11.06.2004

Kerry bleibt in Deckung

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Kerry bleibt in Deckung

Von ANDREA BÖHM *

ES kommt darauf an, wo man hinschaut. Ob auf das beschämte, wütende „This is not our“-Amerika, auf das ungläubig verschreckte „Oh my God“-Amerika oder auf das trotzig chauvinistische „So what?“-Amerika. Es sind drei verschiedene Welten. Sie überschneiden sich an den Rändern – und die Größe der Schnittmengen könnte die Wahlen entscheiden.

In der Welt des „This is not our“-Amerika entschuldigt sich die New York Times für die Kritiklosigkeit, mit der einige ihrer Reporter vor und zu Beginn des Irakkriegs „Informationen“ der Bush-Regierung aufgesessen sind. Im „This is not our“-Amerika wettert Al Gore mit einer Leidenschaft, die er vor vier Jahren leider vermissen ließ, gegen die „Schande“, die die Bush-Regierung über die USA gebracht habe. In diesem Amerika öffnen sich Konservative wie Linke, Kriegsgegner wie Kriegsbefürworter einer schonungslosen Diskussion über die Arroganz der (Super-)Macht und die Folgen. Es ist nicht die Mehrheit, aber auch keine kleine Minderheit – und sie könnte derzeit dringend Dialogpartner auf der anderen Seite des Atlantiks gebrauchen, die mehr tun als nur auf die moralische Überlegenheit Europas pochen.

Das „Oh my God“-Amerika ist schwerer zu fassen – wahrscheinlich ist es die große schwankende Mitte. Doris Lessing schreibt in ihrem Essay „What We Think of America“ (Granta No. 77), die USA seien gegen eine Idee oder Massenemotion so wenig resistent wie ein isoliertes Inselvölkchen gegen eingeschleppte Masern. Das war negativ gemeint, man kann es aber auch positiv wenden: Wann immer ein Präsident das freiheitliche Sendungsbewusstsein anheizt, entwickelt das Land ein euphorisches Fieber, steigt das Verlangen nach idealistischem Heroismus. Am eindrucksvollsten hat das Franklin D. Roosevelt im Zweiten Weltkrieg demonstriert. Saddam Hussein zu entwaffnen und den Irak zu demokratisieren war eine Idee, die in diesem Amerika auf Beifall stieß.

Ein Yale-Student namens Joshua Foer hat die anfängliche Euphorie in einem Gastkommentar der New York Times beschrieben: „Mein Jahrgang ist in einer Zeit aufgewachsen, als es leicht war, an den Staat und das Gute seiner Absichten zu glauben. Weder Vietnam noch Watergate, nicht einmal der Iran-Contra-Skandal haben uns politisch geprägt. Meine Generation verstand unter Machtmissbrauch Sexaffären im Weißen Haus, nicht neue militärstrategische Doktrinen.“ Für Foer und seine Kommilitonen waren die Folterbilder von Abu Ghraib das „Oh my God“-Erlebnis. Für sie sind die Lügen über irakische ABC-Waffen und die täglichen Nachrichten über Terroranschläge im Irak die Lektion, „die unsere Eltern (durch Vietnam) gelernt haben.“

Blenden wir über auf das „So what?“-Amerika. Hier schimpft der Radiomoderator Rush Limbaugh, dem immerhin 20 Millionen Menschen zuhören, über den „so genannten Skandal von Abu Ghraib“, wo irakischen Gefangenen nichts Schlimmeres widerfahren sei, als man beim Aufnahmeritual in eine amerikanische Burschenschaft ertragen müsse. Im „So what?“-Amerika schüttelt Verteidigungsminister Rumsfeld Rücktrittsforderungen ab und erklärt sich zum „survivor“, zum „Überlebenden“ einer Hetzkampagne. Im „So what?“-Amerika feierte vor ein paar Wochen die „American Conservative Union“ (ACU) ihren 40. Geburtstag mit einem rauschenden Fest in Washington, über das in der New York Times eine Reportage erschien. Auf den Krawatten der Herren waren die zehn Gebote abgedruckt, die Damen trugen rot-weiß-blaue Handtaschen, und die versammelten Gäste applaudierten begeistert, als dem anwesenden George W. Bush „vier weitere Jahre“ versprochen wurden: eine zweite Amtszeit im Krieg gegen Terrorismus, Bundessteuer und Homosexuellenehe. Ein Bush-Sieg hängt allerdings nicht von den Stimmen des „So what?“-Amerika ab, sondern davon, wie sich die Joshua Foers des Landes entscheiden – die Wählergruppen also, die nicht unbedingt ernüchtert sind, sich aber tief besorgt fragen, ob der Irakfeldzug dereinst unter der Rubrik „gutes“ oder „hässliches“ Amerika in den Geschichtsbüchern stehen wird.

Auch die Demokraten, die noch vor ein paar Monaten dieses Präsidentschaftsrennen mit innenpolitischen Themen bestreiten wollten, haben inzwischen begriffen, dass die Monate bis zum 2. November vom Narrativ der amerikanischen Kriege bestimmt sein werden. Dazu gehören die Einweihung des Denkmals für die Soldaten des Zweiten Weltkriegs und der Versuch der Bush-Regierung, deren unangefochtenen Heldenstatus für den Irakkrieg zu nutzen. Dazu gehört die Mythenbildung um prominente Heldenopfer wie den ehemaligen Profi-Footballspieler Pat Tillman, der unmittelbar nach dem 11. September 2001 in eine Eliteeinheit des Heeres eintrat und vor wenigen Wochen in Afghanistan fiel – durch friendly fire, wie man inzwischen weiß. Dazu gehören auch die Schatten von Vietnam und der Fotos aus Abu Ghraib.

Was ist in diesen Zeiten ein guter Krieg? Und wer ist ein guter, moralisch integrer Kriegsherr? Diese beiden Fragen werden den Wahlkampf prägen. Also fragt man sich spätestens jetzt: Wo bleibt eigentlich John Kerrys großer Auftritt? Im Gegensatz zu George W. Bush bietet sein Lebenslauf alles, was ein verunsichertes Land sucht: Er hat in Vietnam seine Bereitschaft zum Töten gezeigt, sein Leben riskiert, das anderer gerettet – und er hat Orden und Zeugen, um all dies zu beweisen. Das müsste selbst Anhängern des „So what?“-Amerika imponieren.

Andererseits verwandelten ihn die traumatischen Erlebnisse nach seiner Heimkehr in einen Kriegsgegner. Das wiederum müsste ihn bei allen populär machen, die über den Verlauf des Irakkriegs entsetzt oder zumindest verunsichert sind. Aber genau hier liegt ein Problem. John Kerry war nicht irgendein Kriegsgegner, sondern einer der eloquentesten und schonungslosesten. Am 18. April 1971 hatte er in einem Interview mit dem Fernsehsender NBC sich selbst und seine Kameraden der Gräueltaten bezichtigt, weil sie auf Zivilisten geschossen, Dörfer niedergebrannt und Search-and-destroy-Missionen durchgeführt hatten. „All dies verstößt gegen internationale Gesetze zur Kriegsführung“, sagte der junge Kerry damals. „Und all dies wurde befohlen auf Grundlage einer schriftlich fixierten Strategie der Regierung der Vereinigten Staaten. Ich halte die Männer, die für diese Politik verantwortlich zeichnen, für Kriegsverbrecher.“

Man muss weder ein Genie der politischen Psychologie noch ein professioneller Wahlkampfstratege sein, um sich auszurechnen, wie gern John Kerry die Aufzeichnungen dieses Gesprächs löschen würde. Nicht, weil er nicht mehr hinter dem stünde, was er vor 33 Jahren gesagt hat, sondern weil dieses Interview als Wahlkampfmunition der Republikaner eine enorme Brisanz entwickeln könnte. Die lassen auch schon erkennen, dass sie diesen Trumpf aus dem Ärmel ziehen werden, sollte Kerry moralisches Kapital aus dem Irakdebakel zu schlagen versuchen. „Sehr verstörend“, diktierte die Bush-Beraterin Karen Hughes der Presse, seien solche Äußerungen aus dem Munde eines jungen Mannes, der damals schon an seine Karriere gedacht habe. „Liebe Landsleute“, will Hughes damit sagen, „wollt ihr einen Präsidenten, der die Ehre des Landes und der Armee verteidigt, oder einen Präsidenten, der seine Kameraden schon einmal der Gräueltaten und seine Regierung der Kriegsverbrechen bezichtigt hat?“

Nicht ausschließlich, aber auch deshalb wirkt Kerry, der Kriegsheld und Kriegsgeschädigte, derzeit wie ein Kandidat mit angezogener Handbremse; wie jemand, der seinen Patriotismus immer wieder beweisen muss. Er hat sein Wahlkampfflugzeug in „Freedom Jet“ umbenannt – nach den US-Truppentransportern in Vietnam. Er umgibt sich, wo immer er auftritt, mit Kriegsveteranen. Sie sind die wichtigsten Symbolfiguren in diesem Wahlkampf, eine Art Prätorianergarde im Kampf gegen einen amtierenden „Kriegspräsidenten“.

All das bedeutet noch keine Vorentscheidung für die Wahlen im November. Aber es ist ein Indiz dafür, dass diese Wahlen im Falle eines Machtwechsels nicht von John Kerry gewonnen, sondern von George W. Bush verloren werden. Darauf deutet nach wie vor vieles hin. Die Frage ist nur: Wie viel Spielraum würde ein Präsident John Kerry haben? Außenpolitisch müsste er in die Zwangsjacke schlüpfen, die sein Vorgänger für ihn bereit hielte. Kein Amtsnachfolger, schon gar kein Demokrat, könnte es sich politisch leisten, den messianischen, unbegrenzten und inzwischen völlig verfahrenen Krieg gegen den Terrorismus auf eine internationale Polizeiaktion herunterzustufen – schon gar nicht nach einem neuen Terroranschlag. Innenpolitisch würde ihn nach vier Jahren „Shock and awe“-Politik im Haushalts-, Erziehungs- und Sozialbereich eine Herkulesarbeit erwarten. Und im Gegensatz zur politischen Rechten, die sich in den letzten vierzig Jahren mit harter Arbeit und einer langfristigen Strategie ein Netzwerk von Thinktanks, Medien und Basisorganisationen – kurzum: eine kohärente Bewegung – aufgebaut hat, ist die Linke über den Slogan „This is not our America“ noch nicht hinaus. Kein Wunder, dass das „So what?“-Amerika bis auf weiteres rauschende Partys feiert.

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Andrea Böhm lebt als freie Journalistin in New York. Ihr Buch „Die Amerikaner – Reise durch ein unbekanntes Imperium“ erscheint im August im Herder-Verlag.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2004, von ANDREA BÖHM