11.06.2004

Domino in Bagdad

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Domino in Bagdad

In Bagdad wurde die neue Interimsregierung unter Ijad Allawi vorgestellt. Die im Hintergrund detonierenden Bomben erinnerten daran, was die Iraker von ihr erwarten. Sie soll vor allem die nackte Anarchie beenden, die auf den Straßen herrscht. Für eine Regierung, die auch nach dem 30. Juni nicht souverän agieren kann, bedeutet dies eine Sisyphusaufgabe.

Von STEPHEN GREY *

VOR der Praxis von Dr. Ali stehen die Patienten Schlange. Dr. Ali ist einer der besten Augenärzte von Bagdad, er verdient ziemlich viel Geld und gehört zu den gut ausgebildeten Spezialisten, die einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des Irak und zur Errichtung einer funktionierenden Demokratie leisten könnten. Aber Dr. Ali ist entschlossen, mit seiner Familie ins Exil zu gehen.

Nachdem zwei seiner engsten Freunde gekidnappt wurden und erst gegen Zahlung eines Lösegelds wieder freikamen, will er nichts wie weg. „Die Zukunft ist für mich zu unsicher“, sagt der Arzt, der seinen richtigen Namen nicht genannt haben will. „Ich werde im Ausland abwarten, wie sich die Dinge in Bagdad entwickeln.“

Unter den wachsamen Augen der Vereinigten Staaten wurde eine Interimsregierung nominiert, die ab. 1. Juli ein Stück wirklicher Souveränität ausüben soll. Damit beginnt das „Große Experiment“, das George Bush propagiert hat und das der arabischen Welt die erste wirkliche Demokratie bescheren soll. In den kommenden Monaten können wir verfolgen, wie es mit diesem Experiment weitergehen wird, und ob man den Irakern tatsächlich – mit Hilfe von US-Panzern und einer Hand voll Wiederaufbau-Dollar – eine neue Demokratie aufdrücken kann.

Aber was bedeutet das für die normalen Iraker, die dieses Experiment durchstehen müssen? Was wird aus ihrem Wunsch nach Freiheit angesichts des Chaos und der Unsicherheit, die mit der „Befreiung“ über sie gekommen sind?

Die Lage im Irak hat sich rapide zum Schlechteren entwickelt, so jedenfalls kommt es einem Beobachter vor, der nach zwei Monaten Abwesenheit wiederkommt. Kaum war ich zurück, riss mich wieder die Explosion einer Autobombe aus dem Schlaf. Sie tötete den Jungen, der auf der Straße vor meinem Hotel Zigaretten verkauft hatte. Wieder ein unschuldiges Opfer, nur ist es jetzt in der Weltpresse keine Schlagzeile mehr wert.

Für die Ausländer ist das Leben nur unwesentlich gefährlicher geworden. Die grauenhaften Entführungen, bei denen im April Dutzende Ausländer gekidnappt und einige von ihnen hingerichtet wurden, scheinen fürs Erste vorbei zu sein, vor allem seit die Kämpfe in Falludscha abgeflaut sind. Aber jeden Tag gibt es neue, verstörende Todesfälle. Und jeden Tag gibt es weniger weiße Gesichter. Die meisten sieht man nur noch innerhalb ihrer bewachten Hochsicherheitszonen.

Dabei ist die persönliche Sicherheit für die Iraker ein ebenso großes Problem. Sie sehen im Irak ein zivilisiertes Land und nicht einen Ort, wo es normal und hinnehmbar ist, dass Panzer durch die Straßen rattern und jeden Tag ein paar Bomben hochgehen. Für viele Iraker herrschen inzwischen völlig gesetzlose Zustände, die ihnen wie ein Experiment in praktischer Anarchie vorkommen. Man spürt es, wenn der Verkehr an einer Straßenkreuzung zusammenbricht und kein Auto mehr vom Fleck kommt. Der Verkehrspolizist wird ignoriert, bis er eine Salve aus seiner Kalaschnikow in die Luft feuert.

Die US-Amerikaner und die Briten trainieren eine neue Polizeitruppe, die Ordnungsaufgaben übernehmen soll. Doch diese Polizei ist, worauf die Iraker ständig hinweisen, immer noch sehr schwach. Und dabei muss sie versuchen, all die Aufgaben zu erfüllen, für die unter Saddam Hussein mindestens 18 verschiedene Sicherheitsdienste zuständig waren. Der Irak muss sämtliche staatlichen Ausgaben mit seinen Einnahmen aus der Ölförderung finanzieren. Die werden dieses Jahr auf zehn Milliarden Dollar ansteigen. Aber diese Summe reicht nicht einmal für die wichtigsten Staatsausgaben, geschweige denn für die Finanzierung von irgendwelchen Wiederaufbauprogrammen. Noch immer wird keinerlei staatliche Steuer erhoben, sind für Wasser und Strom keine Gebühren fällig. Es ist einfach so, dass noch keine Instanz stark genug ist, die entsprechenden Gelder einzutreiben.

Die einzige wirksame Besteuerung setzen die Kriminellen durch, und die nehmen Wuchersätze. In jeder Straße eines besseren Wohnviertels lauern Kidnapperbanden, die sich kleine Kinder oder Erwachsene greifen, um deren Familien zu zwingen, ein Lösegeld zu zahlen, das bevorzugt zwischen 10 000 und 20 000 Dollar liegt. Die Familien müssen dafür häufig ihre Wertgegenstände verkaufen oder Verwandte im Ausland um Geld anbetteln. Diese Banden haben es vor allem auf die Klasse der freien Berufe abgesehen. Kürzlich haben die Ärzte mit einem Streik dagegen protestiert, dass so viele von ihnen zum Ziel der Entführerbanden wurden. Etliche Ärzte halten sich bewaffnete Beschützer. Und viele versuchen, das Land zu verlassen.

Der neue Ministerpräsident Ijad Allawi wird vielen aus dem Herzen sprechen, wenn er die Sicherheit zum vorrangigen Ziel erklärt. Und vielleicht ist er auch der harte Knochen, den so viele sich wünschen. Dennoch hat es einen eigenartigen Beigeschmack, dass jetzt ausgerechnet ein Exilpolitiker das Land regiert, den die CIA mit vielen Millionen Dollar für seine Kampagne gegen Saddam Hussein unterstützt hat. Und der im selben Maße wie Ahmed Tschalabi dafür verantwortlich war, dass Washington so ungeheuer viele Falschinformationen über die angeblichen irakischen Massenvernichtungswaffen angedreht wurden.

Allawi und der neue Präsident Ghasi Maschal Adschil al-Jawar haben versprochen, dass sie mit aller Kraft daran arbeiten wollen, in ihrem Land für Sicherheit zu sorgen und die Demokratie aufzubauen. Die Menschen auf den Straßen teilen diese Hoffnung. Aber sie fragen sich auch, ob diese neuen politischen Führer nicht, wie Saddam Hussein, die Macht zu verführerisch finden werden, um sie kampflos wieder abzugeben. Denn in all den langen Reden, die bei der Vereidigung der neuen Regierung gehalten wurden, erklärte nicht einer dieser von den USA berufenen Politiker den Irakern, dass die neue Souveränität beim Volk liegt. Dass also wahre Demokratie das Recht bedeutet, diese neuen Führer auch wieder abzusetzen.

Als Beobachter fragt man sich auch, ob die US-Amerikaner – in ihrer verbarrikadierten Grünen Zone im Zentrum von Bagdad – überhaupt mitbekommen, wie unbeliebt sie geworden sind. Für jeden irakischen Politiker kann schon ein beiläufig geäußertes Wohlwollen aus dem Mund von Paul Bremer den Todeskuss bedeuten. Sollte Allawi einen solchen – äußerst wahrscheinlichen – Anschlag überleben, wird er noch mehr Glück brauchen, um das Urteil seines Volkes zu überstehen.

In der zweitgrößten irakischen Stadt, Basra, im schiitischen Kernland, und in den heiligen Städten Nadschaf und Kerbela, wo die Schiiten ihre Toten begraben, hört man die fast einhellige Meinung: „Als die Amerikaner hier ankamen, um Saddam niederzuwerfen, haben wir sie willkommen geheißen, aber jetzt haben sie zu viele Fehler gemacht.“ Mein Fahrer Sadq, der 1991 am Aufstand gegen Saddam beteiligt war, erzählte mir, dass er im Bagdader Stadtteil Sadr City US-Panzer gesehen hat, die über geparkte Autos und Verkaufsstände hinwegfuhren. Aber das konnte ihm nicht imponieren. Solche Aktionen sind für ihn eher ein Zeichen von Feigheit. Die meisten Schiiten hassen die extremistische Minderheit um Muktadar al-Sadr, der den Amerikanern im April den Krieg erklärt hat, aber ebenso empört sind sie über die plumpe Reaktion der US-Truppen, und ebenso viel Wut empfinden sie über die blutige Belagerung der sunnitischen Hochburg Falludscha, obwohl deren Bewohner nicht ihre Glaubensgenossen sind.

Sadq hat einen guten Freund namens Chalid, der als Übersetzer für die italienischen Truppen arbeitet, die seine Heimatstadt Nassirija kontrollieren. Dieser Chalid hält die Italiener für gute Menschen, auch wenn sie die komplizierten kulturellen und politischen Verhältnisse ihrer Besatzungszone offensichtlich nicht begriffen haben. Aber dann war plötzlich Schluss mit dem guten Willen. Als die Mahdi-Armee, die Miliz von al-Sadr, einen Aufstand begann und die Kasernen der Italiener und der übrigen Koalitionstruppen belagerte, waren die meisten Menschen in Nassirija empört darüber. Aber sie regten sich auch über die italienischen Truppen auf, als diese US-Luftunterstützung anforderten. Die bestand aus einem langsam fliegenden Bomber vom Typ A-130 Spectre, der die ganze Gegend mit schwerem Maschinengewehrfeuer eindeckte. Das Mittel wirkte, die Mahdi-Armee wurde zurückgeschlagen. Dabei starben auch Zivilisten. Zum Beispiel ein weiterer enger Freund von Sadq, der Taxifahrer Achmed. Er fuhr ein paar Gemüsehändler am frühen Morgen zu ihren Marktständen, als die Spectre das Feuer eröffnete und ihn tödlich erwischte. Inmitten dieses verworrenen Geflechts von Loyalitäten setzt das US-Militär allein auf die Sprache des Krieges. Sein Pressesprecher, Brigadegeneral Mark Kimmitt, redet bei den täglichen Pressekonferenzen der Koalitionstruppen über die täglichen Operationen, die darauf angelegt sind, „den Feind zu töten oder gefangen zu nehmen“. Anfangs trug dieser Feind immer die Bezeichnung „Anhänger des früheren Regimes“ oder „ausländischer Terrorist“. Später, als vollends klar wurde, dass die Baathisten längst abgetaucht waren und niemand mehr für Saddam kämpfte, bekam der Feind den Namen „Antikoalitionskräfte“ verpasst. Heute heißen die Schurken in der Regel „antiirakische Kräfte“.

Doch auf einer der Pressekonferenzen hakte ein irakischer Journalist bei Kimmitt nach: „Sie sprechen dauernd von dem Feind. Aber ich frage mich, wer dieser Feind eigentlich ist. Die Menschen, die Sie töten, sind Iraker, meine Landsleute. Heißt das demnach, dass ich auch Ihr Feind bin?“ Kimmitt redete sich auf einen Übersetzungsfehler hinaus. Er werde die Übersetzer bitten, ein besseres arabisches Wort zu finden, das vielleicht den Begriff Feind angemessener wiedergebe.

Was bedeuten für die Iraker, in diesem Sumpf allgemeinen Misstrauens, die Geschichten und die Bilder von den Misshandlungen und Folterungen im Abu-Ghraib-Gefängnis? Die Antwort dürfte sein, dass sie darin nur eine Missetat unter vielen anderen sehen, wenn auch wohl die schlimmste. Für den US-Sprecher dagegen – und für die, die sich von ihm desinformieren lassen – ist der ganze Skandal nur ein Fehltritt. Oder ein dunkler Punkt in einer ansonsten tadellosen Bilanz.

Was sich hier zeigt, ist aber eine echte kulturelle Differenz. In der US-amerikanischen Gesellschaft spielen die Medien eine viel wichtigere Rolle. Die Wahrnehmung von Ereignissen außerhalb der USA wird nicht durch einen allmählichen Prozess der Bewusstwerdung gesteuert, sondern durch ganz bestimmte „Fototermine“: durch eine oder zwei gute Aufnahmen von „Schlüsselereignissen“, die nötig sind, um internationale Nachrichten in den USA auf die Titelblätter zu bringen. Man denke etwa an die Situation in Bosnien. Hier wurde Präsident Clinton nicht etwa durch die tagtäglichen kleinen Grausamkeiten zum Eingreifen gezwungen, sondern durch einen ganz bestimmten Fernsehbericht, der in furchtbarer Anschaulichkeit die Schrecken eines serbischen Mörserangriffs auf einen Marktplatz in Sarajevo zeigte.

Aber im Irak stehen die Dinge anders, weil die Gesellschaft eine ganz andere ist. Die Iraker haben ihre eigenen Gründe, der Besatzung zu misstrauen. Sie brauchen die Inspiration durch andere Informationen und Erfahrungen nicht, wie sie etwa von al-Dschasira übermittelt werden. Sie haben gelernt, den offiziellen Medien Saddam Husseins zu misstrauen. Da ist die Bereitschaft gering, sich mal eben von einem oder zwei Medienberichten zu Gewalttaten aufstacheln zu lassen. Die Iraker sehen die Misshandlungen der Amerikaner nicht als Fehltritt. Nach dem Verrat, den die Schiiten 1991 erlebt haben, als sie an die versprochene Befreiung glaubten, nach den jahrelangen Sanktionen, nach der jahrzehntelangen Unterstützung der USA für Israel werden diese Menschen keineswegs plötzlich vom Gefühl der Enttäuschung oder des Schmerzes gepackt.

Auch in dem Kaffeehaus in Basra, wo ich bei Sonnenuntergang und vor dem Hintergrund klackender Dominosteine den Auftritt von George Bush beobachte, wie er über den Fernsehsender al-Arabija dem irakischen Volk sein Bedauern über die Folterungen in Abu Ghraib übermittelt, gibt es kaum jemanden, der den Gefängnisskandal als solchen verurteilt, unabhängig von all den anderen Problemen. Haider Abid, ein 20-jähriger Dominospieler, erklärt mir, die US-Armee und die Briten hätten alle enttäuscht – aber nicht unbedingt wegen der Menschenrechtsverletzungen: „Sieh mal, wir sitzen hier und fürchten um unser Leben. Hier gibt es absolut keine Sicherheit. Hier kann jederzeit ein Auto auftauchen und uns in die Luft jagen. Und wir haben keine Jobs. Was redet er da mit uns über diese Gefangenen?“

Wenn man durch den heutigen Irak fährt, trifft man sehr viele US-Soldaten, die „mit Herz und Verstand“ ihr Bestes geben, um dem Land zu helfen und seinen Wiederaufbau voranzubringen. Auf der anderen Seite gibt es ebenso viele, die es schlicht zu anstrengend finden, sich ständig an die schwierigen Regeln eines Friedenseinsatzes zu halten, also höflich zu sein, auf Provokationen freundlich und ruhig zu reagieren und sich vertrauensbildende Maßnahmen auszudenken. Kollegen, die als „eingebettete“ Journalisten die US-Marineinfanterie bei ihrem Angriff auf Falludscha begleiten konnten, haben mir geschildert, wie erleichtert die Elitesoldaten wirkten, wenn sie das ganze Gerede vom Kampf um die „Köpfe und Herzen“ der Iraker vergessen durften und endlich zu einem richtigen Angriff auf einen eindeutigen Feind losgelassen wurden.

Diesen Marineinfanteristen hatte man vor ihrem Einsatz im Irak befohlen, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, denn das gelte bei der einheimische Bevölkerung als Zeichen männlicher Reife. Man hatte ihnen gesagt, sie müssten, wenn sie mit ihren gepanzerten Jeeps durch die Dörfer im sunnitischen Dreieck fahren, möglichst die ganze Zeit den Leuten am Straßenrand zuwinken. Aber das war alles vergessen, als man ihnen erzählte, dass es jetzt richtig losgehe: „Unsere Stimmung wurde schlagartig besser“, erzählt einer der Marineinfanteristen, „jetzt war endlich Schluss mit dieser Winkerei.“ Über Nacht hatten alle ihre Schnurrbärte abrasiert. Nicht einmal Saddam hatte Falludscha erobern können. „Aber wir werden etwas tun, was Saddam nicht geschafft hat“, meinte einer der US-Soldaten.

Doch dann wurde die Marineinfanterie von der politischen Führung zurückgepfiffen. Die Stadt wurde von einer „Falludscha-Brigade“ übernommen, in der viele der ehemaligen Mudschaheddin dienen, die zuvor gegen die Amerikaner gekämpft hatten. Keine ihrer Waffen wurde beschlagnahmt. Von den Männern, die vor laufender Kamera vier private US-Sicherheitsleute getötet und verstümmelt hatten, wurde keiner an die Besatzungsmacht ausgeliefert. Für die USA war es eine große Niederlage, und die Marineinfanteristen, die so blutige Verluste hatten, nahmen es mit Verbitterung zur Kenntnis.

Nach der vorgezogenen Übergabe der „Souveränität“ an die neue irakische Regierung stellt sich die Frage, welchen Beschränkungen die Militäroperationen der USA unterliegen. Ursprünglich wollten die US-Militärs die Revolte der Mehdi-Armee niederschlagen und auch den Terroristen im sunnitischen Dreieck das Handwerk legen, die Selbstmordautobomben nach Bagdad schicken, ihre Konvois in die Luft jagen und ihre befestigten Zonen mit Mörsergranaten angreifen. Aber die Vernunft hat gesiegt. Die Militärs sind jetzt damit beschäftigt, an mehreren Orten Waffenstillstandsabkommen mit dem Feind abzuschließen. Zugleich versuchen sie, sich wo immer möglich von der Konfrontationslinie zurückzuziehen und in ihre Sicherheitszonen zurückzurobben.

Denn wie immer die Vereinbarungen und genaueren Regelungen ausfallen, die nach der Regierungsübergabe gelten werden, die Realität wird anders aussehen. Die US-Truppen werden zwar unter eigenem Kommando bleiben, aber sie werden sich so verhalten, dass der politische Prozess nicht unglaubwürdig wird. Um den Eindruck zu erwecken, dass es so etwas wie Befreiung und Gründung einer irakischen Souveränität tatsächlich gibt, werden sie darauf verzichten, noch einmal so plumpe, taktisch ungeschickte Offensivaktionen zu unternehmen wie in Falludscha und Nadschaf. Die US-Kommandeure werden also merken, dass ihnen die Hände gebunden sind.

Auf der zivilen Ebene wird die Wachablösung noch tiefgreifendere Folgen haben als an der militärischen Front. Die irakischen Minister werden, obwohl sie letztlich alle von den USA ernannt wurden, die volle Verantwortung übernehmen. Zwar wird Washington versuchen, seinen Einfluss über die Kontrolle der Hilfsgelder auszuüben, zu denen auch die 18 Milliarden Dollar gehören, die sie für den Wiederaufbau zugesagt haben. Aber ein Großteil dieser Gelder, die der Kongress unter strengen Auflagen bewilligt hat, wurde bereits verteilt und kann nicht mehr so leicht als politisches Instrument eingesetzt werden. Die Iraker werden also wirklich das Sagen haben.

Das lässt sich an einem kleinen Beispiel illustrieren: Die Stadt Nassirija liegt im Süden des Irak in der Provinz Dhi Qar, die rund 1,7 Millionen Einwohner hat. Nach dem Fall von Saddam engagierten sich in dieser Provinz zunächst einige Nichtregierungsorganisationen, und auch ein paar ausländische Unternehmen, die sich am Wiederaufbau der Provinz beteiligen wollten. Heute, nach Monaten der Unsicherheit, gibt es in der ganzen Provinz gerade noch acht zivile ausländische Helfer, die alle für die Provisorische Koalitionsregierung gearbeitet haben. All diese Leute werden aber spätestens Ende Juni abgereist sein. Die Provinz wird voll unter irakische Kontrolle kommen. Man mag diese „Machtübergabe“ noch so verspotten oder kritisieren, aber sie wird tatsächlich über die Bühne gehen.

Die Iraker werden also abwarten, wie die neue Regierung ihre Hausaufgaben bewältigt. Doch die meisten von ihnen sehen heute noch so viele Unwägbarkeiten, dass ihnen unklar ist, ob sich die Lage zum Besseren oder zum Schlechteren wenden wird. Die negative Folge ist allerdings, dass ein riesiges Machtvakuum entstehen wird. Die irakischen Sicherheitskräfte haben sich stets aufs Neue als unfähig erwiesen, dem bewaffneten Widerstand in seinen vielen Varianten entgegenzutreten oder gar ein Ende zu bereiten – von den kriminellen Banden ganz zu schweigen. Die Politiker, die jetzt den Irak regieren, sind ebenfalls extrem unbeliebt. Sie wurden von den Vereinigten Staaten ernannt, sind zumeist ehemalige Exilanten und verfügen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum über Rückhalt in der Bevölkerung oder einen festen Kreis von Anhängern. Die neue Regierung wird Mühe haben, sich ein Minimum an öffentlicher Sympathie zu erhalten. Mit steigenden Sommertemperaturen und je länger der Strom ausfällt und die Benzinknappheit anhält ist mit steigender Unzufriedenheit und gewaltsamen Unruhen zu rechnen, die leicht außer Kontrolle geraten können.

Andererseits kann man auch – wenn die USA sensibel und vernünftig agieren – eine positive Entwicklung erwarten: Der Widerstand wird zunehmend Schwierigkeiten haben, einen Feind auszumachen, der sich als Angriffsziel anbietet. In dem Maße, in dem die „Besatzung“ unsichtbar wird, können sich die Aufständischen nicht mehr ohne weiteres als „Widerstand“ etikettieren.

Schließlich gibt es auch die Hoffnung, dass die Iraker, insoweit sie Verantwortung für die Entscheidungen in ihrem Lande übernehmen, ihre eigenen Lösungen für die vielfältigen Probleme finden werden. Bislang war es einfach, den Besatzern alles anzuhängen, was irgend schief geht, und sich selbst um die notwendigen Maßnahmen zu drücken. In Zukunft wird man vielleicht manche Probleme mit Methoden lösen, die ziemlich orientalisch anmuten, aber vielleicht doch funktionieren. Zum Beispiel könnte man die Stämme, die auf den durch ihr Gebiet führenden Landstraßen die Autos ausrauben, mit Geldzahlungen dazu bewegen, diese Wegelagerei einzustellen.

In den kommenden Monaten werden viele Menschen, die das nötige Geld und Zugang zu Visa haben, ins Ausland gehen, um der sommerlichen Hitze wie der fürchterlichen Unsicherheit zu entkommen. Den übrigen Irakern wird nichts anderes übrig bleiben, als zu hoffen und zu beten. Sie werden dafür beten, dass die neue politische Führung wie durch ein Wunder die Kraft aufbringen wird, die nötig sein wird, um das Land zusammenzuhalten. Aber die Iraker hoffen, dass auch die Vereinigten Staaten zu einer neuen Weisheit finden und keine weiteren Fehler mehr machen, die das Land in noch blutigere Konflikte stürzen könnten. Was diesen Wunsch betrifft, stehen die Zeichen allerdings nicht besonders günstig.

deutsch von Niels Kadritzke

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Journalist in Bagdad.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2004, von STEPHEN GREY