11.07.2003

Grundgesetz für einen Staat ohne Staat

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Grundgesetz für einen Staat ohne Staat

DIE Demokratische Republik Kongo steht trotz mehrerer Friedensabkommen und der bevorstehenden Einsetzung einer Übergangsregierung der Nationalen Einheit vor einer ungewissen Zukunft. Seit 1998 hat der Krieg im Kongo über drei Millionen Tote gefordert, doch keine Seite konnte ihre Interessen tatsächlich durchsetzen. Der Konflikt zwischen Zentralisten und Föderalisten schwelt weiter, noch immer kommt es in einigen Gebieten zu Kämpfen zwischen Milizen, ausländischen Truppen und der kongolesischen Armee. Doch die Kongolesen hoffen, dass die bisherigen Kriegsparteien friedlich zusammenarbeiten werden. Von MWAYILA TSHIYEMBÉ *

Im März dieses Jahres wurde in der Demokratischen Republik Kongo eine Übergangsverfassung verabschiedet. Damit trat der Friedensprozess, der im Juli 1999 im sambischen Lusaka begann, in eine gefährliche Phase. Das neue Grundgesetz, das für 2005 allgemeine Wahlen vorsieht, ist Resultat eines Abkommens, das die Regierung am 17. Dezember 2002 in Pretoria mit den wichtigsten Oppositionsgruppen einschließlich der bewaffneten Rebellen unterzeichnet hat. Man schätzt, dass in der DR Kongo seit 1998 rund 3 Millionen Menschen umgekommen sind.

Das am 10. Juli 1999 in Lusaka unterzeichnete Waffenstillstandsabkommen sollte den Krieg beenden, der 1998 mit einer von von der Region Kivu ausgegangenen Rebellion gegen Laurent-Désiré Kabila begann.(1) Es sah die Einstellung aller Feindseligkeiten, den Rückzug aller ausländischen Streitkräfte (aus Ruanda, Uganda, Angola, Simbabwe) und die Stationierung einer UN-Friedenstruppe vor. Auch verpflichteten sich die Vertragsparteien, die sicherheitspolitischen Interessen der Nachbarstaaten zu berücksichtigen.

Der Waffenstillstand hielt einigermaßen, auch wenn sporadische Kämpfe immer wieder Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten, wie zum Beispiel in Kisangani bei Gefechten zwischen ruandischen und ugandischen Truppen im Juni 1999 oder bei einem Aufstand bewaffneter Einheiten der „Kongolesischen Sammlung für Demokratie“ (RCD/Goma) im Mai 2002.

Bis zum Frühjahr 2003 hatten sich die ausländischen Truppen fast vollständig zurückgezogen. Nur in der an Uganda grenzenden Region Ituri gab es immer noch Gefechte zwischen den Einheiten der „Bewegung zur Befreiung des Kongo (MLC) und zwei von der RCD abgespaltenen Gruppen, wobei die ugandischen Truppen, deren Rückzug Anfang Mai 2003 angekündigt wurde, abwechselnd Brandstifter oder Feuerwehr spielen. Auch in der Region Uvira kommt es regelmäßig zu Zusammenstößen zwischen Einheiten der von Ruanda unterstützten RCD/Goma und der von Kinshasa protegierten Milizen der Mayi-Mayi, die den Widerstand gegen die ruandische Besatzung symbolisieren.

Seit Dezember 2000 ist die UN-Friedenstruppe stationiert, die aber ihre vom UN-Sicherheitsrat beschlossene Maximalstärke von 5 537 Mann noch nicht erreicht hat. Doch die Blauhelme befinden sich in einer „unmöglichen Lage“(2), da sie nur Beobachterstatus haben. So sahen sich die 700 in Ituri stationierten Soldaten aus Uruguay wiederholt außerstande, Massaker zu verhindern, weil sie ihre Schusswaffen nicht einsetzen dürfen. Die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Lendu- und Hema-Gruppen verliefen äußerst blutig, innerhalb weniger Wochen gab es über 400 Tote. Da sich die Situation zu verschärfen drohte, beschloss der Sicherheitsrat Ende Mai 2003 die Entsendung einer multinationalen Truppe unter französischem Oberbefehl, die von den USA logistisch unterstützt wird. Inzwischen sind die ersten von 1.500 Soldaten eingetroffen, die aber nur die Stadt Ituri kontrollieren.

Nach der Ermordung von Laurent Kabila am 16. Januar 2001(3) hatte sein Sohn und Nachfolger Joseph Kabila den innerkongolesischen Dialog – wie im Lusaka-Abkommen vorgesehen – erneut in Gang gebracht. Die nationale Aussöhnung sollte die Voraussetzungen für eine politische Neuordnung schaffen. Doch heute ist die künftige Form der kongolesischen Republik und Demokratie ungewisser denn je. Eine Lösung der allgemeinen Legitimations- und Vertrauenskrise ist nicht in Sicht.

Es ist also kein Wunder, dass sich der innerkongolesische Dialog auf eine Auseinandersetzung zwischen Personen anstelle politischer Ideen reduziert hat. Der Gegensatz zwischen Populisten und Föderalisten, der die Innenpolitik des Landes seit 1960 als Gegensatz zwischen Zentralisten und Vertretern lokaler Autonomie beherrscht, wurde nie zum Thema, und auch die neue Verfassung lässt diese grundsätzliche Frage in der Schwebe. Doch obwohl der populistische Zentralismus von Joseph Mobutu und Laurent Kabila als gescheitert gilt und die Demokratische Republik Kongo in Trümmern liegt, machen die Verkünder dieser mystifizierenden Ideologie mit ihrer Propaganda weiter. Aber auch die Sprache der Föderalisten ist stark nationalistisch gefärbt. So könnte die extremistischen Parole „Die Reichtümer Katangas den Katanganern“ durchaus ethnische Säuberungen rechtfertigen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Kongolesen sich blenden lassen und erneut übereinander herfallen werden.

Das neue Grundgesetz wie die neuen Institutionen sollen die Interessen- und Machtkonflikte überwinden und eine Demokratie schaffen, die das Prinzip des „friedvollen Zusammenlebens“ bei aller Verschiedenheit der Völker, Kulturen, Sprachen, Religionen und Rechtssysteme gewährleistet. Da die neuen Institutionen jedoch nicht in der Gesellschaft verankert sind, sondern ihr von außen angedient werden, verfehlt die Übergangsverfassung den angestrebten Zweck. Zu befürchten ist daher, dass die Wahlen in zwei Jahren keine greifbaren Ergebnisse bringen werden.

Im prononcierten Gegensatz zur Unnachgiebigkeit seines Vorgängers Laurent-Désiré Kabila gelang es dem derzeitigen Staatspräsidenten Joseph Kabila, die westlichen Staaten, allen voran die USA, Frankreich und Belgien, durch seine „Diplomatie der schönen Worte“ für sich einzunehmen. Mit ihrer Hilfe entledigte er sich der alten kabilistischen Garde, nahm Kontakt zu Kigali und Kampala auf und isolierte die ausländische Opposition. Zudem konnte er nunmehr fordern, dass die Vergessenen des Kongo am Dialog teilnehmen, namentlich die Mayi-Mayi-Widerstandskämpfer, die traditionellen Führer und die religiösen Konfessionen.

Die überstürzte Unterzeichnung des Abkommens von Sun City (Südafrika) im April 2002 zeigte jedoch auch, wie verwundbar Joseph Kabila ist. Um seiner Präsidentschaft formell Anerkennung zu verschaffen, akzeptierte er in aller Eile eine unhaltbare Teilung der Macht mit lediglich einigen der Rebellengruppen. So sprach der Vertragstext insbesondere MLC-Führer Jean-Pierre Bemba den Posten des Ministerpräsidenten zu, und nur die Amateurhaftigkeit des Rebellen – der lieber weiterpokerte, anstatt sein Amt in Kinshasa anzutreten – rettete Kabila vor dem sicheren Machtverlust. Der hartnäckigen Verhandlungsstrategie von Exministerpräsident Étienne Tshisekedi ist es zu danken, dass im Dezember 2002 in Pretoria ein neues Abkommen unterzeichnet wurde, das eine umfassende Regelung unter Einschluss aller Beteiligten anstrebt.

Im Unterschied zum Abkommen von Sun City, das sämtliche Machtbefugnisse in die Hände des Regierungschefs legte, zeugt der neue Vertragstext mit dem Ziel eines „konsensuellen Übergangsmanagements“ von mehr Realitätssinn. Die darauf fußende Verfassung stellt (im Rahmen der „1 + 4“-Lösung) dem Staatspräsidenten vier Vizepräsidenten zur Seite. Letztere führen als Repräsentanten der verschiedenen Oppositions- und Rebellengruppen jeweils den Vorsitz in einem der vier Ausschüsse „Politik, Verteidigung und Sicherheit“ (RCD), „Wirtschaft und Finanzen“ (MLC), „Wiederaufbau und Entwicklung“ (Regierung), „Soziales und Kultur“ (politische Opposition). Ergänzt wird diese Direktoriumslösung durch einen präzisen Verteilungsschlüssel für die 36 Minister- und 36 Vizeministerposten.

Die „Kongolesische Sammlung für Demokratie“ (RCD) wurde am 12. August 1998 im ruandischen Kigali von alten Mobutu-Anhängern und ehemaligen Mitgliedern von Laurent Kabilas „Bündnis der demokratischen Kräfte für die Befreiung des Kongo“ (AFDL) – in erster Linie Banyamulenge-Führer – gegründet. Als größte Rebellenorganisation genießt die RCD die militärische Unterstützung Ruandas und kontrolliert weite Gebiete von Kivu bis Kasai, Maniema und Katanga. Angesichts der wiederholten Säuberungen in den eigenen Reihen, der Abhängigkeit von Kigali und der geheimen Organisationsstrukturen lässt sich die Regierungsfähigkeit der RCD nur schwer einschätzen.

Die zweite Rebellenorganisation, die vorwiegend aus ehemaligen Zivil- und Militärbeamten Mobutus besteht, wurde unter dem Namen „Bewegung zur Befreiung des Kongo“ (MLC) im Oktober 1998 von Jean-Pierre Bemba gegründet. Sie wird militärisch von Uganda unterstützt und kontrolliert einen Teil des Gebiets von der westlichen Provinz Equateur bis zur östlichen Provinz Orientale. Aufgrund ihres militärischen Engagements in der Region Ituri und in der Zentralafrikanischen Republik warf man ihr Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit (Kannibalismus) vor. Nur eine unabhängige Justiz wird klären können, inwiefern diese Anschuldigungen gerechtfertigt sind. Das Image der Organisation ist jedenfalls beschädigt, und ihre Regierungsfähigkeit wird ernsthaft in Zweifel gezogen.

Die so genannte politische Opposition ist eine ebenso diffuse wie wankelmütige Gruppierung, die je nach „Gefühlslage“ in verschiedene Sekten zerfällt. Dass man Mobutisten und Kabilisten auf Empfehlung des UN-„Moderators“ für den innerkongolesischen Dialog, Ketumile Masire, unterschiedslos unter das Etikett „politische Opposition“ fasste, war ein strategischer Fehler. Die verbale Allianz der „politischen Opposition“ mit den bewaffneten Rebellen erlaubte es Letzteren, der öffentlichen Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, ohne selbst irgendwelche Zugeständnisse machen zu müssen. Ein Beispiel dafür ist das Verhalten der politischen Opposition gegenüber Étienne Tshisekedi, den sie aus dem Amt des Vizepräsidenten drängte, als er in Sun City seine Präsidentschaftskandidatur verkündet hatte. Verlierer dieser Kungelei sind die politischen Erben der „Souveränen Nationalkonferenz“ (CNS), die 1991, noch zu Mobutus Zeiten, tagte und den nicht sehr erfolgreichen Versuch unternahm, einen politischen Dialog in Gang zu bringen.

Diese Ausgrenzung stellt eine klare Verletzung des Abkommens von Pretoria dar, das die Beteiligung aller Gruppen an der Verwaltung des Landes vorsieht. Das Gewicht der politischen Parteien lässt sich angesichts des Verbots parteipolitischer Aktivitäten derzeit kaum beurteilen. Hier werden erst freie, demokratische Wahlen Klarheit schaffen.

Die „Zivilgesellschaft“ stellt sich wie die politischen Parteien als ein Amalgam aus unterschiedlichen Berufsgruppen, Konfessionen, Vereinen, Regionen und Ethnien dar. Ihr Niedergang hat auch die Kirchen tangiert, die zur Zeit der CNS noch eine entscheidende Rolle gespielt hatten. Deren Glaubwürdigkeit hängt angesichts der chaotischen Zustände in der DR Kongo vor allem davon ab, ob sie es schafft, die Interessen des Landes in den Übergangsinstitutionen zu repräsentieren, etwa in der Unabhängigen Wahlkommission, der Nationalen Aufsichtsbehörde für Menschenrechte, der Obersten Medienaufsichtsbehörde, der Wahrheits- und Versöhnungskommission und der Ethikkommission zur Korruptionsbekämpfung.

Von den beiden Schutzmächten des Kongo hat nur Ruanda von der Besetzung des Landes strategisch profitiert. Für General Kagame war der Krieg im Kongo das probate Mittel, um die Bedrohung seiner Machtposition durch die rund 200 000 Hutu-Flüchtlinge abzuwenden. Er nutzte die Opferrolle nach dem Völkermord von 1994, um alle Macht im Staate an sich zu reißen. Den Rückzug Ruandas aus der DR Kongo verzögerte er so lange, bis er durch die USA und Südafrika dazu gezwungen wurde.

Der strategische Verlierer heißt Uganda. Die Ausplünderung der kongolesischen Ressourcen hat dem Image Yoweri Musevenis, der sich als „Nkrumah der Großen Seen“ zu profilieren suchte, geschadet. Überdies erwies sich seine militärische Interventionsfähigkeit als sehr beschränkt. In Kisangani unterlagen seine Einheiten der ruandischen Armee, und beim Vormarsch gegen die nordugandische Rebellenbewegung „Widerstandsarmee des Herrn“ (ARS) im Frühjahr 2003 im Sudan mussten sich die ugandischen Truppen zurückziehen. Politisch war es Museveni zwar gelungen, die MLC in die Arme Joseph Kabilas zu treiben, doch mit dem Abkommen von Sun City wurde auch die führende Rolle seines Schützlings im Übergangsprozess hinfällig. Am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Truppen unter dem Druck der USA und Großbritanniens aus dem Kongo abzuziehen.

Simbabwe wurde durch den Despotismus Mugabes ruiniert und muss seine regionalen Ambitionen angesichts des Aufstiegs von Südafrika zurückschrauben. Und das durch dreißig Jahre Bürgerkrieg ausgeblutete Angola kann der Region sein Gesetz nur mit Waffengewalt aufzwingen. Für eine Region, die keine rechtsstaatlicher Kultur kennt, beginnt damit eine Zeit großer Gefahren.

deutsch von Bodo Schulze

* Direktor des Institut Panafricain de Géopolitique (Nancy).

Fußnoten: 1 Auguste Mampuya, „Le conflit armé au Congo-Zaïre“, Nancy (Éditions Amaed) 2001.

2 BBC World, London, 31. Mai 2003.

3 Dazu Colette Braeckman, „Krieg der Plünderer, Krieg der Verlierer“, Le Monde diplomatique, April 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2003, von MWAYILA TSHIYEMBÉ