11.07.2003

Die Maoisten gewinnen an Terrain

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Die Maoisten gewinnen an Terrain

SEIT 1996 steht Nepal im Zeichen eines Aufstands, den die maoistische Partei CPN-M anführt. Zudem lastet auf dem Himalaja-Königreich der Schatten seiner großen Nachbarn: China, das die Straßen von Tibet nach Nepal ausbauen will, und Indien, gegen das sich der Kampf der Maoisten richtet. Seit die Aufständischen zu Terroristen erklärt worden sind, liefern die USA und Großbritannien Waffen und Experten nach Kathmandu. Die verworrenen Verhältnisse in Nepal tragen dazu bei, die geopolitischen Spannungen der Himalaja-Region weiter aufzuladen. Von JEAN-LUC RACINE *

Im Laufe des Konflikts, der seit 1996 nahezu 8 000 Tote gefordert hat, hat die maoistische Guerilla einen beträchtlichen Teil Nepals unter ihre Kontrolle gebracht. Mit einer Generation Verspätung knüpfen sie an die revolutionäre marxistisch-leninistische Bewegung der 1960er-Jahre im indischen Westbengalen an. Sie begreifen sich als Nachfolger der dortigen Naxaliten(1); tatsächlich fand in beiden Fällen die gleiche Entwicklung statt: die Radikalisierung der extremen Linken bis hin zum bewaffneten Kampf einerseits und die Einbindung der traditionellen kommunistischen Strömungen in das demokratische Kräftespiel der Wahlen andererseits.(2)

Die Maoisten stellen mittlerweile für das politische Dreieck Nepals einen festen Bezugspunkt dar, wobei die – vom Königshaus ernannte – Regierung über den parlamentarischen Parteien steht. Inzwischenzeit hat es mehrmals Phasen des „Volkskriegs“ und Phasen des Dialogs zwischen Machthabern und Aufständischen gegeben. An der Spitze der Rebellen steht ein Duumvirat: Baburam Bhattarai, der Chefideologe, und Pushpa Dahal, der Parteivorsitzende, genannt Prachanda, „der Schreckliche“.

Im Jahr 1990 hatte ein Bündnis zwischen der Kongresspartei und der Kommunistischen Partei Nepals den damaligen König Birendra durch eine starke Volksbewegung gezwungen, einer konstitutionellen Monarchie auf der Grundlage einer parlamentarischen Demokratie zuzustimmen. Eine echte Revolution für ein Land, dessen Regierung hundert Jahre in den Händen einer Erbdynastie von Premierministern lag und von Monarchen beherrscht wurde, die politische Parteien verboten.

Bei den folgenden Wahlen von 1991 siegte die Kongresspartei (Nepali Congress, NC), aber die kommunistische Partei Nepals (CPN) – seit der Wiedereingliederung mehrerer Dissidentengruppen auch CPN-UML (United Marxist-Leninist) genannt – blieb ihr dicht genug auf den Fersen, um 1994/95 für ein Jahr die Regierung zu übernehmen. Der radikale Flügel, der die parlamentarische Abweichung der Partei missbilligt hatte, spaltete sich 1995 ab und bildete die Communist Party of Nepal-Maoist (CPN-M), die ein Jahr später zum „Volkskrieg“ aufrief. Sie stützte sich auf ein 40-Punkte-Programm, eine Mischung aus politischen und sozialen Forderungen und nationalistischen Bestrebungen, vor allem gegen die (US-amerikanischen) „Imperialisten“ und die (indischen) „Expansionisten“: Alles Land den Bauern, Kampf gegen das Stigma der Unberührbarkeit und die Kastendiskriminierung (die Bevölkerung von Nepal ist zu 86 Prozent hinduistisch), gleiches Erbrecht für Töchter und Gleichstellung aller in Nepal vertretenen Sprachen (die bei weitem wichtigste Landessprache ist Nepali, aber es gibt ein Dutzend andere) lauteten einige der Forderungen.

Auf politischer Ebene tritt die CPN-M für einen säkularen Staat ein (derzeit ist das Königreich der einzige Hindustaat der Welt); sie proklamiert die Abschaffung der königlichen Privilegien (ohne ausdrücklich für die Abschaffung der Monarchie zu sein) und fordert eine neue verfassunggebende Versammlung.

Ausgangspunkt der maoistischen Aktivitäten waren zwei Distrikte im Westen des Landes, Rolpa und Rukum, die bereits vorher eine Bastion der extremen Linken waren. Dort, in den Bergen, konnten sie die Mao-Strategie, die Städte vom Land her einzukreisen, unter für den Guerillakampf bestens geeigneten natürlichen Bedingungen verfolgen. Dabei richteten sie ihre Aktionen gegen angesehene Persönlichkeiten ebenso wie gegen Wucherer, hohe Verwaltungsbeamte oder Polizisten. Aber diese Revolutionäre verstanden es, die verschiedenen ethnischen Identitäten geschickt zu nutzen, indem sie deren Territorien symbolisch markierten.

Anthropologen sprechen von der ausgeprägten Geschicklichkeit der Guerilla, die vorhandenen Kulturen in ihr politisches Spiel einzubeziehen. Zugleich sind sie bis heute die Einzigen, die die wirtschaftlichen Nöte der in Unterentwicklung versinkenden Bevölkerung öffentlich anprangern; einer Bevölkerung, die das Elend in die Emigration nach Indien treibt, wo viele den berüchtigten Gurkha-Regimentern beitreten.(3)

Von den ländlichen Hochburgen im mittleren Westen aus gewann die maoistische Bewegung nach und nach an Boden, indem sie populistische Parolen mit einer zum Terror ausartenden Gewalt verband. Die Guerilla, ihre Milizen und Volkstribunale, die „Klassenfeinde“ exekutierte, stellten sich erfolgreich einer ungeliebten Polizei entgegen, der König Birendra die Niederschlagung des Aufstands überließ. Auf diese Weise brachten die Maoisten immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle – im Jahr 2001 waren es mindestens 5 der 75 Distrikte des Landes, während ihr Einfluss in 25 anderen deutlich zunahm.

Am 1. Juni 2001 wurde das Königshaus durch ein Massaker dezimiert. Bei einem Essen im Familienkreis erschoss der Kronprinz Dipendra seine Eltern und nächsten Verwandten, ehe er die Waffe gegen sich selbst richtete. Er starb drei Tage später. Sein bei der Tat abwesender Onkel Gyanendra war der einzige direkte Erbe des toten Königs. Viele in Nepal bezweifeln die offizielle Darstellung von einem „Wahnsinnsanfall aus Liebeskummer“ und glauben an ein Komplott. Das ist auch die These der Maoisten, die hinter dem Massaker eine Verschwörung gegen König Birendra vermuten, der zu liberal gewesen sei, um die Armee gegen die Rebellen einzusetzen.

Als König Gyanendra den Thron bestieg, hatten die Maoisten dem Regime bereits schwere Schlappen zugefügt und die herrschende Kongresspartei war über den politischen Umgang mit den Aufständischen so zerstritten, dass sie Schwäche zeigte. Am 19. Juli 2001 trat Premierminister Girija Prasad Koirala zurück. Sein Nachfolger wurde Sher Bahadur Deuba. Angesichts der regen Kontakte, die die CPN-M in dieser Zeit zu den parlamentarischen Parteien der Linken knüpfte, war Deuba von ihrer Bereitschaft überzeugt, einen politischen Ausweg aus dem Konflikt zu suchen.

Zwischen der CPN-M und der Regierung wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Man trat in Verhandlungen ein, aber die Treffen im August, September und November 2001 blieben ohne Erfolg. Deuba kündigte Reformen an, die einige Programmpunkte der Maoisten berücksichtigten, entsprach aber nicht den Forderungen nach Aufhebung der Verfassung, um einer republikanischen Regierung den Weg zu bahnen. Ende November nahmen die Rebellen den Kampf wieder auf: den politischen Kampf durch die Organisation eines dreitägigen Generalstreiks, den bewaffneten Kampf durch Operationen im ganzen Land und durch direkte Angriffe auf Stellungen der Armee.

Die parlamentarischen Kräfte spalten

AM 26. November 2001 rief der König auf Empfehlung des Kabinetts den Ausnahmezustand aus. Inzwischen zeigten sich die Auswirkungen des 11. September: Die „Aufständischen“ wurden zu „Terroristen“, die mit Unterstützung US-amerikanischer Berater durch das Militär vernichtet werden sollten – US-Außenminister Powell sicherte bei seinem Besuch am 18. Januar 2002 in Kathmandu der Regierung des Himalaja-Staats leichte Waffen und Finanzierungshilfen zu.

Als der für drei Monate verhängte Ausnahmezustand auf Antrag des Premierministers verlängert wurde, wurde Deuba von seinem Amtsvorgänger Koirala, der noch immer Parteivorsitzender war und ein Erstarken der Königsmacht befürchtete, unverzüglich aus der Partei ausgeschlossen. Zugleich wies die Regierung zwei Aufrufe der Maoistenführer zu einem neuen Waffenstillstand zurück, während die Armee ihre Operationen verstärkte. Zum ersten Mal verlangte „Genosse Prachanda“ nach einem runden Tisch mit Vertretern der politischen Parteien, des Palasts und der Armee – womit er die Rolle des Königs anerkannte.

Am 4. Oktober 2002 entließ der König Premierminister Deuba, verschob die für November vorgesehenen Wahlen und bildete eine „unpolitische“ Regierung unter der Führung von Lokendra Bahadur Chand, in der Mitglieder der „Zivilgesellschaft“ und handverlesene Politiker vertreten waren, sorgfältig ausgewählt, um die parlamentarischen Kräfte zu spalten. Die Maoisten verurteilten Deubas Entlassung und setzten sich mit ihrer Doppelstrategie – Aufruf zum Dialog bei gleichzeitiger Intensivierung der kämpferischen Operationen – in immer mehr Distrikten durch: Ende 2002 hatten sie die Oberhand in 55 von insgesamt 75 Distrikten. Die politischen Kräfte spalteten sich. Die Kommunistische Partei lehnte die maoistische Forderung nach einer neuen Verfassung ab und setzte sich für abgestufte Verfassungsreformen ein, während der Vorsitzende der Kongresspartei, Koirala, auf der Wiedereinsetzung der vom König aufgelösten Nationalversammlung bestand.

Ende Januar 2003 erklärten die Maoisten einen neuerlichen Waffenstillstand. Während die proparlamentarischen Kräfte zunehmend versagten, nahmen Vertreter des Königs Verhandlungen mit den Rebellen auf, die ihre politische Arbeit vor Ort fortsetzten. Im März wurde ein beidseitiger „Kodex des Wohlverhaltens“ vereinbart – ein wichtiger Sieg für die Maoisten, die großes Verhandlungsgeschick an den Tag legten. Im Prinzip diente die Vereinbarung dazu, die Gewalt auf beiden Seiten einzudämmen. De facto begrenzte sie den Aktionsrahmen für das Vorgehen der Armee und verlieh der Macht der CPN-M mitsamt ihren Truppen, der Volksbefreiungsarmee, eine gewisse Legitimität. Zugleich forderten die Maoisten sowohl die Beteiligung aller politischen Kräfte am Friedens- und Reformprozess als auch die Berücksichtigung aller benachteiligten sozialen Gruppen – ohne sich die Abschaffung der Monarchie auf die Fahne zu schreiben.

Angesichts der Gefahr ihrer Marginalisierung haben die politischen Parteien im Mai 2003 eine Massenbewegung in Gang gebracht, um Druck auf die Regierung auszuüben. Der Rücktritt von Premierminister Lokendra Bahada Chand am 30. Mai „zugunsten der nationalen Versöhnung“ ist nur ein zusätzliches Zeichen der herrschenden politischen Verwirrungen.

Während die wichtigsten Parteien gern Madhav Nepal, den Chef der CPN-UML, die nach der Spaltung der Kongresspartei zur stärksten Fraktion im Parlament geworden ist, an der Macht sähen, hat es der König wieder einmal anders beschlossen und am 4. Juni Surya Bahadur Thapa berufen, der 1960 schon einmal Premierminister war.

Nach acht Jahren Aufstand steckt Nepal in einer tiefen Krise, die drei Wurzeln hat: In erster Linie hat das 1990 eingesetzte parlamentarische System sich nicht wirklich bewährt, woran die ständigen Fraktions- und Parteienkämpfe schuld sind. Thapa ist der vierzehnte Regierungschef in nur dreizehn Jahren.

Der Aufstieg der Maoisten wurde durch die Laisser-faire-Politik König Birendras sehr begünstigt. Sein aktiverer Nachfolger benutzte den Aufstand, um die politischen Kräfte an den Rand zu drängen, die sich für ein parlamentarisches System einsetzen und ihn ihrerseits verdächtigen, ein autoritäres Regime wieder herstellen zu wollen. Aber die Macht der Maoisten beruht auf einer schwerwiegenderen, strukturellen Krise, die ihnen ganz abgesehen vom territorialen Netzwerk ihrer Milizen und dem Terror des „Volkskriegs“ Zulauf verschafft.

Die Parolen zur Beseitigung der sozialen Ungleichheiten, die Aufrufe zur Wahrung der ethnischen Pluralität und der Nationalismus eines ausgesprochen antiindischen Wirtschaftsplans finden ein Echo, das den Auftrieb der Bewegung teilweise erklärt. Im Augenblick ist schwer einzuschätzen, ob die Maoisten auf ihre Stunde für einen radikalen Umsturz warten oder ob sie sich mit einer Eingliederung in die Machtstrukturen begnügen werden, die ihnen die Umsetzung einiger Elemente ihres 40-Punkte-Programms erlaubt.

Unterdessen beunruhigen sich die Staatskanzleien der großen Nachbarländer. Peking hat sich vollständig von den Rebellen distanziert und beschuldigt sie, Maos Namen zu beschmutzen. Es kann China nicht gefallen, wenn in Nepal US-amerikanische Berater tätig werden: Seit dem 11. September hat sich die US-amerikanische Präsenz in Zentralasien, besonders in Afghanistan und Pakistan verstärkt, gleichzeitig unternehmen die indischen und die US-Streitkräfte immer häufiger gemeinsame Manöver. Und was Indien betrifft, dem in Kathmandu oft vorgeworfen wird, den Maoisten Bewegungsfreiheit auf seinem Gebiet zu gewähren oder sie gar unter der Hand zu ermutigen, so ist schwer einzusehen, welchen Vorteil es aus einer Destabilisierung Nepals ziehen könnte, zumal die Maoisten der PCN-M offen gegen die indischen Wirtschaftsinteressen kämpfen und die gefürchteten maoistischen Bewegungen in Bihar und Andhra Pradesh nur stärken könnten.

Im Jahr 2002 waren Indien und Nepal übereingekommen, ihren Handelsvertrag von 1996 zu erneuern. Bei dieser Gelegenheit hatte Delhi dem damaligen nepalesischen Premierminister eindringlich seine Besorgnis mitgeteilt: Die pakistanischen Geheimdienste unterstützten von nepalesischem Territorium aus die in Kaschmir aktiven Dschihad-Gruppen oder auch andere Bewegungen, die es auf eine Destabilisierung der Grenzgebiete im indischen Osten abgesehen hätten. Die jüngsten Zeichen einer Wiederannäherung zwischen Indien und China lassen hoffen, dass sich die Auseinandersetzung um die gemeinsame Grenze von Kaschmir über das immer noch von Peking beanspruchte Sikkim bis zur Mcmahon-Linie(4) beruhigt.

Der Himalaja bleibt dennoch ein Krisenherd voller offener oder brodelnder Konflikte – Kaschmir, Nepal, Tibet –, umgeben von Risikozonen: Da sind vor allem die von den Attentaten der in islamistischen Netzwerken organisierten Uiguren erschütterte chinesische Provinz Sinkiang und der indische Nordosten um Assam mit seinen separatistischen Hochburgen, die zwar unter Kontrolle gehalten werden, aber nicht zur Ruhe kommen. Eingezwängt zwischen den beiden Atomriesen Asiens und verwickelt in einen maoistischen Aufstand, scheint Nepal zurückgeblieben in der Geschichte, wie sie im derzeit vorherrschenden Denken verstanden wird. Aber man sollte die Entwicklungen genau verfolgen. Wer weiß, welche Überraschungen das 21. Jahrhundert noch bereit hält.

deutsch von Grete Osterwald

* Forschungsdirektor am CNRS (Centre d’études de l’Inde et de L’Asie du Sud de l’EHSS). Jüngste Veröffentlichung: „Cachemire. Au péril de la guerre“, Paris (Autrement) 2002.

Fußnoten: 1 Abgeleitet vom Dorf Naxalbari in Nordbengalen, wo die ersten Aktionen des „Volkskriegs“ stattgefunden haben. Die Naxaliten wurden in wenigen Jahren niedergeschlagen, ehe ähnliche Organisationen in Bihar und Andhra Pradesh überdauerten, ohne die Staatsmacht jedoch wirklich zu bedrohen.

2 In Indien gibt es immer noch Gruppen, die man als Naxaliten bezeichnen kann. Im an Nepal grenzenden Bihar ist das Kommunistisch-Maoistische Zentrum aktiv, während sich in Andhra Pradesh die People’s War Group allen Verfolgungen widersetzt. Im Juli 2001 haben diese beiden Bewegungen zusammen mit der CPN-M und sechs anderen Gruppierungen aus Indien, Bangladesch und Sri Lanka ein Koordinationskomitee der maoistischen Parteien und Organisationen Südasiens geschaffen, das eher symbolische als funktionale Bedeutung hat, da nur die drei ersten wirkliches Gewicht haben.

3 Nepal mit seinen 140 000 Quadratmetern und 26 Millionen Einwohnern steht nach dem Human Development Index an 142. Stelle.

4 Die Mcmahon-Linie wurde 1914 bei einem Abkommen zwischen dem britischen Königreich und Tibet festgelegt. China erkennt die Linie nicht an und hat sie 1962 im Krieg gegen Indien überschritten, um seinem Anspruch auf den indischen Staat Arunachal Pradesh am östlichen Ende des Himalaja Nachdruck zu verleihen.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2003, von Von JEAN-LUC RACINE