Sars
WELCH ein Triumph für die Medizin! Hatte es bei Aids noch drei Jahre gedauert, bis man den Krankheitserreger fand, und weitere zwei Jahre für die Sequenzierung des Genoms, so war der Fall Sars (Schweres Akutes Atemnotsyndrom) nach exakt einem Monat aufgeklärt. Am 12. März 2003 hatte die WHO die Öffentlichkeit über einen neuen, bis dahin unbekannten Erreger informiert, und schon am 12. April „um 4 Uhr morgens“ konnte die Krebsforschungsbehörde der kanadischen Provinz Britisch-Kolumbien als Erste die Gensequenz des Virus bekannt geben.
Die mediale Aufgeregtheit um Sars hatte sich kurzzeitig auch auf die Stimmung in international agierenden Konzernen übertragen – man sprach von Verlusten in Höhe von 50 Milliarden Dollar, also mehr als das Doppelte der durch die Maul- und Klauenseuche 2001 in Großbritannien entstandenen Einbußen –, doch es herrschte bald wieder Business as usual: „Dr. Norbert Bischofberger, Vizepräsident von Gilead – einem auf tödliche Infektionskrankheiten spezialisierten Pharmaunternehmen – und für den Bereich Forschung und Entwicklung zuständig, ist ‚zu 100 Prozent überzeugt‘, dass sein Unternehmen in der Lage sei, ein Medikament gegen Sars zu entwickeln“, meldete die New York Times. „Er werde jedoch nicht in dieser Richtung aktiv werden, da er der Meinung ist, dass sich die Krankheit nicht zu einer größeren Plage auswachsen werde: ‚Gegen diesen Coronavirus etwas zu unternehmen, erfordert ebenso große Anstrengungen wie bei jedem anderen Objekt‘, erklärte Bischofberger, ‚doch am Ende steht kein Produkt, das sich verkaufen lässt.‘“ (1)
Noch weiß die WHO nicht, ob das Sars-Virus ausgerottet werden kann oder ob es ein alljährlich wiederkehrendes Phänomen wie die Grippe wird, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass die nächste Krankheitswelle unkontrollierbare Ausmaße annehmen könnte. In der Pharmaindustrie, wo exorbitante Preise gefordert werden, um „die Forschung zu finanzieren“, sieht man derweil untätig zu, wie die Zahl der Erkrankten steigt und fällt. Wird man auch von diesen Kranken verlangen, dass sie einen 20 Jahre dauernden Patentschutz für ein Medikament akzeptieren, das irgendwann einmal auf den Markt kommen wird?
Es gibt aber auch positive Beispiele. Eine Reihe multinationaler Unternehmen, die in Asien tätig sind, haben im Verein mit Investitionsbanken Kontakt zur WHO aufgenommen, um einen Notfonds für China auf die Beine zu stellen. Bis September dieses Jahres sollen 100 Millionen Dollar zur Verfügung stehen, um ein Wiederaufflammen der Epidemie möglichst zu verhindern.
Die meisten verantwortlichen Stellen in Wirtschaft und Politik betrachten die Krankheit immerhin als eine Bedrohung, gegen die man Vorkehrungen treffen muss. Freilich interessieren die Patienten dabei nicht als Menschen, sondern in ihrer Eigenschaft als Verbraucher, Wähler und Risikoträger. Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass mit Blick auf die ärmsten Länder nur die drei Hauptinfektionskrankheiten Aids, Tuberkulose und Schlafkrankheit Anlass zur Gründung eines „globalen Hilfsfonds“ gaben, während eine ganze Reihe nichtansteckender Krankheiten (Krebs, Asthma, Allergien, Herzkrankheiten, neuropsychiatrische Störungen) zu Unrecht noch immer als „Krankheiten der Reichen“ gelten und daher weder internationale Solidarität noch patentrechtliche Ausnahmeregelungen nach sich ziehen. Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht bildet die Bekämpfung des Tabakkonsums: Die Verabschiedung einer entsprechenden Rahmenkonvention durch die 56. WHO-Generalversammlung im Mai dieses Jahres zeigt, dass gezielte Maßnahmen durchaus im Bereich des Möglichen liegen.
DIE 7 000 an Sars Erkrankten in China zogen nur deshalb die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich, weil man die weltweite Verbreitung der Krankheit befürchtete. In China stellte Ministerpräsidentin Wu Yi nach der Amtsenthebung des Gesundheitsministers sogar die beeindruckende Summe von 692 Millionen Dollar für Maßnahmen zur Verfügung, mit denen zukünftig die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten kontrolliert werden soll. Die Bauern aus Henan hingegen, die durch Blutspenden an Aids erkrankten, haben seitens der Behörden nicht die geringste Unterstützung erhalten.
1969 glaubte der damalige US-Gesundheitsminister angesichts der medizinischen Fortschritte „das Buch der Infektionskrankheiten zuschlagen“ zu können. Die Liste der seither aufgetretenen Krankheitserreger – Ebola-Virus, West Nile Virus, Geflügelpest, Legionellose, Creutzfeld-Jacob – lässt sich indes schwerlich auf das Konto unvorhersehbarer Zufälle schreiben. Wie Erdbeben oder das Klimaphänomen El Niño gehören plötzlich neu auftretende Krankheiten zur grausamen Normalität der Menschheits- und Naturgeschichte. Doch das Bedürfnis nach Sicherheit, das unser Handeln gerade in Zeiten des „Bioterrorismus“ nicht nur in Gesundheitsfragen bestimmt, macht prinzipiell blind gegenüber den Entstehungsbedingungen solcher Probleme. Brot allein macht einen Tuberkulosekranken natürlich nicht gesund, aber Unterernährung spielt eine entscheidende Rolle für die Ausbreitung der Krankheit. Soziale Ungleichheit wies noch jeder Epidemie den Weg.(2) Dass die Mehrheit der Kranken auf der Welt weder eine gesundheitliche Grundversorgung noch wirksame Arzneimittel erhalten, verschärft die Situation zusätzlich. Der Ausbruch von Sars in China, wo schon während der Ära Deng Xiaoping rund 80 Millionen Menschen ihre Existenzgrundlage verloren und das Gesundheitssystem rücksichtslos privatisiert wurde, veranschaulicht diesen Zusammenhang zur Genüge.
PHILIPPE RIVIÈRE
Fußnoten: 1 Andrew Pollack, „With SARS, Antivirus Arms Race Heats Up“, The New York Times, 25. Mai 2003. 2 Dazu Paul Farmer, „Pathologies of Power: Health, Human rights, and the New War on the Poor“, The University of California Press, 2003.