11.06.2004

Was ich dem Sport verdanke

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Was ich dem Sport verdanke

Albert Camus hat seiner Liebe zum Fußball in einigen seiner Romane kleine Denkmäler gesetzt. 1957, als er den Literaturnobelpreis bekam, bat ihn die Zeitung France Football um einen Artikel. Aber seine Zeit war zu knapp und so sandte er einen Text, den er 1953 für die Verbandszeitung seiner algerischen Jugendmannschaft RUA (Racing Universitaire d’Alger) verfasst hatte.

Von ALBERT CAMUS

JA, ich habe mehrere Jahre bei RUA gespielt. Es kommt mir so vor, als sei es gestern gewesen. Aber als ich 1940 noch einmal meine Stollenschuhe anzog, merkte ich, dass es nicht gestern gewesen sein konnte. Noch vor Ende der ersten Halbzeit hechelte ich wie ein Hund in der Kabylei, der um zwei Uhr nachmittags in der Aprilsonne durch Tizi Ouzou trottet. Es war also doch schon lange her: So um 1928, glaube ich. Ich hatte damals, Gott weiß warum, in der Assoziation Sportive Montpensier (ASM) angefangen, obwohl ich in Belcourt wohnte, und die Mannschaft von Belcourt-Mustapha zu Gallia-Sports gehörte. Aber ich hatte einen Freund, einen Behaarten, mit dem ich oft im Hafen schwimmen ging und der bei ASM Wasserpolo spielte. So entscheiden sich Lebenswege. ASM spielte meist auf dem Champ de Manoeuvres. Der Boden hatte mehr Schrammen als das Schienbein eines Mittelfeldspielers der gegnerischen Mannschaft im Alenda-Stadion von Oran. Ich begriff sofort, dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben, zumal für das Leben in der Stadt, wo die Leute nicht ehrlich und geradeheraus sind. Aber nach einem Jahr ASM und Schrammen redeten sie mir im Gymnasium ins Gewissen: Ein „Studierter“ gehöre in den RUA. Damals war der Behaarte schon aus meinem Leben verschwunden. Wir hatten uns nicht zerstritten, aber er ging mittlerweile in Padovi schwimmen, obwohl dort das Wasser nicht sauber war. Offen gestanden war auch sein Grund nicht ganz sauber. Ich jedenfalls fand, dass sein Grund Charme hatte, aber schlecht tanzen konnte, was mir bei einer Frau nicht annehmbar erschien. Fürs Auf-die-Füße-Treten sind doch die Männer zuständig, oder? Also haben der Behaarte und ich zwar abgemacht, uns bald wiederzusehen. Doch seither sind Jahre vergangen. Viel später bin ich (aus sauberen Gründen) öfter ins Restaurant Padovani gegangen, aber da war der Behaarte schon mit seiner Paralytikerin verheiratet, die ihm wahrscheinlich, wie damals üblich, das Schwimmen verboten hat.

Wo war ich stehen geblieben? Ja, RUA: Ich hatte nichts dagegen, Hauptsache ich konnte spielen. Ab Sonntag fieberte ich dem Donnerstag entgegen, wenn wir Training hatten, und ab Donnerstag dem Sonntag, wenn wir Spiel hatten. Dann also zu denen von der Hochschule. Bald war ich Torhüter in der Jugendmannschaft. Ja, das schien sehr einfach. Was ich nicht wusste war, dass ich gerade eine Bindung einging, die Jahre halten und mich in alle Stadien des Departements führen würde, und die nie geendet hat. Ich ahnte nicht, dass mich noch zwanzig Jahre später in den Straßen von Paris oder Buenos Aires (das ist mir tatsächlich passiert) das dämlichste Herzklopfen überkommen würde, wenn ein Freund oder Bekannter das Wort RUA aussprach. Und wo ich schon bei den Geständnissen bin, kann ich zugeben, dass ich in Paris zum Beispiel in die Spiele des Racing Club de Paris gehe, der mein Lieblingsverein ist, weil er die gleichen blau-weiß gestreiften Trikots hat wie RUA. Überhaupt hat der Racing Club ganz ähnliche Macken wie RUA: Beide Vereine spielen nach Lehrbuch, wie man so sagt, und lehrbuchartig verlieren sie selbst die Spiele, die sie nun wirklich gewinnen müssten. Angeblich soll das anders werden, schreiben mir Leute aus Algier, bei RUA jedenfalls. Und es muss sich tatsächlich ändern, aber nicht sehr. Denn genau dafür habe ich schließlich meine Mannschaft so geliebt: nicht nur wegen des Siegestaumels, der umso herrlicher ist, wenn man die Erschöpfung nach der ganzen Anstrengung spürt, sondern auch wegen dieser Abende nach einer Niederlage, wenn einem zum Heulen zumute war.

Als letzten Mann vor mir hatte ich den Großen, Raymond Couard. Er hatte ordentlich zu tun, wenn ich mich recht entsinne. Man ging uns ziemlich hart an. Studenten, Bürgersöhnchen, die schonte man nicht. Wir waren arm dran, in jeder Hinsicht, die Hälfte von uns war zudem arm wie Kirchenmäuse. Da mussten wir durch. Und dabei immer ganz „korrekt“ spielen, so wollte es die goldene RUA-Regel, und „männlich“ außerdem, denn ein Mann ist ein Mann. Fragwürdiger Trost. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Da bin ich sicher. Das härteste Spiel war das gegen L’Olympique d’Hussein Dei. Das Stadion liegt gleich neben dem Friedhof. Auf dem könnte man ganz schnell landen, gaben sie uns erbarmungslos zu verstehen. Mich, den Torhüter, bearbeiteten sie mit Schlägen. Ohne Roger hätte das übel ausgehen können. Boufarik war auch dabei und dieser dicke Mittelstürmer (wir nannten ihn Melone), der mir immer mit seinem ganzen Gewicht ins Kreuz sprang. Hinzu kam Unterschenkelmassage mit Stollentritten, Zerren am Trikot, Knie in die Weichteile, am Pfosten einquetschen – eine Tortur. Und jedes Mal entschuldigte sich Melone mit einem „Tschuldige, mein Kleiner“ und einem Franziskanerlächeln.

Ich komme zum Schluss. Ich habe meinen Rahmen schon deutlich überschritten. Außerdem werde ich melancholisch. Doch, sogar Melone hatte gute Seiten. Im Übrigen haben wir es ihm ehrlich gesagt heimgezahlt. Aber ohne Tricks, das war ja die Regel, die man uns beigebracht hatte. Und ich glaube, damit meine ich es ziemlich ernst. Denn auch wenn mir die Welt in all den Jahren einiges geboten hat, alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Sport, habe ich bei RUA gelernt. Deshalb kann die RUA auf keinen Fall untergehen. Erhaltet sie uns! Erhaltet uns dieses großartige Bild unserer Jugend. Es wird auch über eure Jugend wachen.

deutsch von Marie Luise Knott

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.06.2004, von ALBERT CAMUS