16.01.2009

Brief aus Helsinki

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Brief aus Helsinki

von Kaarina Järventaus

Die jungen Leute von Helsinki lieben den legendären Rockclub „Tavastia-Klubi“. Normalerweise ist das nicht meine Szene, aber am Abend der Kommunalwahlen letzten Oktober machte ich mich trotz üblen Regenwetters auf den Weg. Im Tavastia lief die Wahlparty der Grünen, und da wollte ich den Wahlausgang verfolgen. Angesichts der Herbststürme war die große Frage, ob es die Leute ins Wahllokal geschafft hatten oder sich doch lieber zu Hause auf dem Sofa fläzten. Eine geringe Wahlbeteiligung geht immer auf Kosten der Grünen, die sowieso keine große Stammwählerschaft haben.

Meine Neugier hielt sich in Grenzen. Der Wahlkampf war langweilig gewesen, ohne ein großes Diskussionsthema. Zudem ist der Ausgang in Finnland meistens absehbar: Die drei großen Parteien, die rechte Sammlungspartei (Kokoomus), die konservative Zentrumspartei (Keskusta), die eher ländliche Wähler anzieht, und die Sozialdemokratische Partei (SdP) kommen stets auf jeweils 20 Prozent. Es folgen das Linksbündnis (Vasemmistoliitto) und die Grünen und noch einige kleinere Parteien, darunter die Schwedische Volkspartei (Rkp) als Partei der schwedischsprachigen Minderheit.

Doch diesmal kam alles anders. Der Saal im Tavastia war brechend voll. Die Finnen waren trotz des schlechten Wetters wählen gegangen. Schon früh am Abend stand fest, dass die Grünen in Helsinki zur zweitstärksten Kraft geworden waren. Auch meine Kandidatin, die in Somalia geborene Hebamme Zahra Abdulla, hatte es wieder ins Stadtparlament geschafft, und zwar mit einer höchst beachtlichen Stimmenzahl.

Bereits 2003, ein Jahr vor der letzten Kommunalwahl, waren mein Mann und ich Fans von Zahra geworden. Wir hatten ihre Interviews gelesen, in denen die humorvolle Frau kein Blatt vor den Mund nahm. Sie war als Flüchtling nach Finnland gekommen und engagierte sich in verschiedenen Organisationen. Wir hatten das Gefühl, dass Finnland samt seinem Parlament eine kräftige Durchlüftung nur guttun konnte.

Wir Finnen hier und die anderen irgendwo da draußen – dieses Stereotyp prägt noch immer die Reden der Politiker, obwohl Finnland bei der Globalisierung kräftig mitmischt und schon seit 1995 zur Europäischen Union gehört. Zahra hatte in Somalia, in Kenia, in Ägypten und in der Sowjetunion gelebt. Sie ist eine gute Beobachterin der finnischen Verhältnisse und spricht unverblümt aus, was sie denkt. Zum Beispiel: „Wenn man in diesem Land den Armen helfen will, muss man gleichzeitig immer auch etwas für die Reichen tun.“

Bei den Kommunalwahlen vom Oktober 2008 war Zahra Abdulla mit 2 538 Stimmen die meistgewählte Migrantin im ganzen Land und gehörte in Helsinki zu den erfolgreichsten zwanzig Kandidaten. Andererseits schaffte es in der Hauptstadt kein weiterer Kandidat mit Migrationshintergrund in die Stadtverordnetenversammlung, und das obwohl 10 Prozent der Einwohner gebürtige Ausländer sind. Zahra wartete lange zu Hause ab, bevor sie sich auf die Wahlparty traute. Sie fürchtete, ihr Erfolg würde mit den immer neuen Hochrechnungen im Laufe des Abends noch stark verwässert werden.

So war es nämlich bei den Parlamentswahlen vom März 2007 gekommen. Auch damals hatte Zahra kandidiert und war ins Wahlstudio des Finnischen Rundfunks eingeladen worden, wo man sie zusammen mit den Vorsitzenden der Parteien und einigen anderen Kandidaten interviewte. In Helsinki war die Auszählung der Stimmen bereits weit fortgeschritten, und die Moderatorin gratulierte Zahra zu einem historischen Erfolg: Sie war als erste Immigrantin ins finnische Parlament gewählt worden! Wir verfolgten die Auszählung der Stimmen damals zu Hause mit Freunden im Internet und kannten den aktuellsten Stand: Zwei andere Kandidaten der Grünen waren längst an Zahra vorbeigezogen.

Doch der Finnische Rundfunk hielt auch dann noch an seinen eigenen Hochrechnungen fest, als die Stimmenauszählung längst völlig andere Ergebnisse erbrachte. So kam es, dass man in tausenden finnischen Wohnzimmern den falschen historischen Moment bejubelte. Zahra wurde mit Glückwünschen per SMS und E-Mail überschüttet. Erst am späteren Abend stellte sich heraus, dass die Gratulationen verfrüht gewesen waren.

Woran es lag, hatten wir damals schnell ausgemacht: am Geld. In der Wahlkampfkasse der Immigrantin mit dem größten Stimmenanteil befanden sich gerade mal ein paar tausend Euro. Die Kandidatin war damals noch Studentin gewesen und alleinerziehende Mutter. Kein Unternehmen hatte ihre Kampagne unterstützt, und die Grünen waren weder vermögend noch konnten sie, wie die traditionellen Parteien, auf eine hundertjährige Tradition zurückblicken. Anzeigen in der größten überregionalen Tageszeitung Helsingin Sanomat konnte sich Zahra nicht leisten, sie tauchte nur auf wenigen Sammelanzeigen mehrerer Kandidaten auf.

Später hat man ausgerechnet, dass es kein Kandidat aus Helsinki ins Parlament geschafft hat, dessen Wahlkampfausgaben unter 16 000 Euro gelegen hatten. Als ich das hörte, fragte ich mich, von wem sich ein ehemaliger Flüchtling überhaupt so viel Geld hätte leihen können. Mir kam es wie der reinste Irrsinn vor, dass einige Parlamentskandidaten 100 000 Euro in ihren Wahlkampf investiert hatten. Dafür kann man sich in Helsinki schon eine kleine Wohnung kaufen!

Komischerweise wurde die Wahlkampffinanzierung erst ein Jahr nach der Parlamentswahl zum landesweiten Thema, nachdem sich ein Abgeordneter der bürgerlichen Zentrumspartei namens Timo Kalli in einem Fernsehinterview damit gebrüstet hatte, gegen das Gesetz verstoßen zu haben. (Das finnische Gesetz verlangt eine Nachweispflicht über die Herkunft jeder Einzelspende, sobald sie 1 700 Euro übersteigt.) Der Landwirt sitzt seit vielen Jahren im Parlament. In seiner Wahlkampfkasse waren 56 000 Euro, aber er hatte keinen einzigen Spender namentlich angegeben. Nach Kallis Fernsehauftritt entschlossen sich die sonst so zahmen finnischen Journalisten endlich, die Wahlkampfmodalitäten unter die Lupe zu nehmen.

Als sich der Fall zum Skandal auswuchs, versprach Kalli, mit der Wahrheit herauszurücken und die Gelder zurückzuzahlen. Er gestand, dass er 40 000 Euro von einigen wenigen Investoren erhalten hatte. Ein Teil war direkt von Unternehmen gekommen, ein anderer Teil über einen bis dato unbekannten Verband namens „Finnland der wachsenden Provinzen“.

Erst jetzt kehrte bei etlichen Politikern die Erinnerung schlagartig zurück. Wie sich herausstellte, hatte das „Finnland der wachsenden Provinzen“ auch führenden Politikern der Sammlungspartei und des Zentrums erkleckliche Summen gespendet. Hinter dem Verband standen bedeutende Wirtschaftsvertreter und Großinvestoren. Auf einmal erschien das Wahlergebnis in einem ganz anderen Licht: Finnland hatte eine bürgerliche Regierung in Form einer Koalition aus Zentrum und Sammlungspartei bekommen. Aber entsprach dieses Ergebnis auch wirklich dem Wählerwillen? Oder hatte eher eine kleine Clique von Geschäftsleuten auf die Koalitionsregierung hingearbeitet? So sahen es viele, unter ihnen sogar der renommierte politische Kommentator von Helsingin Sanomat, der einzigen großen, meinungsbildenden Zeitung.

Seitdem sind die Bürger dieses Landes nicht mehr ganz so blauäugig. Wir in Finnland neigen ja immer dazu, uns alles Mögliche einzubilden: dass wir Weltspitze sind bei der Gleichberechtigung aller Bürger; dass bei uns die Einkommensunterschiede nicht über Chancen entscheiden; dass wir ein grundehrliches Volk sind, für das Korruption ein absolutes Fremdwort ist. Nun geriet sogar der immer so brav wirkende Ministerpräsident Matti Vanhanen unter Druck. In seinem Blog (bei uns werden Blogs für Politiker immer wichtiger) warb er für die Idee, an der Autobahn in Vihti, einem kleinen Ort fünfzig Kilometer nördlich von Helsinki, ein riesiges Einkaufszentrum bauen zu lassen.

Wie sich herausstellte, hatte auch Vanhanen für seinen Wahlkampf 10 000 Euro von „Finnland der wachsenden Provinzen“ erhalten, zu denen eben auch jener Geschäftsmann gehört, der das erste finnische Mega-Einkaufszentrum auf die grüne Wiese von Vihti stellen ließ. Vanhanen will angeblich nicht gewusst haben, wer hinter dem Verband stehe. Stattdessen warf er den kritischen Fragestellern auch noch vor, sie gefährdeten die Glaubwürdigkeit der Politik.

Kandidaten ohne finnischen Stammbaum scheitern aber nicht nur am Geld. Die Parteien wollen zwar Immigranten auf ihren Kandidatenlisten sehen, aber sollen sie es auch tatsächlich in die Parlamente schaffen?

Oft reicht es den Mitgliedern der Parteien nicht aus, wenn ein Kandidat mit Migrationshintergrund klug, gebildet, schlagfertig, humorvoll, abstinent, medienversiert und in der Lage ist, verschiedene gesellschaftliche Gruppen anzusprechen und die Stimmen von gebürtigen Finnen wie von Immigranten, von Männern wie von Frauen, zu gewinnen. Um voll akzeptiert zu werden, muss er oder sie auch fehlerfrei Finnisch können und die finnischen Effizienzkriterien erfüllen: fleißig arbeiten, diszipliniert nach Uhr und Kalender leben, die eine Hand am Handy, die andere auf der Computertastatur.

Toleranz und Multikultur scheinen in der Welt der Politiker lediglich zu bedeuten, dass man anders aussehen darf als ein blonder Finne. Im persönlichen Verhalten dagegen darf man nicht all zu sehr von der Norm abweichen.

Wird also erst der zweiten Generation der Immigranten zugetraut, diesen Teil der Bevölkerung zu repräsentieren? Immigration ist bei uns ein relativ neues Phänomen. Früher zogen die Leute eher von Finnland weg, zum Beispiel ins reichere Schweden, wo sie man sie „jävla finnar“, „verfluchte Finnen“ nannte.

Bis 1980 sprachen hierzulande praktisch alle Finnisch (abgesehen von der schwedischsprachigen Minderheit) und gehörten der evangelisch-lutherischen Kirche an. Inzwischen hat sich die Zahl der Leute, die eine andere Muttersprache als Finnisch oder Schwedisch sprechen, innerhalb von zwanzig Jahren fast verzehnfacht. Wir haben das Gefühl, dass bei uns viele Ausländer leben, und vielen ist sogar die Zahl der in Finnland aufgenommenen Flüchtlinge zu hoch, die nach einigen Jahrzehnten erst bei 30 000 angekommen ist.

Auch die Kritik an der Immigration als zentrales politisches Thema ist ein neues Phänomen. Bei den letzten Kommunalwahlen hat die Partei, die sich selbst als „Die wahren Finnen“ (Perussuomalaiset) bezeichnet, erstmals über 5 Prozent der Stimmen gewonnen. Viele ihrer Kandidaten gingen mit ausländerfeindlichen Sprüchen auf Stimmenfang. Der Erfolg der „wahren Finnen“ war dann auch die große Überraschung der Kommunalwahlen. Darüber war Zahra Abdulla so deprimiert, dass sie sich anfangs über ihren eigenen Erfolg kaum freuen konnte. Zum Glück hat sie noch bis zum Jahr 2011 Zeit, um neue Kräfte für die nächste Parlamentswahl zu sammeln.

Aus dem Finnischen von Stefan Moster Kaarina Järventaus ist Mitarbeiterin der finnischen Ausgabe von Le Monde diplomatique. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 16.01.2009, von Kaarina Järventaus