16.01.2009

Der kranke Mann Europas

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Der kranke Mann Europas

Was immer die griechische Regierung in der aktuellen Krise tut, es kann nur falsch sein. Am 28. Dezember bescherte sie dem Zentrum von Athen per Dekret einen zusätzlichen verkaufsoffenen Sonntag, an dem der Einzelhandel die Umsatzeinbußen vom Dezember wettmachen sollte. Die Straßenkämpfe zwischen Polizei und jugendlichen Demonstranten hatten den Glitzerläden das Weihnachtsgeschäft verhagelt. Gegen den verkaufsoffenen Sonntag protestierten dann aber die Gewerkschaften, indem sie für Stunden die Geschäftsstraßen blockierten.

Beide Seiten fühlten sich von der Regierung im Stich gelassen. Die Ladenbesitzer klagten, der Staat schütze sie weder gegen vermummte Steinewerfer noch gegen blockierende Gewerkschafter. Die Gewerkschaften klagten, die Regierung wolle die – ohnehin bescheidenen – Rechte der arbeitenden Bevölkerung noch weiter einschränken.

Die Konflikte, die den griechischen Alltag nicht erst seit dem „Aufstand der Jugend“ vom Dezember 2008 lähmen, sind seitdem vollends unlösbar geworden. Dabei ist die Krise, die auf den internationalen Finanzmärkten begann, in Athen und Thessaloniki noch gar nicht richtig angekommen.

Diese Krise wird Griechenland noch härter treffen als die übrige EU. Und der Regierung fehlt das Geld, um die Folgen durch aktive Intervention zu mildern. Denn das Land ist so gut wie bankrott: Die Staatsverschuldung übersteigt 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Kommunen und Staatsbetriebe mitgerechnet); von den EU-Ländern – deren durchschnittliche Verschuldung bei 58 Prozent liegt – steht nur Italien noch schlechter da.

Die stolzen Wachstumszahlen der letzten Jahre bezeugen eher die hohen EU-Transferzahlungen als eine stabile, selbsttragende Konjunktur. Die griechische Volkswirtschaft gilt als die strukturschwächste der Euro-Zone. Das drückt auf die Kreditwürdigkeit des Landes. Deshalb muss die Regierung in Athen heute für ihre Staatsobligationen auf den internationalen Finanzmärkten fast 2,5 Prozent mehr Zinsen zahlen als etwa Deutschland. Das verteuert den Schuldendienst, erhöht das Budgetdefizit und verringert den Spielraum für öffentliche Ausgaben.

Der ehemalige Ministerpräsident Kostas Simitis beschwor im Parlament bereits das Horrorszenario, dass Griechenland – mangels Kreditwürdigkeit im Euro-Raum – den Internationalen Währungsfonds (IWF) anbetteln müsse wie ein Entwicklungsland. So weit ist es noch nicht. Aber nicht zuletzt wegen der hohen Kosten für neue Schulden wäre ein größeres Konjunkturprogramm überhaupt nicht finanzierbar. Schon für die dringendsten Reformen fehlt das Geld. Dazu gehören eine tiefgreifende Bildungsreform, die Sanierung des Gesundheitswesens und die Konsolidierung der Rentenkassen, die in ein paar Jahren zahlungsunfähig sein werden.

Diese Reformen wären schon zu normalen Zeiten eine Herkulesaufgabe. Im Zeichen der Krise werden sie zur Sisyphusarbeit, für jede Regierung. Auch die sozialdemokratische Pasok, die der ND-Regierung heute „Versagen“ vorwirft, würde vor demselben Dilemma stehen: Für eine „volksfreundliche“ Lösung der Strukturprobleme fehlt das Geld. Doch die Alternative einer strengeren Sanierungspolitik würde den Widerstand fast der gesamten Gesellschaft provozieren. Dann wäre der Staat auf Dauer so unregierbar wie das Athener Zentrum im letzten Dezember.

Die abgrundtiefe Vertrauenskrise zwischen Gesellschaft und Staat bildet sich längst in Umfragen ab. Die Rangliste der „vertrauenswürdigsten“ Institutionen, zum Jahresende in der Tageszeitung Kathimerini publiziert, wird von der Feuerwehr und dem staatlichen Wetterdienst angeführt. Abgeschlagen auf den letzten drei der 48 Plätze liegen die Athener Börse, die Regierung und „die Parteien“. Letzteren vertrauen nur 8 Prozent der Befragten.

Dieses tiefe Misstrauen betrifft nicht nur die beiden großen Parteien, sondern auch die „unverbrauchte“ linke Syriza, die seit den letzten Wahlen viele Sympathien gewonnen hatte. Auch sie gilt vielen als „opportunistisch“, seit man ihr vorwirft, sich nicht klar von gewalttätigen Demonstranten distanziert zu haben. Diese haben übrigens dafür gesorgt, dass die blitzblanken nagelneuen Einkaufsmalls in den besseren Athener Vierteln ihre Umsätze rapide steigern konnten, seit das Shoppen im Zentrum keinen Spaß mehr macht. Verschwörungstheoretiker könnten da auf gewisse Gedanken kommen.

Niels Kadritzke

Le Monde diplomatique vom 16.01.2009, von Niels Kadritzke