Friedhof ohne Kreuze
CIUDAD Hidalgo, im Bundesstaat Chiapas. Die Stadt liegt direkt am mexikanischen Ufer des Rio Suchiate, der die natürliche Grenze zum benachbarten Guatemala bildet. Tag für Tag versuchen hier hunderte von Emigranten aus Mittelamerika, auf die Güterzüge Richtung Norden aufzuspringen, um dann illegal in die Vereinigten Staaten einzureisen. Im Schatten eines Waggons lauert eine Gruppe junger Honduraner auf die Abfahrt des nächsten Zuges. Erst in der vorangegangenen Nacht haben sie den Suchiate auf einem der Flöße überquert, die regelmäßig zwischen den Ufern pendeln.
„Vamos pa’l Norte – wir gehen nach Norden“, erklärt der 25-jährige Dixie. „Ich war Schweißer in Honduras. Ich hab immer tagelang auf der Straße rumgehangen und wie ein paar Dutzende andere Handwerker auch gewartet, bis mal irgendwer Lust hat, mir für ein paar Stunden oder Tage Arbeit zu geben. Verdient hab ich so wenig, dass meine Familie davon nicht mal anständig leben kann.“ In Honduras verdienen 70 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ihr Geld in der Schattenwirtschaft. „Einer meiner Brüder lebt in Houston, Texas“, erzählt Dixie weiter, „wenn ich es bis dahin schaffe, hat er bestimmt einen Job für mich.“
Der Pfiff einer Lokomotive kündigt die bevorstehende Abfahrt eines Zuges an. Allein oder in Gruppen kommen Männer, Frauen und Kinder aus dem Dickicht, aus improvisierten Schlafstätten oder schäbigen Hotels, in denen sie die letzte Nacht zugebracht haben. Sie versammeln sich und beginnen, auf die Waggons zu klettern. Die meisten kommen aus Honduras, doch unter den Auswanderern befinden sich auch welche aus Guatemala(1), El Salvador, Nicaragua und aus Südamerika.
Die Stimmung unter den Wartenden ist gespannt. Einige bewaffnen sich mit Steinen und Stöcken, um sich gegen Räuberbanden wehren zu können, die es auf illegale Auswanderer abgesehen haben. Um den häufigen Kontrollen durch Polizei und Militär zu entgehen, müssen die Emigranten manchmal während der Fahrt vom Zug springen. Viele verletzen sich dabei schwer, manche sogar tödlich. „Aber ich sterbe lieber hier beim Versuch abzuhauen, als zu Hause vor Hunger und Scham“, kann man immer wieder hören.
In den Achtzigerjahren haben mehrere Kriege, angefacht von der kriegerischen Mittelamerikapolitik der Reagan-Administration, die Region verwüstet. Hunderttausende Menschen suchten in der Folge Zuflucht in Mexiko oder den Vereinigten Staaten. Während 1979 in den USA nur 50 000 Salvadorianer lebten, waren es zehn Jahre später bereits über eine Million, obwohl ihr Heimatland nur fünf Millionen Einwohner hat. Diese Auswanderer haben für ihre zurückgebliebenen Verwandten und Freunde immer stärkere Anziehungskraft. Denn in El Salvador ebenso wie in anderen Staaten der Region hält der Frieden bei weitem nicht, was er zu versprechen schien: 78 Prozent der Mittelamerikaner lebten zu Beginn dieses Jahrhunderts von einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze.
Durch die vom Weltwährungsfonds erzwungenen Strukturmaßnahmen wurden zehntausende Beamte auf die Straße gesetzt und die einheimische Produktion auf dem Altar des Freihandels geopfert. Nach dem Ende der Kriege verbreitete sich die Kriminalität explosionsartig. Naturkatastrophen wie der Hurrikan Mitch im Jahre 1998 oder das Erdbeben in El Salvador 2001 trafen eine Bevölkerung, die bereits ums nackte Überleben kämpfte.
400 000 Emigranten – vor allem Mexikaner und Mittelamerikaner – überqueren jedes Jahr illegal die Grenze zu den Vereinigten Staaten. Längst sind es nicht mehr nur Männer, die sich auf den Weg machen. Laut einem Bericht des Foro Migraciones(2) wagen heute immer mehr Frauen das Unternehmen, und der Anteil der Minderjährigen liegt bei 20 Prozent. Aus einer vorübergehenden Emigration nach dem Muster des Gastarbeiters wird zunehmend eine endgültige Abwanderung in die USA. Dazu tragen die schlechten Lebensbedingungen in den Herkunftsländern ebenso bei wie die Schwierigkeiten beim Übertreten der US-Grenze. Verschärfte Einwanderungsbestimmungen legen den Migranten nahe, für immer im Gastland zu bleiben, wenn sie es erst einmal bis dorthin geschafft haben.
Vor dem regionalen Ableger des mexikanischen Instituto Nacionál de Migración (Nationales Institut für Migration, INM) in Tapachula (Chiapas) warten etwa ein Dutzend Autobusse. Sie sollen 565 illegale Einwanderer, die auf mexikanischem Gebiet verhaftet wurden, in ihre Heimat zurückbringen. Ein junger Salvadorianer hat die Abschiebung als vorübergehendes Hindernis auf seiner Reise offensichtlich eingeplant. Er ruft den Beamten des INM trotzig zu: „Bis bald!“. Solche Szenen kann man hier jeden Tag erleben. Im Jahr 2002 wurden 120 315 illegal eingereiste Mittelamerikaner aus Mexiko abgeschoben.(3) Von 1998 bis 2001 waren es insgesamt etwa 600 000.
Unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Februar 2001 empfing der mexikanische Präsident Vicente Fox seinen Amtskollegen George W. Bush. Zu Fox’ dringendsten Anliegen gehörte eine bilaterale Regelung der Migration. Als zwei Monate später mexikanische Regierungsvertreter mit dem US-amerikanischen Außenminister Powell zusammentrafen, verkündete der mexikanische Regierungssprecher Santiago Creel bei der abschließenden Pressenkonferenz: „Im Austausch für die Verbesserung der Lage von Mexikanern, die in den USA arbeiten, wird sich unsere Regierung verstärkt bemühen, Ausländer an der Durchreise in Richtung der Vereinigten Staaten zu hindern.“ Einige Wochen danach kündigte Creel die Umsetzung des Plan Sur an: „Dieser Plan, der bisher nicht öffentlich gemacht wurde, beinhaltet eine bislang bespiellose Anstrengung, die Migrantenströme sowie die Verkehrswege von Drogen und Waffen zu unterbrechen, die von Mittelamerika aus quer durch unser Land führen.“(4) Erste Maßnahme war die Verstärkung der Grenzposten. In der gesamten Region zwischen der Meerenge von Tehuantepec und der Südgrenze von Mexiko wurde die Präsenz von Militär und Polizei verdichtet. „Mit dem Plan Sur“, sagt Juan Manuel Sandoval vom Instituto Nacionál de Antropología y Historia (Nationales Institut für Sozialanthropologie und Geschichte), „reproduziert die mexikanische Regierung ein System der Überwachung, das die USA an unserer Nordgrenze schon seit langem anwenden.“
Tatsächlich ist eine verstärkte Kontrolle der Einwanderung den hochrangigen Besuchern aus dem Weißen Haus ein großes Anliegen.(5) Weil Mexiko 1994 mit Kanada und den USA das Freihandelsabkommen Nafta unterzeichnet hat, wird seine Funktion als Pufferzone immer wichtiger. „Die Grenze zwischen den USA und Mexiko ist auf diesem neuen nordamerikanischen Territorium zu einer Binnengrenze geworden“, so Juan Manuel Sandoval. „Beim Aufspüren, Verhaften und Abschieben illegaler Einwanderer arbeitet unser Land eng mit den amerikanischen Behörden zusammen. Mexiko ist selbst zu einer Grenzregion geworden, die Nordamerika eint und vom Rest des Kontinents trennt. In Zukunft laufen sämtliche Verbindungen mit dem Süden über den Puebla-Panama-Korridor.“
Nach Sandovals Ansicht bildet die Regionalisierung der Migrationspolitik „das Fundament eines kontinentalen wirtschaftlichen Integrationsprojekts, bei dem zwar das Kapital frei fließen darf, nicht aber die Arbeitskraft“. Doch die mexikanischen Behörden wehren sich seit Inkrafttreten des Plan Sur im Juli 2001 gegen den Vorwurf, dass sie als Washingtons Erfüllungsgehilfe immer härter gegen die Einwanderer vorgehen würden. Sie behaupten, dass sich die verstärkte Mobilisierung gegen den Handel mit Drogen, Waffen und Menschen richtet. „Wir sind nicht dazu da, die Einwanderer ins kriminelle Abseits zu drängen“, widerspricht Roberto Espinoza, Regionalverantwortlicher des INM in Tapachula, energisch. „Unsere Aufgabe ist, sie zu beschützen und ihnen begreiflich zu machen, welches Risiko sie bei der illegalen Reise durch unser Land eingehen.“ Fabienne Venet, die Vorsitzende der Vereinigung Sin Frontera (Ohne Grenzen) hält dagegen: „Wenn sich Polizei und Armee einmischen, führt das zur Kriminalisierung der Einwanderung. Es fördert die Korruption und die Straffreiheit von Menschenhändlern, und es provoziert unter der einheimischen Bevölkerung fremdenfeindliche Reaktionen. Wegen der starken militärischen Präsenz führen die Reiserouten der Emigranten jetzt durch die unzugänglichsten Gebiete, wie durch den Petén-Regenwald in Guatemala. Das bringt Kinder und Frauen, die ohnehin schon am verwundbarsten sind, noch mehr in Gefahr.“
Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Morde; von Eisenbahnrädern verstümmelte, in Lkw-Laderäumen erstickte oder von skrupellosen Schleppern im Wald ausgesetzte Menschen: Im Jahr 2002 hat das Konsulat Guatemalas in Tapachula unter den illegalen Auswanderern des Landes 76 Todesfälle verzeichnet, und diese Zahl ist bei weitem nicht vollständig. „Die meisten Opfer bleiben anonym“, glaubt Pater Flor Maria, Leiter der Casa del Migrante (Haus des Migranten) in Tapachula. „Im Lexikon der Migranten heißt der Bundesstaat Chiapas ‚die Bestie‘ – weil er jeden verschlingt, der sich auf sein Revier wagt – oder auch ‚Friedhof ohne Kreuz.‘ “
Um Vorwürfen wegen zahlreicher Fälle von Korruption und Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Militär zu begegnen, gründete die mexikanische Regierung 1996 die Grupos Beta Sur. Diese Sondereinheiten sollen Migranten Schutz und Hilfe bieten. Bis jetzt genießen sie unter den durchreisenden Mittelamerikanern noch einen guten Ruf. Doch Emilio Rojas Cervantes, ein ehemaliger Mitarbeiter der Truppe, bedauert bereits ihr Abgleiten in die Korruption.(6)
1999 wurde der Grupo Beta-Leiter des Staates Tabasco, José Ángel Martinez Rodriguez, von einem seiner Untergebenen ermordet. Martinez Rodriguez galt als unbestechlich, und seither ist klar, dass es schwierig sein kann, der Korruption zu widerstehen. „Da sind große Interessen im Spiel“, sagt ein Beamter in Tapachula – unter der Bedingung, dass er namentlich nicht genannt wird. „Die Emigration ist ein boomendes Geschäft. Und dann gibt es noch die Prostitution, den Schmuggel, den Handel mit Waffen und mit Drogen … Schauen Sie sich doch um in der Stadt! Da ist viel Geld im Umlauf.“
Tatsächlich wirken Tapachula und seine Umgebung im Vergleich zu anderen Teilen des insgesamt sehr armen Bundestaats Chiapas auffällig wohlhabend. Dieser Wohlstand gründet im Wesentlichen auf der grenznahen Lage und der Funktion als Drehscheibe der Migration. In den vielen Hotels der Stadt wird nie ein Gast nach seinem Ausweis gefragt. Oft genug ist die Rezeption zugleich ein Reisebüro, in dem man Direktreisen nach Tijuana oder Nuevo Laredo an der US-Grenze buchen kann. Überall stehen Telefonzellen, die „Gratistelefonate“ – in Wirklichkeit R-Gespräche – in die USA anbieten.
Auch die Abschiebungen sind ein gutes Geschäft, und zwar für die privaten Transportunternehmen, die zumeist den ortsansässigen Kaziken gehören. Den Großteil des Bedarfs an billigen Arbeitskräften (Landarbeiter, Hauspersonal, Meeresfischer) decken die Guatemalteken. Für Privatleute und Kleinunternehmer aus Tapachula ist es längst selbstverständlich, illegal eingewanderte Maurer, Schweißer, Anstreicher oder Mechaniker vor dem Haus des Migranten anzuheuern. Eine klare Grenze zwischen Schattenwirtschaft und Illegalität gibt es nicht.
Zu beiden Seiten des Rio Suchiate gehen hunderte so genannter Ameisen unter den Augen der Zollbeamten ihren Schmuggelgeschäften nach. Am Bahnhof von Ciudad Hidalgo wacht ein „Kojote“ (Schlepper) mit Mobiltelefon am Gürtel über eine Gruppe von Migranten, die er für ein paar hundert Pesos unterbringen und im Zug begleiten wird. Wer mehr bezahlt, dem kann er auch einen Platz auf einer Lokomotive vermitteln. Er muss dazu nur die Techniker schmieren, und bevor die nicht genügend Geld beisammen haben, fährt der Zug ohnehin nicht ab. Unser Schlepper genießt den Schutz eines Beamten aus der Stadtverwaltung. Er gibt zu, dass er außerdem noch ein lukrativeres Geschäft betreibt: Er vermittelt mexikanischen Geschäftsleuten und Politikern Frauen aus Zentralamerika für eine Nacht, eine Woche oder auch ein paar Monate. Wenn die Frauen ihren „Dienst“ geleistet haben, hoffen sie auf ein Ticket in die Vereinigten Staaten.
Im vergangenen Jahr hat Gabriela Rodriguez Pizarro als Sondergesandte der Vereinten Nationen bei ihrem Besuch in Tapachula die „Korruption durch internationale Verbrecherorganisationen und Menschenhandel“ beklagt. Sie äußerte sich „besorgt über die Beteiligung und faktische Straflosigkeit gewisser Beamter“(7). Indem der Plan Sur der Migration und der Durchquerung des Landes immer mehr Hindernisse in den Weg legt, erhöht er für alle Beteiligten die Einsätze und das Risiko. Damit steigen die Gewinne von kriminellen Organisationen mit der erforderlichen komplizierten Logistik und ausreichenden Bestechungsreserven. Trotzdem hat der Plan Sur wahrscheinlich noch keinen einzigen Ausreisewilligen von seinem Vorhaben abgebracht.
„Das Problem der illegalen Einwanderung löst man nicht mit der militärischen Besetzung der Grenzen“, sagt der Menschenrechtsaktivist David Vásquez Méndez. „Der Migrantenstrom ist die Folge wirtschaftspolitischer Entscheidungen, die uns von den internationalen Finanzorganisationen aufgezwungen werden. Und da dieselben Ursachen dieselben Wirkungen haben, ist es wahrscheinlich, dass mit der Schaffung der Nordamerikanischen Freihandelszone die Abwanderung der Mittelamerikaner weiter zunehmen wird.“
deutsch von Herwig Engelmann
* Journalist
Fußnoten: 1 Unter den Emigranten, die über Mexiko in die USA gelangen, stellen die Guatemalteken die größte Gruppe. Da sie sich leichter unter die lokale Bevölkerung mischen können, reisen sie in erster Linie mit Zügen oder Autobussen.
2 „México entre sus dos fronteras“, Foro Migraciones, 2000–2001. Das Foro Migraciones ist ein Zusammenschluss mehrerer Nichtregierungsorganisationen für die Einhaltung der Menschenrechte.
3 Einwanderungsstatistiken des Instituto Nacionál de Migración 2002.
4 Washington Post, 18. Juni 2001.
5 Siehe Jeanette Habel, „Entre le Mexique et les E-U, plus qu’une frontière“, Le Monde diplomatique, Dezember 1999.
6 Emilio Rojas Cervantes, „Los grupos Beta de proteccion al migrante“, Dissertation am Instituto Nacional de Antropologia, Mexiko-Stadt, 2002.
7 In einem Bericht an den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen.