Schwierigkeiten mit Brücken
Am 18. Juni erhielt der ungarische Schriftsteller Lászlò Darvasi gemeinsam mit seinem Übersetzer Heinrich Eisterer den zum zweiten Mal vergebenen Preis für osteuropäische Literatur „Brücke Berlin“. Die Idee, dass Literatur und deren Übersetzung eine Brücke sei zwischen Ländern, Sprachräumen und Kulturen, ist ebenso verbreitet wie nahe liegend. Dass diese Idee aber auch ebenso kurzschlüssig wie fragwürdig ist – damit beschäftigt sich Darvasis Dankesrede. Ein Bauwerk, so kann man seiner Rede entnehmen, das die eine Seite ohne jeden Umweg und ohne alle Umstände mit einer anderen Seite verbindet, könnte auch Nachteile haben. Dass Literatur nicht ohne Mühe, ohne Einfühlungsvermögen und Neugier und vor allem nicht ohne einen gewissen Zeitaufwand seitens des Lesers funktioniert, dass sie also selber eine Art Umweg ist – davon zeugen seine Bücher, insbesondere der großartige historisch-mythologische Roman „Die Legende von den Tränengauklern“, der vom Ungarn zur Zeit der Türkenkriege erzählt und für den der Brücke-Preis verliehen wurde.
Von LÁSZLÒ DARVASI *
MEINE Damen und Herren, Sie haben sicher schon von mir gehört. Ich heiße Charon, auch wenn ich anderswo Schneider, Szabó oder Weiss genannt werde. Dann muss man noch wissen, dass ich mit meiner Arbeit an einen Fluss namens Styx gebunden bin.
Mein Boot ist nicht sonderlich bequem, doch ich rudere es selbst, und dafür steht mir eine Kleinigkeit zu. Den Preis habe ich übrigens seit Jahrtausenden nicht erhöht. Ich unterhalte mich gern mit meinen Passagieren, jedenfalls wenn sie reden wollen; manche hüllen sich auch nur stumm in ihren Mantel und schweigen. Andere fragen nach einer Schwimmweste, doch normalerweise kann ich sie rasch davon überzeugen, dass solche Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr nötig sind.
Der Tod, sagen die Weisen, ist das wichtigste Ereignis der menschlichen Existenz. Das verstehe ich einfach nicht. Wie kann denn etwas das Wichtigste im Leben sein, das sich außerhalb seiner Grenzen befindet? Doch ich bin nicht weise, mein Verstand ist nicht raffiniert genug, um dazu etwas sagen zu können. Während meiner jahrtausendelangen Tätigkeit hat es mich oft verdrossen, dass die Bedeutung meiner Arbeit angefochten wurde und man mir vorwarf, zu langsam und zu umständlich zu sein. Schon wahr, zuweilen plagen mich schreckliche Rückenschmerzen, ich schreie auf, wenn der Schmerz mir ins Kreuz schießt, doch hätte ich mich nie wegen gesundheitlicher Probleme vom Dienst befreien lassen. Sogar am Tag meiner Hochzeit habe ich gearbeitet. Meine Frau allein weiß, wann ich zuletzt Urlaub gemacht habe.
Wohlgemerkt: Mit Brücken habe ich Schwierigkeiten. Die Brücken, die sich über meinen Fluss wölben, bringen mich um die Möglichkeit, meinen Passagieren den Weg zu erleichtern, sie zu trösten und zu beruhigen oder kurz entschlossen und gleichsam in eigener Verantwortung auf halbem Wege kehrtzumachen. Bestürzt und verwundert sieht der Passagier mich an, wenn er wieder am diesseitigen Ufer steht und ich ihm mit dem Ruder die Richtung weise und ihm bedeute, er solle zurückgehen, wieder dorthin, wo der silbrige Regen auf die Bäume, die Grashalme, auf die schwarze heimatliche Erde fällt, dorthin, wo man essen und Kinder zeugen und unruhig oder glücklich sein kann.
Zugegeben, einmal bin dafür bestraft worden, aber auch das habe ich überstanden.
Wie gesagt, mag ich Brücken nicht. Am Anfang tauchen diskrete Ingenieure auf; sie gehen mit professioneller Miene am Ufer auf und ab und führen diverse Berechnungen durch. Man sieht ihnen an, dass sie gebildete Leute aus gutem Hause sind. Dann kommen die einfachen Arbeiter, die in der Mittagspause von ihren Kindern erzählen und Familienfotos herumzeigen. Bald stehen schon die Brückenpfeiler, und um die dicken Betonfundamente strudelt der reißende Strom, als spürte er, dass das, was da vor sich geht, nicht in Ordnung ist. Ich werde verhöhnt und mit Steinen beworfen, sobald ich mein Boot festmache und mich am Ufer umsehe. Doch die Rohheit der Menschen bringt mich nicht aus der Ruhe. Ich weiß ja, dass mancher dieser groben Klötze am Ende doch in meinem Boot landet, und dann können wir über alles reden. Denn diejenigen, die ihr Talent und ihre Berufung, solche Brücken zu bauen, unter Beweis stellen, müssen ja irgendwann doch selbst ans andere Ufer, auf so einer Brücke, die sie womöglich selbst errichtet haben. Wie sehr sie sich dann nach meinem unbequemen Boot sehnen werden! Jetzt aber versetzen sie ihm Tritte. Oder stehlen das Ruder. Einmal wollten sie das Boot sogar konfiszieren.
Die Brückenbauer fallen über mich her, spucken mich an, schlagen mir ins Gesicht. Sie werfen mir vor, dass es meiner Arbeit an Präzision mangele, dass sie hinter das Tempo der Moderne zurückfalle und von der grandiosen Vision einer freien und demokratischen Welt weit entfernt sei. Auf ihrer Brücke könne man mehrere tausend Menschen hinüberführen, ganze feindliche oder für überflüssig erklärte Dörfer und Städte. Während man sich nicht darum kümmern muss, was sich in den Gesichtern jener abspielt, die hinübergehen, wie es um ihre Seele bestellt ist, mit welchen Gefühlen sie diesen Weg beschreiten, was sie darüber denken, dass sie an dieser erstaunlichen Geschichte, die wir das Leben nennen, teilnehmen durften. Die da oben auf den Brücken sprechen nicht. Eine graue, stumme Masse, ohne Gesicht und ohne Schicksal, ohne Sprache; alles ist in weite Ferne gerückt. Nur die Brücke, auf der sie zweifellos schnell vorankommen, ist noch da.
Nun, in meinem Boot spricht jeder anders von seinem Leben, die Bemerkungen sind häufig banal, manchmal freundlich, dann wieder völlig überraschend. Unlängst erkundigte sich ein Passagier nach meiner Frau, für die es eine schlimme Kränkung ist, dass man mich für einen verkommenen Tattergreis hält. Ach, wenn Sie wüssten, was alles zur Sprache kommt auf meinem Kahn, noch in den letzten Minuten! Weshalb denn bloß Hertha BSC in dieser Saison so schlecht abgeschnitten habe. Was ich über die neuesten Bücher von Günter Grass oder Dieter Bohlen denke. Ob ich Nina Hagen oder Katharina Witt hübscher finde.
Am Ende versinken die Passagiere in Schweigen und sind ganz bei sich. Es ist, als wüssten sie plötzlich alles, was sie immer schon hatten wissen wollen, und als verstünden sie alles, was sie immer schon hatten verstehen wollen. Denn jene, die in meinem lächerlichen Boot zum jenseitigen Ufer fahren, erkennen im letzten Licht ihrer irdischen Vernunft, dass ihnen ja nichts Wichtigeres widerfahren ist, als dass sie gekommen und wieder gegangen sind, dass sie sich gefreut und gegrämt haben über das blassblaue Ufer, das nun in immer weitere Ferne rückt.
Ich danke Ihnen für den Preis, mit dem Sie meinen Übersetzer und mich heute ehren – ganz unverdient, wie Sie nun wissen.
deutsch von Lászlò Kornitzer
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors
für Le Monde diplomatique, Berlin
* Lászlò Darvasi, 1962 in Törökszentmiklos (Türkensanktnikolaus) bei Budapest geboren, lebte bis 1989 in Szeged an der serbischen Grenze. Grundschullehrer. Danach Mitarbeiter einer Szegeder Tageszeitung, 1990 Gründungsmitglied der Literaturzeitschrift Pompeji und seit 1993 Redakteur bei Elet es Irodalom (Leben und Literatur). Unter dem Pseudonym Sziv Ernö (= Erwin Herz) Autor von Fußballreportagen und Feuilletons. Lászlò Darvasi lebt in Budapest.
Auf deutsch erhältlich: „Die Legende von den Tränengauklern“ (2001), aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer; „Eine Frau besorgen. Kriegsgeschichten“ (2003), aus dem Ungarischen von Terézia Mora und Agnes Relle; „Die Hundejäger von Loyang. Chinesische Geschichten“ (2003), aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Alle erschienen bei Suhrkamp, Frankfurt/Main.