09.07.2004

Gewalttäter

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Gewalttäter

SCHAUPLATZ Europa. Je nach Land gelten ein Viertel bis die Hälfte aller Frauen als Opfer von Misshandlungen. In der EU werden jährlich hunderte von Frauen umgebracht. Und das Täterprofil sieht oft ganz anders aus, als man erwarten würde.

Aus ideologischer Verblendung wird das mörderische Verhalten oft Personen mit geringer Bildung aus benachteiligten Schichten zugeschrieben. Nicht nur das Drama der Schauspielerin Marie Trintignant, die am 6. August 2003 von ihrem Lebensgefährten, einem bekannten Künstler, totgeschlagen wurde, verweist auf das Gegenteil. Tatsächlich heißt es in einem Bericht für den Europarat vom September 2002: „Die Häufigkeit häuslicher Gewalt scheint mit Einkommen und Bildungsniveau zuzunehmen.“

Unter häusliche Gewalt fallen für die Autorin des Berichts, die Europaabgeordnete Olga Keltosova aus der Slowakei, auch verbale Attacken, Demütigungen und Drohungen. In den Niederlanden „hat fast die Hälfte der Täter, die Gewalt gegen Frauen ausüben, einen Universitätsabschluss“. In Frankreich üben nach der Statistik des Gesundheitsministeriums viele Täter einen Beruf aus, der ihnen gewisse Machtbefugnisse einräumt. Stark vertreten sind leitende Angestellte (67 Prozent), Beschäftigte im Gesundheitsbereich (25 Prozent) sowie Polizei- und Armeeoffiziere.

Ebenso verbreitet ist die Ansicht, sexistische Gewalt sei in den „machistischen“ Ländern Süd- und Südosteuropas häufiger anzutreffen als in den nordeuropäischen Staaten. Auch hier gilt es genauer hinzusehen. Führend in puncto häuslicher Gewalt gegen Frauen ist in der Tat Rumänien; statistisch gesehen kommen hier von je einer Million Frauen alljährlich 12,62 durch die Hand ihrer männlichen Partner ums Leben. Unmittelbar hinter Rumänien rangieren auf dieser sinistren Rangliste jedoch Staaten, in denen die Rechte der Frauen formal am meisten respektiert werden, so etwa Finnland, wo von je einer Million Frauen 8,65 durch Täter aus dem Familienkreis umgebracht werden, gefolgt von Norwegen (6,58), Luxemburg (5,56), Dänemark (5,42) und Schweden (4,59). Italien, Spanien, Portugal und Irland stehen ganz am Ende der Liste.

Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites Problem, das in allen sozialen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Gruppen anzutreffen ist. Zwar mögen auch Frauen in ihren Beziehungen zu Männern gewalttätig werden, und es bedurfte gewiss nicht der Bilder aus dem irakischen Gefängnis von Abu Ghraib, um zu realisieren, dass es leider auch Folterknechte weiblichen Geschlechts gibt. Auch homosexuelle Beziehungen sind bestimmt nicht immer frei von Gewalt. Doch in den allermeisten Fällen sind die Opfer eben doch Frauen.

AUF Gewalt gegen Frauen machen feministische Organisationen die Regierenden seit langem aufmerksam. Auch auf dem Weltsozialforum 2002 in Porto Alegre wurde beim Aufruf zum „Weltmarsch der Frauen“ (www.marchemondiale.org) darauf hingewiesen, dass diese Art von Gewalt eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen darstellt. Gewalt gegen Frauen beschränkt sich nicht auf körperliche Übergriffe. Ebenso verbreitet – wenn auch nicht mit tödlichen Folgen – sind seelische Misshandlungen, Einschüchterungen, sexuelle Brutalität. Häufig gehen die verschiedenen Formen von Gewalt Hand und Hand.

Aufgrund der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen meist „zu Hause“ stattfindet, können die Regierenden ihre Hände noch stets in Unschuld waschen und von „Privatangelegenheiten“ sprechen. Diese Haltung erfüllt den kollektiven Tatbestand unterlassener Hilfeleistung und zeugt von skandalöser Heuchelei. Jeder weiß, das das Private auch politisch ist. Jeder weiß, dass diese Art von Gewalt historisch das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen widerspiegelt. Als Ausdruck des Patriarchats beruht es auf der Vorstellung einer „naturgegebenen Minderwertigkeit“ der Frau und „biologischen Vorrangstellung“ des Mannes.

Dieses System erzeugt Gewalt; es muss durch geeignete Gesetze abgeschafft werden. Machen wir einen Anfang. Ein erster Schritt wäre, wie es feministische Organisationen fordern, einen ständigen internationalen Gerichtshof zu gründen, der sich mit Gewaltanwendung gegen Frauen beschäftigt.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2004, von IGNACIO RAMONET