11.06.2004

Unter Flüchtlingen

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Unter Flüchtlingen

Von CAROLINE MOOREHEAD *

IN der Nacht vom 14. September 2002 wurde die Südküste Siziliens von einem ungewöhnlich heftigen Sturm heimgesucht. Tennisballgroße Hagelkörner hinterließen Blechschäden an den geparkten Autos. Während in den Strandcafés von Realmonte noch getanzt wurde, hörten einige Touristen an einem Küstenstreifen westlich von Agrigento gegen elf Uhr nachts von See her verzweifelte Schreie. Kurz darauf kämpften sich einige erschöpfte junge Afrikaner ans rettende Ufer. Als sie sprechen konnten, berichteten sie, ihr Boot sei etwa 100 Meter vor der Küste auf einer Klippe gestrandet. Draußen im tosenden Meer sah man Menschen, die sich an einen Bootsrumpf klammerten.

Bis die Polizei alarmiert war und aus Agrigento die Rettungsschiffe der italienischen Marine und ein starker Suchscheinwerfer kamen, war das Boot noch tiefer abgesackt. Im Licht der zuckenden Blitze sahen die entsetzten Zuschauer einige der Schiffbrüchigen im Wasser versinken. Im Lauf der nächsten Stunden wurden 95 Menschen gerettet. 30 waren ertrunken. An die Nacht erinnerten am Morgen nur noch ein paar angespülte Kleidungsstücke und die Überreste einer Rettungsweste, die bald von den Müllwerkern aus Realmonte eingesammelt wurden.

An den Küsten Siziliens sind gekenterte Boote ein gewohnter Anblick. Carrette di mare (Meereskutschen) nennen die Einheimischen die 10 bis 12 Meter langen, blau oder gelb gestrichenen Boote mit den arabischen Schriftzeichen am Bug. Gebaut für etwa ein Dutzend Leute, starten diese Boote mit hundert und mehr Passagieren und sinken daher auch schon bei ruhiger See.

In den folgenden Herbsttagen wurden noch viele Leichen angetrieben. Die meisten der Toten blieben namenlos, denn die Überlebenden konnten oder wollten nichts über sie sagen. Auch die Geretteten gaben höchstens ihren Vornamen an und berichteten – nun erleichtert – von den Schrecken der Überfahrt. Aber auf die Frage, wer sie seien und wo sie herkommen, sagten sie nichts. Und wenn einer einmal antwortete, erzählte er am nächsten Tag eine andere Geschichte. Erst nach einiger Zeit sagten einige, sie seien Liberianer; doch Einheimische wollten gehört haben, dass sie Französisch miteinander sprachen, also nicht aus dem englischsprachigen Liberia stammen konnten.

Unter den Geretteten war auch ein wohlgenährter, eher hellhäutiger Mann, der die Taschen voller Dollarscheine hatte und sich weigerte, auch nur ein Wort zu reden. Die sizilianische Polizei, über die scafisti (Menschenschmuggler) inzwischen gut informiert, ging davon aus, dass für sein Schweigen die Mafia verantwortlich war, die das Schleppergeschäft mit den tunesischen Partnern weitgehend kontrolliert. Man weiß, dass die Schlepper die Leute anweisen, vor der Landung alle persönlichen Dokumente zu beseitigen. Man soll sie weder zurückschicken noch ihre Schlepper identifizieren können. Deshalb findet man unter dem Strandgut später häufig Pässe, Ausweise, zerrissene Briefe und Fotografien.

In den folgenden Tagen wurden die Toten begraben, die Überlebenden stellten alle einen Asylantrag. Einige wurden in Pensionen untergebracht, bis sie zur Befragung nach Rom vor das Innenministerium geladen wurden, wo entschieden wurde, ob man sie als Flüchtlinge anerkennt und sie damit ein Bleiberecht und eine Arbeitserlaubnis bekommen würden. Andere verschwanden über Nacht. Man vermutete, dass sie in der italienischen Schattenwirtschaft untergetaucht waren.

Für zwei Paare besorgte das Rote Kreuz eine Wohnung im Dorf, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die beiden Mädchen schwanger waren. Das Dorf nahm sich der jungen Leute an, von denen zwei behaupteten, sie seien Bruder und Schwester. Und als im Frühjahr die beiden Babys geboren wurden, organisierte man Kindersachen, kochte den Wöchnerinnen warme Mahlzeiten und brachte den jungen Müttern die Grundzüge der Säuglingspflege bei.

Doch dann kippte die Stimmung. Es begann damit, dass die Hebamme verbreitete, die eine junge Frau würde mit ihrem angeblichen Bruder schlafen. Das machte im Dorf rasch die Runde, und man fragte sich, warum die beiden nicht die Wahrheit gesagt hatten.

Eine ähnliche Geschichte hörte man auch aus San Biagio Platani, einem Bergstädtchen im Hinterland, wo ein Arzt und seine Frau fünfzehn der Schiffbrüchigen aufgenommen hatten, bis sie zur Befragung in Rom vorgeladen werden würden. Von den fünf Frauen war eine schwanger. Auch um sie kümmerte sich die einheimische Bevölkerung, die auch den Männern Arbeit besorgte. Aber auch hier hat sich bis zum Frühjahr das Verhältnis zwischen Einheimischen und afrikanischen Gästen deutlich getrübt. Zunächst hatte man Verständnis dafür gehabt, dass die Besucher nicht viel über sich erzählen wollten. Man ging davon aus, dass sie anfangen würden zu reden, sobald sie sich sicher fühlten und spürten, dass sie akzeptiert wurden. Doch es geschah genau das Gegenteil. Die Afrikaner gaben plötzlich ganz andere Namen an als zuvor. Auf einmal stimmte auch das zuerst angegebene Alter nicht mehr und sämtliche Details, die sie anfangs über ihre Reise erzählt hatten, wurden geändert. Bei einigen der Mädchen stellte sich heraus, dass sie schwanger waren.

Gegen Ende des Frühjahrs war in Realmonte wie in San Biagio der gute Wille der Einheimischen weitgehend aufgebraucht. Die Sizilianer konnten einfach nicht verstehen, warum Menschen, die sie mit ihrer Zuneigung überschüttet hatten, ihnen offenbar nicht genügend trauten, um ihnen ihre wahre Geschichte zu erzählen. Schon eine winzige Geste des Vertrauens hätte ausgereicht, meint der Arzt aus San Biagio heute. Aber eines Morgens nahmen drei der Gäste den ersten Bus nach Palermo und kehrten nicht wieder zurück. Im April war kein Afrikaner mehr da, auch die schwangeren Mädchen waren ohne ein Wort des Abschieds gegangen.

Für Menschen, die gewaltsamer Verfolgung – oder verzweifelter Armut– entkommen sind, ist der Umgang mit der Wahrheit eine schwierige Sache. Wenn die erzählte Geschichte das einzige Reisedokument ist, weil man die echten Papiere weggeworfen hat und sich neu zu erfinden versucht, liegt es nahe, das Elend und die Strapazen der Vergangenheit besonders anschaulich zu beschreiben. Das Leben von Flüchtlingen ist voll von Gerüchten. Unter den Menschen, die auf eine Befragung warten, die über ihren Flüchtlingsstatus entscheidet (ob bei der UNHCR oder der Behörde des jeweiligen Landes), zirkulieren ständig neue Informationen: Mit dieser Nationalität bekommst du eher Asyl als mit einer anderen, diese Geschichte wirkt stärker als jene, dieses Detail wird das Herz des Beamten, der dich befragt, am ehesten erweichen.

Das Kaufen und Verkaufen „guter Geschichten“ ist inzwischen unter den Flüchtlingen allgemein verbreitet. Denn sie haben panische Angst, dass ihre wirkliche Geschichte nicht „stark“ genug sein könnte. Wie leicht, ja wie natürlich ist es geradezu, die Vergangenheit so darzustellen, dass sie mehr Hoffnung auf eine bessere Zukunft bietet. Von den Schleppern weiß man, dass sie empfehlen, bestimmte Nationalitäten anzugeben: von Ländern, in die Asylbewerber nicht zurückgeschickt werden können, weil dort Verfolgung oder andere Gefahren auf sie warten würden und eine Abschiebung gegen die UN-Flüchtlingskonvention verstoßen würde.

Mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen, die in den Ländern des Westens Asyl beantragen, geraten die Immigrationsbehörden unter verstärkten Druck, möglichst viele Bewerber abzulehnen. Damit hat die Frage, was Wahrheit und was Lüge ist, für die Behandlung von Flüchtlingen eine besondere Bedeutung gewonnen. Glaubwürdigkeit ist zum alles entscheidenden Kriterium geworden. Wenn einem Asylbewerber auch nur die kleinste unwahre Aussage nachgewiesen werden kann, wird er automatisch abgewiesen – auch wenn er tatsächlich aufrichtige Ansprüche vorbringen kann. Die Einwanderungsbeamten geben selbst zu, dass es für sie inzwischen eine richtige Herausforderung ist, „irgendwas Wackliges, ein winziges unkorrektes Detail herauszufinden, etwa über das Datum der Abreise oder ein Transportmittel“, damit sie den Fall abschließen und die Leute ausweisen können. Es ist immer eine Tragödie, wenn die wahre Geschichte viel „stärker“ ist als die erfundene, und im Gegensatz zu dieser den Flüchtlingsstatus garantieren würde.

Für den Asylbewerber ist das keine einfache Situation. Aber das gilt auch für den Beamten, den man zu der Aufgabe zwingt, verzweifelte Menschen beim Lügen zu erwischen. Aber die Unwahrheit spielt in der Flüchtlingsproblematik noch eine andere Rolle: Bei den Kampagnen mit manipulierten Statistiken, die vor allem in Europa gegen Asylbewerber angestrengt werden, die ohne Ausweise ankommen – wozu praktisch jeder durch die verschärften Gesetze gezwungen ist.

deutsch von Niels Kadritzke

* Journalistin. 2005 erscheint „Human Cargo. Travels among refugees“. Abdruck aus „Index on Censorship“, Mai 2004.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2004, von CAROLINE MOOREHEAD