Jäger des verlorenen Schatzes
Die Konquistadoren von heute von Mathias Greffrath
Grau und rosa und lila und purpur gescheckt, von hunderten von Schächten zerrissen liegt er über der Stadt Potosí: der Cerro Rico, der „reiche Berg“. Ein halbes Jahrtausend lang haben sie das Silber aus ihm geholt, acht Millionen Indios sind dabei verreckt. Negersklaven und Esel haben in den Kellern der Casa de Moneda die Pressen angetrieben, ihre Spuren haben sich tief in die Steine gefressen. Um 1600 war die Stadt in 4 000 Meter Höhe größer als London, Madrid und Antwerpen, der Ruf ihres Reichtums ging um die Welt: Spanische Desperados und Granden bauten Dutzende von Palästen, Spielhöllen, Tanzsalons und Kirchen, an Festtagen riss man die Straßen auf und pflasterte sie mit Silberbarren, der Luxus der Burgunderherzöge war ein Dreck dagegen. Das Silber wurde nach Spanien geschifft, und die Krone bediente damit ihre Hypothekenschulden bei den Fuggers, den Welsers, den Sheetz und den Grimaldis.
In den ersten dreißig Jahren gelangte mehr Silber aus Potosí nach Spanien, als in ganz Europa zirkulierte. Es finanzierte die Vorschüsse für die Kriege der Gegenreformation, es zersetzte die Naturalwirtschaft des Feudalismus. Das Silber von Potosí war zusammen mit dem Gold aus Mexiko und Indonesien und den Schätzen Indiens das Startkapital des europäischen Kapitalismus, das Schmiermittel der ursprünglichen Akkumulation. Ein Vorschuss auf die Moderne, nie zurückbezahlt, erkauft mit acht Millionen Toten allein in Potosí – die gesamte Indiobevölkerung in Lateinamerika betrug vor der Eroberung hundertfünfzig Millionen, nach einem Jahrhundert waren es noch dreieinhalb. In Europa hörte man auf, Hexen zu verbrennen, und hängte stattdessen Landstreicher und Geldfälscher.
Potosí ist heute die einzige Stadt der Welt, wo jeder Dynamit kaufen kann. Zweitausend, dreitausend Tagelöhner und ihre Kinder kratzen die Reste an Zink und Silber aus dem durchlöcherten Berg, im Lokalteil stehen prominent die Notierungen der Londoner Edelmetallbörse, in guten Monaten verdienen die Mineros dreißig, vierzig Euro, und nach zwanzig Jahren sind sie kaputt, vom Malochen und von den Feiern mit 96-prozentigen Alkohol vor den grauseligen Statuen des Tio, des Bergsatans, dem man opfern muss und der ein Christenkreuz trägt und einen großen Phallus. In der Moneda hängt ein Bild des Berges aus dem 18. Jahrhundert, es zeigt die christliche Madonna als Berg mit ausgebreiteten Armen. Sie steht auf einer Mondsichel: Pachamama.
Mit dem Christentum kam die Angst, sagt Julio, der uns durch die Schächte und die Straßen führt, und dann liefert er uns an der Tür der Kathedrale ab. Die Angst: vor der apokalyptischen Trias aus Macht, Überheblichkeit und Gier. Barock, das ist Gegenreformation und Staaten gründende Gewalt und Gold. Viel Gold. Selbst die ockerfarbenen Außenwände der Bürgerhäuser nähern sich, soweit es die Farbskala erlaubt, dem Gold, und die Marmorfassaden sind neureich mit indianischen Einsprengseln.
Das Christentum, so sagte es der deutsche Papst kürzlich bei seinem Besuch in Lateinamerika, wurde den Indios nicht aufgezwungen, seine Ankunft im Gegenteil von ihnen heiß ersehnt. – Marxisten und Neomarxisten und Hegelianer und Kulturtheoretiker haben lang und tief und manchmal sehr tief über den Zusammenhang von Geist und Geld und Gott und Geld nachgedacht. Vieles davon ist plausibel. Aber ob nun das transzendentale Subjekt der Philosophen dem Warentausch entspringt oder der Monotheismus der Logik des Geldes verwandt ist; ob der Geist des Protestantismus den Kapitalismus oder dieser jenen hervorbrachte; oder ob es sich bei all dem um Parallelentwicklungen in Basis und Überbau handelt – darüber wird noch viel spekuliert werden, solange wir uns derlei Luxus leisten wollen. Aber wie dem auch immer sei: Der Gott, der unsere Sonderstellung begründet und zugleich aller Lebewesen und Gegenstände des Universums Schöpfer sein soll, der war nicht vereinbar mit auch noch dem mildesten Pantheismus. Der Naturstoff darf keine Seele haben – das zumindest haben Christentum und Kapitalismus gemeinsam.
Das Silber wächst nach, sagten die Indios – manche sagen es bis heute. Deshalb haben sie sich dagegen gewehrt, den Cerro Rico in einen Tagebau zu verwandeln – das hätte Schweiß und Menschenleben erspart. Jetzt entsteht, finanziert aus Idaho, ein gigantischer Tagebau neben dem Berg. Die Mineros sehen es mit Skepsis, nicht wegen des alten Glaubens, sondern weil dort nur 500 Menschen arbeiten werden.
Auch bei uns gibt es immer noch akademisch gebildete Menschen, die an nachwachsendes Silber glauben. Wie soll man sich sonst die erstaunliche Äußerung des Klaus Zumwinkel erklären, er habe nicht eingesehen, dass man einmal versteuertes Geld noch mal versteuern solle? Kann es sein, dass der Erbauer eines weltweiten Logistikkonzerns glaubt, der Schatz, den er nach Liechtenstein geschafft hat, vermehre sich dort von selbst – ohne die Leistungen von Arbeitern, ohne die Infrastrukturen, die gebaut und erneuert, ohne die Lehrer, die bezahlt werden müssen, in jedem neuen Wirtschaftszyklus; kann es sein, dass in ihm immer noch die Seele des Konquistadors schlummert, der einmal sein Leben eingesetzt hat und dann ein lebenslanges Recht auf den Schatz und seine Verwertung hat? Der Wohlstand der entwickelten Nationen beruht auf Arbeit, so schrieben es die Sozialdemokraten in ihr Gothaer Programm; und Marx erhob die Hand und sagte: „Nur halb richtig. Die Arbeit ist der Vater des Reichtums, und die Natur seine Mutter.“
Das Wachstum der kapitalistischen Welt beruhte auf dem modernen Banksystem, das vom Silber nicht geschaffen, sondern nur befeuert wurde; und auf den fossilen Energien. Bis etwa l830 waren die Zuwachsraten Europas vergleichbar mit denen anderer agrarischer Hochzivilisationen. Das wurde erst anders mit der explosiven Steigerung der Produktivkräfte durch die schwarzen Mineralien Kohle und Öl. Die Detonation war groß und weltweit und anhaltend bis heute, aber sie streute ungleichmäßig, und seit längerem produziert sie Fallout: zu viele Menschen, die nicht mehr gebraucht werden oder zu so kleinem Lohn, dass selbst die amerikanischen Arbeiter nicht mehr kaufen können, was ihre chinesischen Kollegen produzieren. Überakkumulation hieß das früher. Von zu viel Geld und zu viel CO2 in der Luft für den Fortbestand Venedigs und Bangladeschs im dritten Jahrtausend.
Der Cerro Rico liegt wieder in weiter Ferne. Die Berliner Verkehrsbetriebe müssen 80, vielleicht sogar 200 Millionen zahlen, weil sie 427 U- und 511 Straßenbahnwagen mit einem Cross-Boarder-Leasing-Vertrag erworben haben; im Gegenzug übernahm sie die Risikoabsicherung, einen Credit Default Swap, für ein Kreditportfolio des Finanzdienstleisters J. P. Morgan, zu dem auch eine Reihe von Collaterilized Debt Obligations, kurz „Schrottpapiere“ gehörten. Aufs Ganze der Krise gesehen, sind das Peanuts, aber der Preis der U-Bahn-Fahrt wird steigen. Jeden Tag stehen Entlassungsankündigungen in fünfstelliger Höhe in der Zeitung, und die Internationale Arbeitsorganisation prognostiziert 50 Millionen Arbeitslose. Die Notenbanken senken die Zinsen, aber das bringt nun die Lebensversicherungen in Probleme, die konservativ zu 80 Prozent in festverzinsliche Staatspapiere investiert haben. Griechenland und Spanien können schon bald ihre Schulden nicht mehr bedienen.
George Soros erklärt der Financial Times, wie es dazu kommen konnte: Das Geld ist reflexiv geworden. Das heißt im Resultat, vorerst: Subprime- und Prime-Hypotheken, kommerzielle Kredite, Kreditkartenschulden, Autokredite, Munizipalpapiere, Industriekredite, Investitionskredite und das ganze Alphabet der Derivate müssen abgeschrieben werden, und am Ende, so schreibt der Experte Roubini, auf den niemand hören wollte, kommt die Summe: 3,8 Billionen Dollar heraus, und 40 Prozent davon werden in Europa fällig. Was heißt das? Im Freitag erklärt Rudolf Hickel, das Beste wäre ein radikaler Befreiungsschlag: alle Schulden und Geldvermögen um die Hälfte abzuwerten, dann wären die Schulden der Banken halbiert, aber auch die Guthaben auf den Sparkonten. Wir bekommen die Inflation nicht mehr, wir hatten sie schon.
„Wir müssen alle wieder Marx lesen“, sagt ein Teilnehmer an der Akademie-Veranstaltung zum Thema „Wege aus der Krise“, und ein Schlaumeier widerspricht ihm: „Marx hatte keine Ahnung von CBOs und Hedgefonds und CDDs.“ Beide haben unrecht. Marx tönt heute aus dem Kanzleramt und aus Davos, und die technischen Einzelheiten vernebeln nur den Grundtatbestand. Aber eine lohnenswerte Aufgabe der Akademien des 21. Jahrhunderts, eine Aufgabe, die Marx sich noch nicht stellen konnte, bestünde darin, hinter die aktuelle Krise zurück und über sie hinaus zu denken. Denn die Geldkrise ist nur die glänzende Spitze des Eisbergs. Vor zwei Jahren wussten wir das schon. Damals postulierte die Klimakanzlerin Merkel, dass gegen Mitte des Jahrhunderts jeder Bürger der Erde dieselbe Menge CO2 ausstoßen solle. Das fand bei allen Denkenden Zustimmung, denn wer polemisiert schon gern gegen den kategorischen Imperativ.
Aber der Vorschlag heißt, und das hat Frau Merkel nicht dazu gesagt, vielleicht nicht einmal gedacht: die Produktivität der Volkswirtschaften dieser Welt muss sich ausgleichen und damit auch ihr Wachstum und damit ihr Wohlstand; aber was wird dann aus uns?
Die Frage an die Akademie lautet also: Was müssen wir tun, um dorthin zu kommen? Und was muss sich an der Volkswirtschaftslehre ändern, wenn sie statt Wachstum Schrumpfen denkt? Wie wäre es, fragt ein Kommentator in der New York Times, wenn wir alle in diesem Jahr zehn Prozent weniger ausgeben? Und dann beschließen, das auch im nächsten Jahr zu tun? Und im übernächsten? Und so weiter. Wäre das schlimm?
Die Rettung kommt, wie erwartet, vom Sozialismus. Zunächst vom staatssozialistischen Kapitalismus der Chinesen. Sie retten gerade die Weltwirtschaft vorm Zusammenbruch, lenken die 500 Milliarden Dollar, die sie eingenommen haben, weil sie den Amerikanern auf Pump ihre Industrieprodukte verkauft haben, in ihren Binnenmarkt. Sie geben Schecks aus, mit denen chinesische Bauern sich nun chinesische Mikrowellen, Farbfernseher, Mobiltelefone und Kühlschränke kaufen können. Den Rest des Geldes investieren sie in Straßenbau, Krankenhäuser und umweltfreundlichere Kohlekraftwerke. Der Staat steuert behutsam in eine temporäre und partielle Deglobalisierung. Das ist die eine Hälfte vom Beginn des Happy Ends, und, wenn es sehr happy wird, geht es sogar mit einer Entwicklung zur Demokratie einher.
Die andere Hälfte bestünde in einer ebenso gesteuerten Rückentwicklung der reichsten Ökonomien. Aber haben unsere Regierungen die Kraft, unseren Rückzug zu ordnen, den „sanften Tod des Rentners, des funktionslosen Investors“, wie Keynes schrieb, so zu begleiten, dass er nichts Plötzliches sein wird, sondern „eine allmähliche Entwicklung, die keine Revolution erfordern wird“? – Als der Kommunismus blutleer und ohne Blutvergießen zusammensank, pries Enzensberger die „Helden des Rückzugs“. Bei uns sind sie noch nicht in Sicht, aber wenn sie nicht schnell erscheinen, dann kommen die Masters of the Universe zurück. © Le Monde diplomatique, Berlin