09.07.2004

Der überraschte Augenblick

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Der überraschte Augenblick

„Alles ist so flüchtig. Ich kann doch nicht sagen: Wiederholen Sie das Lächeln von vorhin“ – mit diesen Worten beschrieb der Fotograf Henri Cartier-Bresson die Herausforderung seines Berufs. Derzeit ist in Berlin eine große Retrospektive des des Werks dieses 95jährigen zu sehen.

Von HANNS ZISCHLER *

Alle Künste beruhen auf der Anwesenheit des Menschen, nur die Fotografie zieht einen Vorteil aus seiner Abwesenheit.“ (André Bazin)

Der Betrachter erstarrt. Das Bild, das förmlich auf ihn zurückblickt, ist bezwingend. Eine Fotografie, in der ein „interpretationsfähiges Bilderrätsel“ (J.-M. Schaeffer) verborgen ist. Das Bild hat den nüchternen Titel „Die Berliner Mauer, im Westen, 1962“. Die strenge, durch das scheußliche Bauwerk vorgegebene und vom Autor noch betonte Fluchtlinie der Perspektive verriegelt den Blick, doch die spielenden Kinder vor und an der Mauer bringen das Bild aus dem Lot. Als bedürfe es nur noch eines kleinen Rucks, hangelt sich ein sommerlich gekleidetes Mädchen beschwingt an der Mauer hoch – und wir sehen förmlich, dass die Mauer im nächsten Augenblick wackeln und kippen könnte. Einfach so, ist ja aus Pappmaché. Und genau diese wie inszenierte Leichtigkeit, die Überlistung des Realen durch das erhaschte Spiel lässt die Unverrückbarkeit des Bauwerks schmerzhaft deutlich werden.

Unzählige Male ist diese (gewesene und aus dem Gedächtnis in die Fotografie gewanderte) Berliner Mauer wie ein überdimensionaler Raumteiler aufgenommen worden, bis zur strukturellen Erblindung des Betrachters. Und die ins Bild gerückte Anklage erschöpfte sich häufig in der gut gemeinten Absicht des Fotografen, ohne den Betrachter überhaupt noch zu erreichen.

Hier aber, in Cartier-Bressons Aufnahme, erfahren wir etwas Neues – nicht nur über die Bezwingbarkeit bzw. die Lächerlichkeit eines Bauwerks, sondern auch über sein Metier, das Metier des Landvermessers, des Geometers, der uns dieses Bild als Ergebnis seiner Arbeit übermittelt hat. Von seiner Arbeit sehen wir tatsächlich nur dieses eine Bild. Der entscheidende Prozess des Sichtens und Auswählens – Cartier-Bresson schießt sehr viele Bilder, um zu dem einen zu gelangen, das wir heute sehen – bleibt uns verborgen. Doch enthüllt sich uns in einem Bild wie diesem und vielen anderen die Klarheit und Komplexität seines geometrischen Blicks, der ihn befähigt – „by single observation“, wie sein Kollege Elliott Erwitt mit nicht zu überbietendem Understatement festgestellt hat – die Raumtotale des Bildes mit der Erzähltotale des Geschehens zu legieren.

Doch ist es nicht der förmlich „ausgelotete“, mit spannungsreichen Elementen durchsetzte Raum allein, der den Blick des poetischen Geometers verrät, es ist auch die Präsenz von etwas im Bild selbst Abwesendem, das hier offenbar wird. „Man spürt, ja man ,sieht‘ die Stimmung, in der er sich befindet“ – auf diese Formel hat es der amerikanische Kurator Seumas Coutts gebracht. Henri Cartier-Bressons viel beschworene „Geometrie“ wäre demnach das (malerische) Vermögen, den Raum in einem sehr raschen Prozess der Bildentscheidung so zu organisieren, als wäre er eine Bühne, ein Tableau, das sowohl den Gegebenheiten der Erzählung als auch der Übertragung seines psychischen Impulses in das Bild gerecht wird.

Wie rasch, vielfältig und aufgeregt dieser Entscheidungs- oder besser Findungsprozess abläuft, hat der junge Truman Capote Ende der Vierzigerjahre mit inbrünstiger Bewunderung registriert: „Ich erinnere mich, Bresson einmal bei der Arbeit auf einer Straße in New Orleans beobachtet zu haben – auf dem Gehsteig herumtanzend wie eine aufgeregte Libelle, drei Leicas am Hals baumelnd, die vierte vors Auge geklemmt: klick, klick, klick (die Kamera scheint geradezu ein Teil seines Körpers zu sein), herumknipsend mit einer freudigen Intensität, einer religiösen Versenkung. Bresson, nervös und fröhlich und engagiert, ein künstlerischer Einzelgänger, fast ein Fanatiker.“

Die optischen Geräte dieses Geometers werden als zusätzliche (Insekten-)Augen wahrgenommen – und mit der Vervielfältigung der Blicke gelingt es ihm, jenen unabdingbaren Überschuss an Bildern herzustellen, aus dem das eine Bild hervorgehen wird.

Er ist aber auch, wie die Biologen sagen – das Bild der Libelle lädt zu weiteren Assoziationen ein –, ein Lauerjäger, der kraft einer ausharrenden und jederzeit abrufbaren Geistesgegenwart den richtigen Moment für die „Augenblicksaufnahme“ (Kafka) kennt.

Was Victor Hugo zum Programm des Schriftstellers erhoben hatte mit dem –nicht von ihm selbst gewählten – Titel „Choses vues“, wiederholt und radikalisiert Cartier-Bresson mit seiner Fotografie. „Alles, was ich nicht in Worte fassen kann“, antwortet er auf die Frage einer New Yorker Journalistin, was er mit seiner Kamera entdecke. „Wenn ich es könnte, wäre ich Schriftsteller.“

Doch sind es auch die Umstände der Zeit selbst, die seinen Blick radikalisieren. Als ihm nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1943 endlich die Flucht und der Anschluss an die Résistance gelingt, versammelt seine Fotografie auf einzigartige Weise die Erfahrungen des am Porträt geschulten Blicks und das Lasso seiner Geometrie, um in die Reportage zu münden. „Photographie engagée“ könnte man nennen, was so entsteht und schließlich mit der Gründung der Fotoagentur Magnum ab 1947 seine institutionelle Form findet.

Von nun an bereist er immer wieder Amerika – und die Bilder des von ihm verehrten Walker Evans begleiten seinen Blick wie Botenstoffe. Ein Vierteljahrhundert später wird der erstaunliche, panoramische Bildband „America in Passing“ daraus hervorgehen.

Es ist das Dokument eines unverwechselbaren amerikanischen Pathos, das Cartier-Bresson hier wie einen Befund vorlegt. Vergleicht man es mit dem prähistorisierenden Blick des Technikfanatikers Ansel Adams auf eine vorgeblich menschenleere amerikanische Landschaft, tritt schlagartig die entscheidende Differenz zwischen diesen Fotografen hervor: Adams liefert Bilder, wie die Kamera sie „sieht“, unter Einsatz aller nur erdenklichen technischen Dispositive, Cartier-Bresson hingegen stellt Bilder her, wie das Auge sie sieht, mit gelegentlichen und gerade deshalb signifikanten Unschärfen und Schattierungen. Es ist ein Amerika, das von einem Amerikaner so nicht hätte wahrgenommen werden können.

Die Entscheidung für die engagierte Fotoreportage verdankt Henri Cartier-Bresson auch seinem Freund Robert Capa. „Man könnte dir das Etikett des kleinen, surrealistischen Fotografen zuweisen ... Du könntest darunter verloren gehen, gespreizt und manieriert werden. Geh deinen Weg weiter, aber bleib bei der Bezeichnung Fotojounalist, dann kannst du machen, was du willst. Das wird dir am meisten zusagen, und du wirst immer mit allem in Verbindung stehen, was auf der Welt passiert.“

Die Welt, zu der Cartier-Bresson ab 1947 Verbindung halten und deren Bilder er journalistisch überliefern wird, ist Indien, China und der gesamte südostasiatische Raum. Den mentalen und psychologischen Zugang erleichtert ihm seine Frau jener Jahre, die balinesische Tänzerin Ratna Mohini. Alle seine Bildreportagen, ob für Life, Paris-Match oder andere Magazine, hat er mit nüchternen Legenden versehen. Er will nicht, dass am anderen Ende der Welt Leute an Schreibtischen, die die Ereignisse nicht selbst gesehen haben, seine Bilder kommentieren.

Der Journalist Henri Cartier-Bresson hat einen strengen Autorenbegriff. „So ist es hier und jetzt“, sagen seine Bilder. Gewiss lassen sich die Bilder auch ohne die in den Magazinen gedruckten Bildlegenden betrachten und verstehen. Der zunehmenden, aber für die Wahrnehmung eher abträglichen Tendenz der Musealisierung dieses Oeuvres könnte jedoch ein wenig Einhalt geboten werden, wenn man den Kontext der Publikation, auch den von Typografie und Layout, stärker betonen würde. Die besondere Qualität der Fotografien von Cartier-Bresson ist darin zu erkennen, dass sie mit der markanten Typographie ein spannungsreiches Spiel eingehen; das Layout ist in der Lage, die Wirkung des Fotos zu potenzieren.

So verblüfft noch heute die Titelseite des New York Times Magazine vom 22. Januar 1950 – „Communist Challenge in Asia“, wo auf dem ohnehin bereits durch einen dunklen (vermutlich: roten) Stoffstern „verkanteten“ Bild die Stirn von Mao Zedong auf dem dahinter getragenen Plakatporträt mit dem blauen, amerikanischen Magazintitel zu einer surrealistisch anmutenden Collage montiert ist. Durch das Layout nämlich gelingt es, dem „interpretationsfähigen Bilderrätsel“, das die Fotos darstellen, eine weitere Schicht hinzuzufügen; das Bild wird in seiner Zeit lesbar und gibt uns die Möglichkeit, die Zeit selbst zu lesen.

Aus den Tagen des Umbruchs in China hat Cartier-Bresson eine dramatische, emblematische Beschreibung seiner Arbeit geliefert: „Ich kam mir vor wie auf einer Insel mitten in China. Die Menschen sind so lebhaft, und ich war so neugierig auf alles, dass es unvorstellbar schwierig für mich wurde, dieses Land zu fotografieren. Um gute Arbeit zu leisten, braucht ein Fotograf denselben Freiraum wie ein Ringrichter beim Boxkampf.“

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Autor und Schauspieler, lebt in Berlin. Autor von: „Kafka geht ins Kino“, Hamburg (Rowohlt) 1996, Herausgeber von „Lover! Briefe von Zelda und Scott Fitzgerald“, deutsch von Dora Winkler, München (dva) 2004.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2004, von HANNS ZISCHLER