Zwei zionistische Wege
IN der Geschichte des Zionismus waren die arabischen Einwohner in Palästina nicht vorgesehen, wie schon die alte Parole „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ dokumentierte. Keiner der zionistischen Wege – weder der pragmatische noch der revisionistische – weist derzeit einen politischen Ausweg angesichts der Tatsache, dass zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan in absehbarer Zeit die Palästinenser die demografische Mehrheit stellen werden. Doch innerhalb Israels hat dieser „Kampf zweier Linien“ seine Brisanz nie verloren, wie auch die jüngste Krise innerhalb der Scharon-Regierung zeigt.
Von BARUCH KIMMERLING *
Scharons politische Probleme begannen vor eineinhalb Jahren, als sich in Israel eine Bewegung für den Bau einer Trennmauer formierte, um zukünftig Selbstmordattentäter vom israelischen Territorium fern halten zu können. Die Siedler sowie ein Großteil der radikalen Rechten opponierten gegen diesen Plan, ebenso die Mehrheit des Kabinetts, der Likud-Fraktion in der Knesset sowie des Zentralkomitees der Regierungspartei. Mit einer Abtrennung werde, so argumentierten sie, faktisch eine Grenze geschaffen und viele Siedler würden sich künftig außerhalb Israels wiederfinden. Zudem wäre dies das Ende der Ideologie von „Großisrael“.
Die Motive der Mauerbefürworter hingegegen sind weniger ideologischer Natur; sie haben in erster Linie Angst, da es dem Militär in der Vergangenheit nicht gelungen ist, die Selbstmordattentate zu verhindern. Doch Scharon erkannte schnell die Vorteile der Trennung und des „disengagements“ (wie man das Programm auch nennt) und entwickelte einen detaillierten Plan, um das Mauerprojekt in seine langfristige Strategie – die politische Vernichtung des palästinensischen Volkes – zu integrieren. Da er die Opposition in den eigenen Reihen kannte, wagte er einen Schachzug, der in der politischen Kultur des Landes ohne Vorbild dasteht: ein Referendum unter allen Likud-Mitgliedern. Scharon war sich einigermaßen sicher, dass er die Abstimmung gewinnen werde, doch das erwies sich als Irrtum: Am 2. Mai lehnten 60 Prozent der abstimmenden Parteimitglieder seinen Plan ab. Trotz dieses gravierenden Rückschlags ist mit einem Rücktritt Scharons in nächster Zeit kaum zu rechnen.
Die tief greifenden Differenzen zwischen Scharon und seinen Kernwählern haben einen Hintergrund. In der Geschichte des Staates Israel gab es seit Anbeginn zwei rivalisierende zionistische Strömungen: auf der einen Seite die eher pragmatischen „Labour-Zionisten“, auf der anderen die „revisionistische Strömung“, die das Ziel eines Staates „Großisrael“ verfolgten. Wobei die Revisionisten offen ließen, wie dieses Ziel zu erreichen sei, was mit den dort lebenden Arabern zu geschehen habe und wie die Menschen in den übrigen arabischen Ländern darauf reagieren würden.
Die revisionistische Grundannahme lautete, das jüdische Volk habe ein unbestreitbares historisches und moralisches Recht auf das Land der Väter (inklusive des heutigen Jordanien) und müsse seine historischen Rechte auf eigene Faust durchsetzen. Obwohl diese messianische Bewegung mit ihren höchst diesseitigen Zielen keinen realistischen Bezug zu den politischen und sozialen Verhältnissen zu haben schien, fand sie in den letzten Jahrzehnten ihre natürlichen Verbündeten in der nationalreligiösen Partei und später auch unter den orthodoxen Religiösen.
Die Labour-Zionisten dagegen hatten traditionell eine völlig andere Vorstellung vom Aufbau ihres Staates. Sie setzten auf die Strategie der Schaffung von vollendeten Tatsachen und versuchten, die vorhandene lokale und internationale Machtbalance zwischen Juden und Arabern in ihre jeweiligen politischen Pläne zu integrieren. Ihre Taktik lief in der Vergangenheit darauf hinaus, sich möglichst viel Territorium mit möglichst wenigen arabischen Einwohnern durch Kauf – später auch durch Gewalt – anzueignen.
Für die Labour-Zionisten gibt es keine feststehenden, heiligen Grenzen, vielmehr war der Umfang des jüdisch kontrollierten Territoriums stets abhängig von einer komplexen Abgleichung politischer und sozialdemografischer Überlegungen und der Fähigkeit, das erlangte Territorium zu verteidigen. Diese pragmatische und subtile Methode der Kolonisierung Palästinas war ein wichtiger Grund für den beispiellosen Erfolg des zionistischen Projekts.
Auch wenn die Unterscheidung nach wir vor gültig ist, haben sich in den letzten vierzig Jahren die Grenzen zwischen den beiden grundlegenden zionistischen Lehrmeinungen nach und nach verwischt – was sich auch darin zeigt, dass Ariel Scharon, der faktisch dem Lager des Labour-Zionismus nahe steht, die Führung des revisionistischen Lagers übernehmen konnte.
Seit dem Krieg von 1967 befinden sich die israelische Gesellschaft und ihr Staat in einer Existenzkrise. Überdeckt wurde diese zu Anfang von einem ökonomischen Boom und zunehmender sozialer Mobilität, denn durch die Öffnung der Grenzen zum Westjordanland und zum Gaza-Streifen wurde der israelische Arbeitsmarkt mit billigen Arbeitskräften überschwemmt, die israelischen Produkte fanden einen neuen (den palästinensischen) Absatzmarkt, und die besetzten Gebiete wurden kolonisiert.
Der dadurch erzeugte Wohlstand basierte jedoch darauf, dass die Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen die kolonialen Bedingungen akzeptierten, dass sie also die völlige Integration in die israelische Wirtschaft bei gleichzeitigem Ausschluss aus der israelischen Politik hinnahmen. Die Palästinenser hatten weder das Recht auf Selbstbestimmung noch auf aktive Wahrnehmung der eigenen ethnischen und nationalen Identität oder auf ihre eigenen kollektiven Symbole.
Im Grunde gewöhnten sich beide Gesellschaften an diese Machtverhältnisse, die mit der Zeit eine wechselseitige Abhängigkeit produzierten. Die meisten Israelis und Palästinenser, die in dieser asymmetrischen Situation aufgewachsen sind, empfinden sie heute als natürlich und können sich kaum eine andere Art von Beziehung vorstellen.
In der ersten Intifada, die am 9. Dezember 1987 begann, zeigten sich bereits Risse, doch bis zur Zweiten Intifada im Jahr 2000 blieben die wirtschaftlichen Beziehungen im Wesentlichen unangetastet. Die Oslo-Verträge waren in erster Linie eine Reaktion auf die 1987 zum Ausdruck gekommenen politischen Erwartungen, eine palästinensische Autonomie zu erlangen.
Nach dem Krieg von 1967 stand die israelische Gesellschaft vor dem alten Dilemma: Man wollte das historische Stammland des jüdischen Volkes im Westjordanland annektieren, nicht jedoch dessen arabische Bewohner. Denn bei einer formellen Annexion hätte es in Israel keine jüdische Bevölkerungsmehrheit mehr gegeben. Selbst wenn man den Palästinensern nicht die vollen Staatsbürgerrechte gewährt hätte, wäre der Staat nach einer Annexion kein jüdischer Staat geblieben.
Mit diesem Widerspruch war die Dauerkrise vorprogrammiert. Denn Staat und Gesellschaft waren außerstande, die anstehenden politischen Entscheidungen zu treffen, um den nationalen Konflikt zu lösen, aber auch um die innenpolitischen Probleme zu bewältigen: in der Wirtschaftspolitik, im Erziehungswesen, in der Sozialpolitik, im Verhältnis von Staat und Religion sowie in Sachen Demokratisierung und Entmilitarisierung der Gesellschaft. Mit der Zeit wurde die Krise immer deutlicher, die Interessen differenzierten sich nach politischen Parteien aus.
Als 1977 der rechte, nationalistische Wahlzusammenschluss (als Nachfolgepartei der Revisionisten) an die Macht kam, erwartete man, die neue Regierung Begin werde unverzüglich das Westjordanland und den Gaza-Streifen annektieren, da für die revisionistische Strömung diese Gebiete schon immer zu „Eretz Israel“ gehörten. Das war auch die Hauptaussage des Parteiprogramms gewesen, und die zentrale Forderung, mit der Ariel Scharon 1973 – bald nach seinem Ausscheiden aus der Armee – kleinere und mittlere Parteien der Rechten und der Mitte zur Unterstützung von Begin vereinte. Doch entgegen diesen Erwartungen annektierte die Regierung Begin im Dezember 1981 nur die ehedem zu Syrien gehörenden Golanhöhen.
Der Grund für die Zurückhaltung war die rasch anwachsende arabische Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Selbst wenn man der annektierten Bevölkerung keine vollen staatsbürgerlichen Rechte, kein Wahlrecht und keinen Anspruch auf Sozialleistungen einräumte, hätten diese Palästinenser zusammen mit den arabischen Bürgern Israel zu einem binationalen Gebilde gemacht. Heute leben in dem Territorium zwischen Mittelmeerküste und Jordan – trotz der Rekordzuwanderung von über einer Million Menschen aus der früheren Sowjetunion (die nicht alle jüdischer Abstammung sind) – etwa 5 Millionen Juden (bzw. Nichtaraber) und 4,5 Millionen Palästinenser (mit oder ohne israelische Staatsbürgerschaft). Wenn man die demografischen Zahlen von heute hochrechnet, kommt man für das Jahr 2020 innerhalb der Grenzen des historischen Palästina auf eine Gesamtbevölkerung von 15,1 Millionen Menschen, von denen 6,5 Millionen Juden sein werden.
Die politische Kultur der jüdischen Israelis ist durch zwei verschiedene, historisch bedingte Ängste geprägt. Zum einen durch die Angst vor der physischen Vernichtung des Staates, die von vielen israelischen Politikern und Intellektuellen immer wieder benutzt, missbraucht und emotional ausgebeutet wird. Und zum anderen durch die Angst vor dem Verlust der demografischen Mehrheit, worin man den Anfang vom Ende des jüdischen Staates sieht. So ist das Land beherrscht von zwei patriotischen Geboten: Das erste patriotische Gebot, das heilige Land der Väter in Besitz zu nehmen, steht im Gegensatz zum zweiten, wonach das Land stets eine massive jüdische Mehrheit haben müsse. Die Mehrheit der israelischen Wähler stimmte bei den letzten Wahlen für Scharon, weil sie hoffte, seine Regierung böte die „richtige Lösung“ für den beschriebenen existenziellen Widerspruch und könne – nach den gescheiterten Camp-David-Verhandlungen der Regierung Barak – den israelisch-palästinensischen Konflikt beenden.
Scharon hatte freilich seine eigenen Vorstellungen von der „Lösung“ des Palästinenserproblems. Sein Konzept stammt aus dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 und trägt den Namen Politizid. Gemeint ist damit eine Kombination von militärisch-politischen, diplomatischen und psychologischen Maßnahmen mit dem Endziel, das palästinensische Volk als ein unabhängiges und legitimes gesellschaftliches, politisches und ökonomisches Gebilde auszulöschen. Dieser Prozess kann ethnische Säuberungen einschließen, das heißt die allmähliche teilweise oder vollständige Entfernung der Palästinenser aus dem Territorium, das als Eretz Israel bzw. als das historische Palästina gilt. Jitzhak Rabin und das so genannte Friedenslager hatten versuchten, dieses Problem dadurch zu lösen, dass sie auf den größten Teil der besetzten Gebiete mitsamt ihrer Bevölkerung verzichten wollten. Wegen dieser erklärten Politik wurde Rabin ermordet, und bei den darauf folgenden Wahlen entschied sich die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Israels gegen Rabins Lösung, die als eine Absage an das klassische Konzept des Labour-Zionismus verstanden wurde. Als Scharon an die Macht kam, entschied er sich mehr oder weniger explizit für eine Abkehr von dem so genannten Oslo-Prozess.
Die erste Phase des Politizids war das militärische Vorgehen, das am 29. März 2002 mit der „Operation Defense Shield“ begann. Es hatte nicht nur zum Ziel, sämtliche organisierten Sicherheitskräfte der Palästinenser zu zerschlagen, sondern vor allem auch die inneren Grundstrukturen der Palästinensischen Autonomiebehörde zu vernichten. Zugleich und zum selben Zweck unternahmen die Israelis auch systematische Angriffe auf die Infrastruktur wie auf die meisten nationalen und öffentlichen Institutionen der Palästinenser. Dabei zerstörten sie mit dem Statistischen Büro auch die wichtigste Datenbasis der Autonomiebehörde.
Aber die häufigen Vorstöße ins Kerngebiet des Westjordanlands sowie die Belagerungen von Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern – wie auch die außergerichtlichen Hinrichtungen von militärischen und politischen Führungsfiguren aller palästinensischen Gruppierungen – verfolgen ein weiteres Ziel: Israel will den Palästinensern nicht nur seine militärische Macht demonstrieren, sondern auch vor Augen führen, dass niemand sie am Einsatz ihrer Machtmittel hindert. Den Palästinensern soll damit klar gemacht werden, dass sie jedem noch so willkürlichen Aggressionsakt der Israelis ohnmächtig und ohne ernsthafte Verteidigungschance ausgeliefert sind. Die arabischen Staaten und die internationale Gemeinschaft gaben nur rhetorische Bekenntnisse zur Verteidigung der palästinensischen Sache ab – vor allem, um die Proteststimmen im eigenen Lande zum Schweigen zu bringen.
Da die Bush-Regierung in Washington – die den christlichen Fundamentalisten nahe steht – die Regierung Scharon unter ihre Fittiche genommen hat, wird Israel heute mehr denn je als Filiale der USA im Nahen Osten wahrgenommen. In dieser Rolle genießt es jedenfalls vorläufig die fast bedingungslose politische und militärische Unterstützung durch die einzige Hypermacht der Welt.
Diese erste, militärische Phase des Politizids an den Palästinensern verschaffte Scharon unter vielen israelischen Juden eine enorme Popularität. Nach dieser Phase begann die politische Phase des Projekts, die unter dem Titel „disengagement“ läuft. Der israelische Regierungschef ist ein Pragmatiker. Er weiß, dass die völkerrechtlichen Normen weder ethnische Säuberungen in großem Maßstab gestatten noch die Umwandlung des Königreichs Jordanien in einen palästinensischen Staat, wie es seine früheren Pläne vorgesehen hatten. Deshalb hat er die Errichtung der Mauer veranlasst und vor kurzem die Auflösung aller jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen und vier isolierter kleinerer Siedlungen im Westjordanland angekündigt. Als Gegenleistung für den Abzug von 7 500 israelischen Siedlern aus dem Gaza-Streifen forderte Scharon von Präsident Bush und seiner eigenen Likud-Partei, die Erhaltung der wichtigsten jüdischen Siedlungskomplexe im Westjordanland abzusegnen und damit den Verbleib von etwa 95 000 Siedlern zu sichern.
Scharon macht aus seinen Absichten keinen Hehl: Die Umsetzung der „Roadmap“ soll es ermöglichen, die im Westjordanland entstehenden palästinensischen Territorien durch ein System von Mauern und Zäunen von Israel und den jüdischen Siedlungsblöcken zu trennen. Seine „Vision“ nimmt klare Konturen an: Der palästinensische „Staat“ wird aus vier oder fünf Enklaven rund um die Städte Gaza, Dschenin, Nablus und Hebron bestehen, ein zusammenhängendes Territorium wird es nicht geben. Der Plan, diese palästinensischen Enklaven durch Tunnel und Brücken zu verbinden, bedeutet natürlich, dass die Israelis in den meisten übrigen Gebieten des Westjordanlands massiv präsent bleiben werden. Ähnlich im Gaza-Streifen, wo Israel sich auch nach dem jüngsten „disengagement“-Plan die Kontrolle über den Zugang zu dem Territorium zu Lande wie in der Luft und zur See vorbehält. Im Vergleich mit diesem Konzept nehmen sich die früher von Südafrika geschaffenen Bantustans im Rückblick wie Bastionen der Freiheit, der Souveränität und der Selbstbestimmung aus.
All dies zielt darauf, die Hoffnungen der Palästinenser zu zerstören, ihren Widerstand zu brechen, sie zu isolieren und so weit zu bringen, dass sie sich jeder von Israel vorgeschlagenen Regelung unterwerfen – um am Ende massenhaft „aus freien Stücken“ ihr Land zu verlassen.
Scharons Plan ist mit dem pragmatischen Ansatz des Labour-Zionismus vereinbar, nicht aber mit den revisionistischen und religiös-messianischen Träumen von einem exklusiv jüdischen Großisrael. So erklärt sich die Niederlage bei dem genannten Likud-Referendum. Nach den jüngsten Meinungsumfragen ist eine Mehrheit der Israelis für den Scharon-Plan. Und auch im Ausland glauben viele, er könnte einen Durchbruch für die Lösung des Palästinakonflikts bringen.
deutsch von Niels Kadritzke
* Israelischer Sozialwissenschaftler, Zuletzt erschien: „Politizid. Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk“, München (Diederichs) 2003.