostmitteleuropa über die gerissenen, geldgierigen, gottesmörderischen Juden an Stereotypen zu hören ist, zeichnet sich durch sein ehrwürdiges Alter aus, weshalb man auch vom „alt-neuen“ Antisemitismus redet. Alt sind die Vorwürfe. Sie existieren unabhängig davon weiter, ob Juden in dem betreffenden Land den Völkermord der Nazis überlebt haben. Neu ist der Kontext. Er verbindet das Judentum mit der kommunistischen Unterdrückung. Nicht nur sei der Bolschwismus eine Frucht des vaterlandslosen, zersetzenden jüdischen Geistes gewesen, zu seiner Unterstützung seien auch die Juden jener Länder herbeigeeilt, die der sowjetischen Expansion zum Opfer fielen. Die Realsozialisten seien zwar politisch seit 1990 besiegt, aber die ehemaligen „Nomenklaturisten“ hätten sich auf den Kommandohöhen der Wirtschaft eingenistet und bereicherten sich weiter auf Kosten des Volkes – getreu ihrem jüdisch-bolchewistischen Charakter. Den traditionellen zweiten Part in dieser Verschwörungstheorie, den des „Wallstreet-Plutokraten“, haben die jüdischen Weltorganisationen übernommen, die Restitutionsansprüche auf das ehemalige jüdische Eigentum vertreten.

Die Realsozialisten taten Zeit ihrer Herrschaft alles, um ihren Untertanen zu einem guten Gewissen gegenüber den (nicht mehr vorhandenen) Juden zu verhelfen. Diskussionen über Mittäterschaft oder Beihilfe der einheimischen Bevölkerung am Judenmord hatten zu unterbleiben. Stattdessen wurden des Öfteren antisemitische Stereotype aufgegriffen, so in den Slansky-Prozessen 1953 in der ČSSR, 1968 bei der antijüdischen Hetze anlässlich der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Polen. Aber das hielt später den Juden-Kommunisten niemand zugute.

Natürlich muss man zwischen den verschiedenen Antisemitismen der Region unterscheiden, je nach den Ausgangsbedingungen und dem Verlauf der nationalen Bewegungen, die sich im 19. Jahrhundert der alten, dem religiösen Judenhass entstammenden Stereotype bedienten, um die Klassengegensätze im Namen eines künftigen „reinen“ Volkskörpers aufzuheben. Von besonderem aktuellem Interesse sind hier die Klassenbeziehungen im Bereich des „Ansiedlungsrayons“, der nach der Zerschlagung der polnisch-litauischen Adelsrepublik den Juden als Zwangsheimat innerhalb des russischen Teilungsgebiets zugewiesen wurde. Es handelt sich um ein Territorium von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, wo sich die jüdische Bevölkerung in den Städten drängte.

In der multinationalen Adelsrepublik war die Klassentrennung zum Teil entlang den nationalen Trennlinien verlaufen. Die Juden erfüllten hierbei die Rolle des „Mittlers“ und Erfüllungsgehilfen zwischen der grundbesitzenden Aristokratie und den rechtlosen Bauern. Die logische Folge war, dass sich der bäuerliche Hass und Widerstand vor allem gegen sie richtete. Andererseits verfügten sie als „Stand“ über eine weitgehende Selbstverwaltung und genossen die Protektion der Krone. Das traditionelle Judentum bildete somit einen in sich geschlossenen kulturellen und sozialen Kosmos. Es wurde gesellschaftlich abgegrenzt und grenzte sich auch selbst ab. Diese geschlossene Welt zersetzte sich mit der Krise und dem Fall der Adelsrepublik. Der jüdische Handel und das Handwerk erodierten im Prozess der Industrialisierung, die Juden büßten Unterstützung und Schutz der polnischen Aristokratie ein, die jetzt selbst zum Konkurrenten wurde.

Die Industrialisierungswelle des 19. Jahrhunderts samt ihren neuen Klassentrennungen führte aber nicht zur Verschmelzung beider Welten. Warschau wurde zur „Zwei-Völker“-Stadt. Es gelang der nationalistischen Propaganda, die Juden als Kollaborateure – sei es der deutschen, sei es der russischen – Teilungsmächte zu stigmatisieren und sie vom nationalen Befreiungskampf auszuschließen. Auch nach der Wiedergeburt des polnischen Staates, der Neugründung der baltischen Staaten und der (kurzlebigen) unabhängigen Ukraine wurde den Juden keine ihrer geschichtlichen Stellung gemäße Autonomie eingeräumt, wie sie der Jüdische Arbeiterbund gefordert hatte. Sie blieben feindliche Fremdkörper. Das sind sie im Gedächtnis der Völker selbst nach dem Holocaust geblieben.

Einen anderen Entwicklungsweg zeigt das Beispiel des habsburgischen Böhmen, wo es innerhalb der national-tschechischen Bewegung keineswegs an antisemitischen Haltungen mangelte. Dort aber gelang es der Arbeiterbewegung im Verein mit fortschrittlichen Intellektuellen wie Tomas G. Masaryk, anlässlich eines „Ritualmord“-Prozesses um die Jahrhundertwende in einer die ganze tschechische Nation ergreifenden Debatte die antisemitischen Strömungen zurückzudrängen. Dieses Erbe wirkte in der späteren demokratischen Tschechoslowakei weiter.

Natürlich war für diesen Sieg in Böhmen die im Vergleich zu den Ländern des „Ansiedlungsrayons“ fortgeschrittene Sozialstrukur, vor allem die Schwäche der retardierenden Kräfte in Aristokratie und Klerus ausschlaggebend. Zudem verfolgten die Habsburger in „ihrem“ Teilungsgebiet, etwa in Galizien und der Bukowina, gegenüber den Juden eine Nationalitätenpolitik, die mehr auf paternalistische „Zivilisierung“ denn auf ethnische Ausgrenzung zielte. Sie stützten sich dabei in Böhmen auch auf ein starkes Reformjudentum, das sich vom traditionsbewussten „Ostjudentum“ Galiziens und des russischen Ansiedlungsrayons fernhielt – freilich um den Preis einer rasch fortschreitenden Assimilierung erst an das deutsche, dann an das tschechische Bürgertum.

Das historische Beispiel Böhmens bietet aber auch eine aktuelle Lehre. Interpretiert man die demokratischen Revolutionen zwischen 1989 und 1991 als Staatsneugründungen im Sinn einer „Constitutio libertatis“, so gewinnt der gesellschaftliche Selbstverständigungsprozess über die bisherige Geschichte für die demokratische Zukunft dieser Länder eine entscheidende Bedeutung. In Polen hat die Debatte über das Pogrom von Jedwabne 1941 diesen Prozess eröffnet. Er spielt auf einer prinzipiell anderen Ebene als der in der Region grassierende jüdische Folklorismus mit Klezmer, koscherem Wodka und gefillte Fisch. Selbstverständigung kann, wie die Jedwabne-Debatte zeigt, nur im Streit gelingen. Nur in einem solchen Streit, nicht durch wohlmeinende Mahnungen der westlichen Öffentlichkeit, wird entschieden, ob der Antisemitismus in den neuen Beitrittsländern abstirbt oder neu ersteht.

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Journalist, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 14.05.2004, von CHRISTIAN SEMLER