11.07.2003

Die fehlende Hälfte der EU-Verfassung

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Die fehlende Hälfte der EU-Verfassung

IN den letzten Monaten konnte man den Eindruck gewinnen, dass zwei ganz verschiedene Europas existieren. Zum einen das in den Medien gefeierte Europa des Konvents, dessen Präsident Giscard d’Estaing auf dem Europäischen Ratsgipfel vom 19./20. Juni auf Chalkidiki einen „Entwurf für eine europäische Verfassung“ vorlegte. Zum anderen das Europa, in dem viele der demonstrierenden Franzosen den Urheber der „Reform“ – oder besser Gegenreform – des Renten- und Bildungssystems sehen, der ein weiterer Umbau der Sozialversicherung und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen folgen soll.

Es ist ein und dasselbe Europa. Doch die vielen verwirrenden Beschlüsse des Konvents über Entscheidungsverfahren und künftige Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, wie auch innerhalb der Union zwischen Rat, Kommission und Europaparlament, sind eigentlich nur für berufsmäßige Europäer spannend, nicht aber für die Mehrheit der Bürger. Deren Fragen, etwa nach der Gesamtrichtung der EU-Politik oder nach der außenpolitischen Unabhängigkeit Europas – spielten bei den 16-monatigen Verhandlungen des Konvents nur eine untergeordnete Rolle.(1)

Bezeichnend ist denn auch, dass der auf Chalkidiki abgesegnete Verfassungsentwurf nur zwei von vier Themen endgültig festklopft: den Abschnitt über die Ziele, Zuständigkeiten und Institutionen der Union und die (bereits im Dezember 2000 beschlosse) „Charta der Grundrechte“, die in den Text eingearbeitet wurde.(2) Den dritten Abschnitt über die Gemeinschaftspolitik und den vierten mit dem Titel „Allgemeine und Schlussbestimmungen“ will der Konvent weiter erörtern; sein Mandat wurde deshalb bis zum 15. Juli verlängert.

Diese Vorgehensweise, die das „Wie“ und „Von wem“ festschreibt, bevor man über das „Was“ entschieden hat, hat durchaus ihren Grund. Man geht offenbar davon aus, dass alle wichtigen inhaltlichen Fragen bereits geregelt sind. Doch hier steckt das Problem: Egal welche politische Mehrheit in den Mitgliedstaaten regiert, ihr bleibt keine andere Wahl, als sich der liberalen Wirtschaftsordnung zu fügen, die durch die früheren Verträge – von Maastricht bis Nizza – abgesegnet ist.

Obgleich die Ergebnisse des Konvents nur für ihn selbst bindend sind, dürften die Diplomaten der 25 Länder, die die Union ab 2004 zählt, keine wesentlichen Änderungen mehr vornehmen. Die Regierungskonferenz wird wohl im ersten Halbjahr 2005 die zentralen Punkte verabschieden, die der Konvent erarbeitet hat.

So soll die Europäische Union fortan den Status einer juristischen Person erhalten. Die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft wird durch einen auf zwei Jahre gewählten Präsidenten ersetzt. Die EU-Außenpolitik soll durch einen europäischen Außenminister vertreten werden. Die Zahl der EU-Kommissare soll ab 2009 auf fünfzehn zurückgehen. Die qualifizierte Mehrheit für Ratsbeschlüsse wird neu definiert: Es genügt die einfache Mehrheit der Staaten (also 13 von 25), wenn diese zugleich 60 Prozent der rund 450 Millionen EU-Bürger repräsentieren. Das Mitentscheidungsrecht des EU-Parlaments wird von 37 auf 80 Sachgebiete erweitert.

Doch zwei Verbesserungen, die man sich von einer Verfassung versprochen hat, fehlen vollständig: Der Textentwurf sorgt weder für eine „größere Nähe“ der Bürger zu den EU-Institutionen noch für einen Umbau der politischen Architektur Europas. Nur zwei Bestimmungen gehen zaghaft in diese Richtung: Wenn sich mindestens eine Million Bürger aus einer „nennenswerten Anzahl“ von Ländern zusammenfinden, so können sie von der Union gemäß Artikel I-46 einen „Rechtsakt“ einfordern – eine Regelung, die grenzübergreifende Bewegungen etwa für die Einführung einer Tobin-Steuer oder anderer globaler Steuern begünstigt.

Zudem wird in einem „Zusatzprotokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ den nationalen Parlamenten die Möglichkeit eingeräumt, die EU-Kommission zur erneuten Prüfung eines von ihr unterbreiteten Gesetzesvorschlags zu zwingen, wenn dies von mindestens einem Drittel der nationalen Parlamente gefordert wird. Das Entscheidungsmonopol jedoch bleibt weiterhin bei der Kommission.

Gelegentlich mag diese Klausel den Parlamentariern die Möglichkeit bieten, aktiver bei der Gesetzgebung mitzuwirken. Derzeit beschränkt sich die Rolle der nationalen Parlamente ja auf die Funktion einer Registrierungskammer: Vor einer Ratsentscheidung (gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem EU-Parlament) werden die Parlamentarier „konsultiert“, danach sind sie verpflichtet, den Beschluss in nationales Recht zu überführen. Und dies bei 60 Prozent der Entscheidungen, die sie vor ihren Wählern zu vertreten haben, denn so viel Gesetzesmaterie wird für die Mitgliedstaaten auf EU-Ebene verabschiedet. Man sieht, die Bilanz in Sachen Demokratie fällt recht mager aus.

Der Konvent hatte den Auftrag, die bisherigen Verträge inhaltlich zu einem Ganzen zu fügen. Die Bedeutung dieser Verträge für die europäischen Bürger hat ein intimer Kenner der Materie kürzlich so beschrieben: „Wir leben in einer offenen globalen Wirtschaft ohne Regulierung oder Beschränkungen der Gewalt, die vom Wettbewerb ausgeht.“ Das aber würde bedeuten, dass die im Titel I des neuen Vertrags genannten Ziele – „Vollbeschäftigung und sozialer Fortschritt, ein hohes Niveau beim Schutz und bei der Verbesserung der Umweltqualität“ – im Grunde gar nicht einzulösen oder zu konkretisieren sind. Diese Einsicht stammt von Michel Rocard, ehemals sozialistischer Ministerpräsident Frankreichs und heute Präsident der Kulturkommission im Europaparlament.(3) Und leider entspricht dieses Geständnis der Wirklichkeit.

Grundrechte – nett, aber unverbindlich

IN der Tat schreibt der Konvent das Wettbewerbsprinzip als höchste Norm des europäischen Einigungsprozesses fest, nachdem die Kommission diese Waffe bereits seit zwanzig Jahren gegen Unternehmen und öffentliche Versorgungseinrichtungen und zur Durchsetzung „struktureller Reformen“ etwa der Rentensysteme einsetzt. Selbst nichtmarktwirtschaftlichen Dienstleistungen, wie Bildung, Gesundheit, soziale Sicherung und sozialer Wohnungsbau, wird formell keine Sonderstellung eingeräumt.

Man mag einwenden, der künftige Unionsvertrag beinhalte auch die Charta der Grundrechte, die beim Vertrag von Nizza in den Anhang abgeschoben war. Darin ist das „Recht auf Arbeit“ und auf „freie Arbeitsplatzsuche in jedem Mitgliedsland“ verankert, was in Zeiten der Massenentlassungen und rapide ansteigender Arbeitslosenzahlen doch ein netter Fortschritt ist. Sogar das Streikrecht, das 2000 nicht ohne Schwierigkeiten aufgenommen wurde, kommt vor, wenn auch auf ein angemessenes Maß zurechtgestutzt: Labour-Ministerpräsident Tony Blair setzte schließlich durch, dass es vor nationalen Gerichten nicht einklagbar ist. Während in der gemeinsamen Handelspolitik Entscheidungen über steuer- und sensible sozialpolitische Fragen auch künftig einstimmig zu fassen sind – sodass hier London und Dublin ihr Sozialdumping weiterführen können – soll im Handel mit Kulturdienstleistungen nunmehr die qualifizierte Mehrheit genügen.

Aber taugt die neue Verfassung nicht wenigstens als Instrument für die Selbstbehauptung Europas gegenüber den Vereinigten Staaten? Der Text als solcher legt eine positive Antwort nahe, da ein europäischer Außenminister vorgesehen ist, der im Namen der Union sprechen soll. Da dieser aber nur aufgrund eines einstimmigen Mandats handeln kann, muss sich die gemeinsame Außenpolitik auf einen engen Themenkreis beschränken.

Als positives Signal könnte man auch Artikel I-43 verstehen, der die Möglichkeit „verstärkter Zusammenarbeit“, namentlich in verteidigungspolitischen Fragen, vorsieht. Damit wäre es theoretisch möglich, einen Kern europäischer Streitkräfte aufzustellen, die nicht der Nato unterstehen. Doch auch hiergegen sind „Sicherungen“ eingebaut: Die Entscheidung über verstärkte Zusammenarbeit in bestimmten Fragen obliegt den Fünfundzwanzig insgesamt, und mindestens ein Drittel, also neun EU-Staaten, müssen dabei mitmachen. Aber derzeit ist nicht zu erkennen, dass neun EU-Staaten die Bereitschaft entwickeln könnten, sich von der Vormundschaft Washingtons zu befreien.

Im Gegenteil. Der derzeitige Hohe Repräsentant für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, vormals Nato-Generalsekretär, stellte vor kurzem eine „Sicherheitsdoktrin“ für die Union vor, die sowohl die Prioritäten des Weißen Hauses – Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen – wie auch die Doktrin „präventiven Handelns“ aufgreift. Zwar ist in diesem Papier noch vorgesehen, dass solches „Handeln“ in multilaterale Verhandlungen eingebettet sein soll, wobei man die Vereinten Nationen als „grundlegenden Rahmen der internationalen Beziehungen“ erhalten wissen will. Doch wie die Financial Times berichtet, gehen einige Diplomaten davon aus, dass die Schlussfassung des Vertragstextes „eine robustere Sprache sprechen und möglicherweise auch die Notwendigkeit von Regimewechseln und präventiven Schlägen erwähnen wird“(4). Sollte dies der Fall sein, würde Europa sich auf die sicherheitspolitische Linie des Bush-Komparsen Tony Blair begeben, dessen sozialpolitischen Vorstellungen die Union schon heute folgt.

Der Entwurf für eine europäische Verfassung und die Entwicklungen im Bereich der EU werden bis ins kommende Jahr hinein in den Schlagzeilen bleiben. Bis Ende 2003 tagt die EU-Regierungskonferenz, am 1. Mai 2004 treten die zehn neuen Staaten bei. Zwischen diesem Datum und den Europawahlen im Juni soll der Vertrag unterzeichnet sein, um dann bis Herbst 2004 ratifiziert zu werden, was in vielen Ländern ein Referendum erfordert.

An dem Tag, an dem die große Mehrheit der Bürger begreift, dass die Politik ihrer Regierung durch Unionsentscheidungen weitgehend vorherbestimmt ist, wird das europäische Bewusstsein einen entscheidenden Schritt voran getan haben. Dann müssen die neoliberalen Kräfte nämlich befürchten, dass die Öffentlichkeit die schleichende Vereinnahmung einer Idee, die Besseres verdient hat, nicht mehr länger akzeptieren wird.

deutsch von Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Dazu „Une convention européenne conventionnelle“, Le Monde diplomatique, Juli 2002.

2 Dazu Anne-Cécile Robert, „L’étrange politique étrangère de l’union européenne“, Le Monde diplomatique, Dezember 2002.

3 Michel Rocard, „Loi Fillon: les brutaux et les mollettistes“, Le Monde, 19. Juni 2003.

4 Financial Times, 21./22. Juni 2003.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2003, von Von BERNARD CASSEN