Bush vor Damaskus
Im Zuge des Irakkriegs haben die USA auch Syrien mit Sanktionen belegt, die am 12. Mai dieses Jahres noch verschärft wurden. Diese Drohgebärde mag eher symbolisch gemeint sein, doch sie hat enormes politisches Gewicht.
Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *
ALS die USA in den Irak einmarschierten, ging die syrische Führung davon aus, dass der Krieg auch auf die Einkreisung Syriens, des Libanons und Palästinas ziele. Schon die von den Vereinigten Staaten geförderte militärische Allianz zwischen Israel und der Türkei hatte sie als Teil einer solchen Strategie wahrgenommen. Ein Jahr nach dem US-Einmarsch sieht man sich in Damaskus in dieser Einschätzung bestätigt. Dagegen verfolgen Präsident Assad und seine Regierung eine Politik, die einerseits jede offene Konfrontation vermeiden soll, zugleich aber die Unabhängigkeit des Landes entschlossen behaupten will.
Noch während des Irakkriegs geriet Syrien deutlich unter Druck. Am 28. März 2003 erklärte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, die irakische Armee erhalte Unterstützung aus Syrien und dem Iran. Kurz darauf erneuerte Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice die Vorwürfe exklusiv an die syrische Adresse. Am 3. Mai 2003 reiste dann Außenminister Colin Powell nach Damaskus, um die Position der USA darzulegen.
Seither hält die syrische Führung auch einen direkten Konflikt mit den USA für denkbar, worin sie eine reale Gefahr nicht nur für das eigene Land, sondern auch für die Region insgesamt sieht. Insgeheim traut man der US-Regierung zu, eine Krise heraufzubeschwören, die auf den Sturz des Baath-Regimes zielt, um in Damaskus eine kollaborationsbereite politische Führung zu installieren.
Als Beleg für diese Einschätzung führt Syrien an, dass Washington seit dem 11. September alle Staaten dem feindlichen Lager zurechnet, denen man die Unterstützung oder Duldung internationaler Terrororganisationen oder den Besitz bzw. das Streben nach Massenvernichtungswaffen unterstellt. Keineswegs zufällig steht Syrien immer noch auf der Liste der Terrorkomplizen und wird regelmäßig wegen seiner angeblichen Rüstungsprogramme kritisiert. Die syrische Führung sieht sich bedroht und versucht deshalb vor allem, jedes Risiko zu vermeiden.
Seit dem Ende der offiziellen Kampfhandlungen im Irak rechnete man in Damaskus damit, dass die USA, unter irgendeinem Vorwand, auch Syrien angreifen würden. Dabei sind die Syrer nicht die Einzigen, die in den US-Streitkräften nach ihrem schnellen Sieg über den Irak einen übermächtigen Gegner sehen. Bald wurde jedoch deutlich, dass die Truppenkontingente der USA im Nahen Osten mit den Aufgaben der Besetzung, Sicherung und Verwaltung des Irak ausgelastet waren und sich überdies gegen die ersten Widerstandsaktionen wehren mussten. Zwar waren für Syrien damit die Sanktionen und die Zuspitzung der Konfrontation mit den USA noch nicht abgewendet, aber die Führung hatte Zeit gewonnen, um auf die neue Lage zu reagieren.
Die Forderungen der USA bestanden im Wesentlichen aus vier Punkten: Syrien sollte erstens die Handlungsfreiheit der von Damaskus aus operierenden palästinensischen Organisationen beschneiden, die für die USA Terroristen sind. Zweitens sollte Syrien seine angebliche Unterstützung der libanesischen Hisbollah beenden, der man in Washington die Wiederaufnahme von Überfällen auf Israel zutraute. Drittens sollte Syrien nicht länger Saddam-treue Politiker und Gruppierungen aus dem Irak aufnehmen. Und viertens forderten die USA, Damaskus müsse alle Projekte zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen einstellen – sei es in eigenen Rüstungsfabriken oder durch den Kauf von Materialien aus dem Ausland.
Bei den ersten drei Forderungen sah die syrische Führung politischen Spielraum, ging es doch um allgemeine Probleme der Nahostregion. Doch die vierte Forderung schien inakzeptabel: Man war nicht bereit, sich von den USA den Rahmen und die Mittel der nationalen Verteidigung vorschreiben zu lassen.
Daraus folgten mehrere Entscheidungen. Den palästinensischen Organisationen in Damaskus wurde nahe gelegt, ihre Aktivitäten einzuschränken oder abzuziehen; die hochrangigen Iraker und ihre Angehörigen, die nach Syrien geflohen waren, wurden zur Abreise gedrängt. Die syrischen Truppen im Libanon wurden deutlich reduziert und in die Bekaa-Ebene verlegt, damit sie weder in eventuelle Militäraktionen der Hisbollah verwickelt noch der Einmischung in libanesische Machtkämpfe bezichtigt werden können. Zudem erklärte Präsident Baschir al-Assad, er werde sich in keiner Weise in die Politik einmischen, welche die Palästinensische Autonomiebehörde in ihren Verhandlungen mit Israel betreibt.
All diese symbolischen Gesten sollten natürlich für Entspannung im Verhältnis zu den USA sorgen. In Washington reagierte man nicht sofort, aber dann sehr deutlich. Zunächst ließ man wissen, der stellvertretende Außenminister John Bolton werde dem Kongress am 15. Juli 2003 belastendes Material über Syrien vorlegen. Zu diesem Auftritt kam es jedoch nicht, weil das Außenministerium eine solche Drohgebärde für übertrieben hielt.
Doch am 22. Juli konnte die New York Times unter Berufung auf anonyme Regierungsquellen diverse Einzelheiten über die angeblichen Programme Syriens zur Entwicklung biologischer und chemischer Waffen veröffentlichen. Darauf legte John Bolton doch noch seinen Bericht vor, in dem es dann hieß, Syrien diene nach wie vor als Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus. Zudem bedrohe Damaskus die Unabhängigkeit des Libanon und die Stabilität der Region, solange es seine Programme zur Entwicklung von Massenvernichtungswaffen nicht aufgebe. All dies waren Gründe, um Sanktionen zu verhängen. Am 11. November 2003 verabschiedete der Kongress ein Gesetz („Syria Accountability Act“), das den Präsidenten ermächtigte, Sanktionen gegen Syrien zu verhängen, wenn sich das Land als Bedrohung erweise.
In Damaskus zog man daraus den Schluss, in Washington gebe es in der Syrienpolitik zwei konkurrierende Fraktionen: Die eine suche ständig Anlässe, um das Baath-Regime in die Krise zu stürzen und durch drastische Sanktionen oder sogar militärischen Druck zu beseitigen. Die andere, bislang dominierende Fraktion wolle Syrien dagegen nur politisch isolieren, um zu verhindern, dass das Land die Entwicklungen in der Region (und die langfristig denkbaren politischen Regelungen) beeinflussen kann.
Die syrische Führung sah sich in ihrer Taktik zunächst bestätigt: Der befürchtete Militärschlag blieb aus, die vom US-Kongress verabschiedeten Sanktionen traten nicht in Kraft, und Damaskus konnte seine Außen- und Verteidigungspolitik nach wie vor selbst bestimmen. Kurzzeitig herrschte Optimismus – schon weil die USA im Irak inzwischen auf wachsenden Widerstand stießen und kaum daran interessiert waren, neue Fronten zu eröffnen. Tatsächlich wurden die Sanktionen noch zweimal ausgesetzt: Nach der Ermordung von Scheich Jassin am 22. März 2004, als ein Aufstand in der gesamten Region denkbar schien; und während der Kämpfe um Falludscha, als die US-Truppen in die Defensive gerieten und eine Ausweitung der Kämpfe drohte. Zwar erneuerte der Sprecher des US-Generalstabs im Irak den Vorwurf, der irakische Widerstand erhalte Unterstützung aus Syrien, doch insgesamt durfte das syrische Regime annehmen, in Washington habe sich die moderate Fraktion durchgesetzt, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern könnten sich also stabilisieren.
Aber dann kam alles anders. Im März 2004 verschärften sich die Konflikte in den syrischen Kurdengebieten nahe der irakischen Grenze. Obwohl es sich offensichtlich um lokale Auseinandersetzungen handelte, glaubte die syrische Führung an ein Komplott irakischer Kurden im Verein mit den USA oder unter Anleitung der US-Geheimdienste. Die bedeutende Rolle der Kurden im wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes war dem Regime seit jeher verdächtig. Und bei den gewaltsamen Demonstrationen war die syrische Flagge in Flammen aufgegangen.
US-Präsident George W. Bush nahm diese Entwicklung zum Anlass, einen Teil der Sanktionen gegen Syrien am 11. Mai 2004 in Kraft zu setzen (Exportverbot vieler Waren, Start- und Landeverbot für syrische Flugzeuge, Einfrieren der Finanzbeziehungen und einiger syrischer Vermögenstitel). Die Beschränkung des Flugverkehrs trifft Damaskus allerdings kaum, weil keine syrische Fluglinie Ziele in den USA anfliegt. Aber die Handelsbeziehungen und vor allem die Bankgeschäfte dürften schweren Schaden leiden, weil die große Gemeinschaft syrischer Emigranten in Nordamerika regelmäßig Geld in ihr Heimatland transferiert.
Mit aggressiveren Methoden versuchte Washington, die bestehenden Abkommen zwischen der Europäischen Union und Syrien zu hintertreiben. Nachdem bereits einzelne EU-Staaten (Großbritannien, Niederlande, Deutschland) interveniert hatten, erklärten am 25. Mai 2004 alle 25 Mitgliedsländer, die Verträge mit Syrien könnten nur dann in Kraft treten, wenn das Land den Verzicht auf die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen zusichere. In Damaskus war man sich einig, hinter dieser Initiative müsse Washington stecken. Schließlich hatte es eine solche Klausel noch in keinem Partnerschaftsabkommen gegeben, das die EU mit anderen Staaten geschlossen hatte. Man sah darin also eine ausdrücklich gegen Syrien gerichtete Maßnahme, die zugleich beweisen sollte, dass die USA ihre Bündnispartner jederzeit unter Druck setzen können.
Die syrische Führung muss seither davon ausgehen, dass jederzeit ein offener Konflikt mit Washington ausbrechen kann. Das schlimmste und zugleich wahrscheinlichste Szenario sieht so aus, dass die US-Angriffe auf Kerbela und Nadschaf die Schiiten in der Region – und vor allem im Iran – so sehr in Rage bringen, dass im Irak eine erneute Konfrontation zwischen US-Truppen und schiitischem Widerstand beginnt. In diesem Fall dürfte die libanesische Hisbollah – aus eigener Initiative oder auf Weisung aus Teheran – den palästinensischen Widerstand verstärkt unterstützen. Wie Israel dann reagieren würde, lässt sich leicht vorhersagen. Ministerpräsident Scharon hat sich bereits eindeutig geäußert: Er macht Syrien für alle Aktionen der Hisbollah verantwortlich und würde militärische Gegenschläge direkt gegen die syrischen Truppen im Libanon, vielleicht sogar gegen militärische und industrielle Anlagen in Syrien unternehmen. Darin besteht für Syrien die größte Gefahr im Fall einer ernsten Krise.
Es war bislang vor allem der irakische Widerstand, der die USA an größeren Aktionen gegen andere Staaten in der Region gehindert hat. In Damaskus ist man sich dessen wohl bewusst und weiß auch, dass man sich trotz aller Bemühungen um Konfliktvermeidung noch einige Zeit auf vermintem Terrain bewegt.
Die syrische Führung versucht, sich die politischen und militärischen Handlungsmöglichkeiten nicht beschneiden zu lassen. Solange Israel seine Massenvernichtungswaffen und zumal seine nuklearen Systeme weiter entwickeln kann, will Syrien seine Rüstungsprogramme, so dürftig sie in Wahrheit sein mögen, nicht aufgeben. Damit riskiert man neue Sanktionen oder gar Angriffspläne der USA. Doch das Baath-Regime kann sich dem Druck nicht beugen, ohne zugleich die Grundlagen seiner Macht zu gefährden: Seit Jahrzehnten ist die entschlossene Behauptung der nationalen Souveränität unverzichtbar, um sich bei der eigenen Bevölkerung wie im Ausland Respekt zu verschaffen.
Alle Zeichen von Schwäche würden vor allem im eigenen Land der seit langem unterdrückten, aber nie ganz eliminierten Opposition Auftrieb geben. Die aber kann sich heute fatalerweise auf den radikalen Islamismus stützen, der in der gesamten Region auf dem Vormarsch ist.
deutsch von Edgar Peinelt
* Journalist, Autor von „Dernier Empire“, Paris 1996.