15.08.2003

Arbeitsgruppe dot force

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Arbeitsgruppe dot force

NIEMAND wird bestreiten wollen, dass der Begriff der „Informationsgesellschaft“ einen neuen Zustand beschreibt, der die Organisation der Wirtschaft, die Relevanz von Wissen, die Alltagskultur und unsere Lebensweisen tief greifend verändert hat. Allerdings wurde die Informationsgesellschaft Wirklichkeit, ohne dass die Bürger je Gelegenheit gehabt hätten, ihr Recht auf eine öffentliche Diskussion, die diesen Namen verdient, auch tatsächlich wahrzunehmen. Die Kontroversen innerhalb der großen internationalen Organisationen über die „digitale Spaltung“ beispielsweise haben unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Im Dezember soll nun auf dem Genfer Weltgipfel zur Informationsgesellschaft das Versäumte nachgeholt werden. Von ARMAND MATTELART *

Der Begriff „Informationsgesellschaft“ geisterte bereits in den Siebzigerjahren durch die Planungen führender Industrieländer. Man suchte den Ausweg aus einer doppelten Krise: Das damalige Wachstumsmodell war an seine Grenzen gestoßen, sogar die „Regierbarkeit der westlichen Demokratien“ schien in Frage zu stehen.(1) Die Schockwelle, die 1984 von der Abwicklung der American Telegraph and Telephone (AT & T) ausging, gab den Anstoß zum Aufbau grenzüberschreitender Netze und markierte den Beginn der Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Telekommunikationsdienste. Das 1998 unterzeichnete WTO-Abkommen, das die Telekommunikationsmärkte für den Wettbewerb öffnete, brachte einen Konzentrationsprozess in Gang, der zur Verschmelzung von Netzbetreibern und Inhalteanbietern führte. Die Fusion von America OnLine (AOL) mit dem Mediengiganten Time-Warner im Januar 2000 wurde zum Symbol einer ganzen Epoche: „AOL everywhere, for everyone“.(2)

1995 hoben die in Brüssel tagenden Staats- und Regierungschefs der G 7-Gruppe in Anwesenheit von rund 40 Wirtschaftsexperten die „globale Informationsgesellschaft“ aus der Taufe. Vertreter der Zivilgesellschaft waren nicht geladen. Ein Jahr zuvor hatte Washington den Aufbau globaler Datenautobahnen angestoßen. Damit wurde im Weltmaßstab fortgeschrieben, was sich zu Hause „National Information Infrastructure“ nannte. Im Juli 2000 verabschiedeten die in Okinawa versammelten G 8 im Beisein von Konzernvertretern der IT-Branche die „Charta von Okinawa über die globale Informationsgesellschaft“ und beauftragten eine Expertengruppe namens „dot force“, Vorschläge zur Überbrückung des „Digital Divide“ zu erarbeiten. Noch auf dem G 7-Gipfel von Brüssel 1995 hatte man die Problematik der digitalen Kluft nicht einmal am Rande berührt. Zwischen diesen beiden Treffen der großen Wirtschaftsmächte war aber anlässlich des WTO-Gipfels in Seattle Ende 1999 eine weltweite Bewegung gegen die Globalisierung entstanden.

Bereits beim G 7-Treffen 1982 in Versailles, als von Datenautobahnen noch nicht die Rede war, hatte der damalige französische Staatspräsident François Mitterrand einen Bericht mit dem Titel „Technologie, Beschäftigung und Wachstum“ vorgelegt. Der verwies auf die Gefahr der gesellschaftlichen Segregation, die mit dem Fortschritt der neuen Technologien verbunden sei. Um dieser Gefahr „einer Welt von Inseln des Reichtums inmitten eines Meers von Elend“ gegenzusteuern, hatte Mitterrand eine „Internationale Charta der Kommunikation“ vorgeschlagen. Sie blieb toter Buchstabe.

Beim G 8-Gipfel in Genua im Juli 2001 legte die Arbeitsgruppe „dot force“ ihre Empfehlungen vor, wonach etwa das E-Government in den armen Ländern zu fördern sei, um „Demokratie und Rechtsstaat zu stärken“. Weitere Vorschläge betrafen den Ausbau des Internets, Initiativen im Bildungsbereich, die Förderung von Unternehmensinvestitionen in Nachhaltigkeitsprojekte und die Erstellung lokaler Inhalte durch Nutzung freier Software.

Von Seiten der IT-Branche bittet Microsoft seit einiger Zeit hohe Staatsbeamte zu einem jährlich stattfindenden „Government Leaders Summit“, um die Staatsführungen der Entwicklungsländer von den Segnungen der Digitaltechnik zu überzeugen. Im Mittelpunkt der diesjährigen Tagung stand der Vorsatz, „den Regierungen zu helfen, ihr Potenzial zu entfalten“. So entdeckten dieselben Leute, die sonst das Ende des Nationalstaats beschwören, den fabelhaften Markt des E-Government.

Das UN-Entwicklungsprogramm wiederum schrieb in seinem „Bericht 2001“, die neuen Technologienetze seien dabei, „die Entwicklungslandschaft zu verändern“ und „Bedingungen zu schaffen, die binnen zehn Jahren Fortschritte ermöglichen könnten, die in der Vergangenheit mehrere Generationen erfordert hätten“. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus: Während in den reichen Ländern auf zwei Einwohner ein Telefonanschluss kommt, müssen sich in den Entwicklungsländern 15 Menschen einen Anschluss teilen, in den ärmsten Ländern sind es sogar 200. Ein Drittel der Menschen haben noch immer keinen Stromanschluss, und von der Analphabetenrate wollen wir erst gar nicht reden.

Im Vorfeld des Genfer Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society, WSIS) im Dezember dieses Jahres geht der Streit um die Gestaltung der Zukunft in eine weitere Runde. Die Unesco sieht die Bemühungen um den „Zugang aller zum Cyberspace“ im Zusammenhang einer „Ethik der Informationsgesellschaft“. Kultur- und Sprachenvielfalt seien zu schützen, damit „die wirtschaftliche Globalisierung nicht zu kultureller Verarmung, Unausgewogenheit und Ungerechtigkeit führt“.

Diese Philosophie dominierte auch bei den Vorbereitungstreffen, auf denen die Tagesordnung des Weltgipfels festgeklopft wurde: bei den regionalen Regierungskonferenzen in Bamako, Bukarest, Tokio, Santo Domingo und Beirut sowie auf den drei PrepCom-Konferenzen am Sitz des Internationalen Telekommunikationsverbands (ITU) in Genf.

Der Kongress der platonischen Urbilder

SEIT der zweiten PrepCom im Februar/März 2003 besitzen die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Nichtregierungsorganisationen innerhalb der Vorbereitungsgruppe eine eigenständige Vertretung, die Verbindung zum „Büro der Regierungen“ halten soll. Das so genannte Civil Society and NGO Bureau umfasst Vertreter aus dem Universitäts- und Bildungsbereich, Wissenschaftler und Techniker, Medienvertreter, Kunst- und Kulturschaffende, Repräsentanten der Gemeinde-, Regional- und Nationalparlamente, der Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, der Jugend und der Denkfabriken, geschlechtsspezifischer Gruppen und Hilfsorganisationen, „heterogener Partnerschaften“ (Multi-Stakeholders Partnerships) sowie der Regionalgruppen Afrika, Asien, Lateinamerika, Karibik, Europa und Arabische Länder.

Bei der Lektüre der über 20 „Familien“ umfassenden Liste fühlt man sich an Jorge Luis Borges’ Erzählung „Der Kongress“(3) erinnert, in der Don Alejandro Glencoe es unternimmt, eine Versammlung zu organisieren, „die alle Menschen repräsentieren soll“, was „darauf hinauslief, die genaue Anzahl der platonischen Urbilder zu bestimmen, ein Rätsel, das die Denker dieser Welt seit Jahrhunderten in Verlegenheit bringt“.

Die bunte Mischung zeugt von der Schwierigkeit, die Interessen unterschiedlicher Gruppen zusammenzufassen und die in internationalen Institutionen gängige Definition von Zivilgesellschaft im Allgemeinen und von NGOs im Besonderen zu konkretisieren. Die Frage wurde bereits auf der ersten Vorbereitungskonferenz im Juni 2002 erörtert. Zum so genannten dritten Sektor (wobei der Staat der erste und der Markt der zweite Sektor ist) gehören nämlich neben den genannten Gruppen auch die Berufs- und Unternehmerverbände, etwa die International Chamber of Commerce (ICC) oder die International Advertising Association (IAA). Die Privatwirtschaft ist ebenfalls durch Beobachter vertreten. Die UNO forderte die Unternehmen ausdrücklich auf, Vertreter zu entsenden; die sollen bei den Verhandlungen eine herausragende Rolle spielen. Einige Regierungen äußerten unter Berufung auf den Alleinvertretungsanspruch des Staats Widerspruch gegen die Einladung von Nichtregierungsorganisationen, doch ihre Bedenken zielten vor allem auf die Vertreter sozialer Bewegungen.

Die Sprecher der Privatwirtschaft betonen immer wieder die vorrangige Bedeutung von unternehmerischer Flexibilität und Konkurrenzfähigkeit. Der Staat solle sich aus der Schaffung eines günstigen Investitionsklimas möglichst zurückziehen. Eine so wirtschaftsfreundliche Position geht vorzüglich zusammen mit der pragmatischen Einstellung des zur UNO gehörenden Internationalen Telekommunikationsverbandes.

Gegen die technizistische Sichtweise hat der dritte Sektor eine soziale Agenda ausgearbeitet, die sich am Prinzip der Nachhaltigkeit orientiert. Die Erfahrung der Digitaltechnologie müsse an die gesellschaftliche Aneignung früherer Technologien, insbesondere des Radios, anknüpfen. Transparenz und Partizipation sei auch im Zeitalter des E-Government von höchster Priorität für die Demokratie. Alphabetisierung, Bildung und Forschung, Menschenrechte, allgemeine Zugänglichkeit aller Wissensbestände, kulturelle und sprachliche Vielfalt seien bei der Ausgestaltung der Informationsgesellschaft ebenso zu berücksichtigen wie die Senkung der Verbindungskosten, der Zugang zu freier Software, sichere Kommunikationswege und die Teilhabe an den Entscheidungsinstanzen des Cyberspace (WTO, Weltorganisation für geistiges Eigentum, Internet Corporation for Assigned Names and Numbers – Icann).

Die Kritik an der mangelnden Sicherheit der Kommunikationsnetze verweist auf einen anderen Aspekt der „Informationsgesellschaft“: die Überwachung der Bürger und die Verletzung der Privatsphäre. Im Kreuzfeuer der Kritik stehen dabei nicht nur autoritäre Regime, sondern auch die demokratischen Länder, spätestens seit Verabschiedung von neuen Antiterrorgesetzen im Gefolge der Anschläge vom 11. September 2001. Fast überall gibt es Planungen, den einschlägigen Behörden und Diensten den Zugriff auf fremde Datenbanken zu ermöglichen, um den Bürger zu bespitzeln – Daten der Sozialversicherung, Informationen über Kreditkartenkäufe, Führungszeugnisse, Flugbuchungen und vieles andere mehr würden dann automatisch oder auf Nachfrage weitergegeben.

Manche Regierungen wollten bei den Vorbereitungstreffen zum Genfer Gipfel die soundsovielte Version der altbekannten „Modernisierungstrategie“ auflegen, andere nutzen die Chance, neue Wege zu beschreiten. Die Reformkräfte nutzen die informationsgesellschaftliche Thematik, um eine Grundsatzdiskussion über den Problemkreis Technik, Gesellschaft und persönliche Freiheiten anzustoßen. Und das würde der Einsicht den Weg ebnen, dass das neoliberale Modell schlecht mit dem Aufbau einer Wissensgesellschaft für alle zusammenpasst.

Bei den Regionalkonferenzen zeichneten sich aufschlussreiche geopolitische Bündnisse ab. Japan etwa lehnt sich an die Position der USA an und stellt sich damit gegen die Mehrheit der asiatischen Länder, darunter China, Indonesien, Malaysia, Indien, Pakistan und der Iran. Bei der lateinamerikanischen Regionalkonferenz hingegen tauchte eine Forderung aus den 1970er-Jahren wieder auf, als die Blockfreien das „Recht auf Kommunikation“ einforderten, um eine „neue Weltordnung der Information und Kommunikation“ zu schaffen.

Die geopolitische Wendung, die der Streit über die Ausgestaltung der Informationsgesellschaft im Besonderen und das Verhältnis zwischen Kultur(en) und neuer Weltordnung im Allgemeinen nimmt, könnte mit der Rückkehr der USA in die Unesco zusätzliche Virulenz gewinnen. Washington hatte die UN-Organisation 1985 mit der Begründung verlassen, die Länder des Südens würden die genannte Thematik politisieren. Heute plädiert Washington mehr denn je dafür, die Diskussion auf einen kleinen Kreis von Experten zu beschränken, wie es schon bei den mit Technik und Handel befassten Organisationen der Fall ist. Ausdrücklich formuliert wurde diese Position bereits 1993, als es bei den Gatt-Verhandlungen über eine „Ausnahmeregelung für kulturelle Angelegenheiten“ zu einem Tauziehen mit der Europäischen Union kam.

Die Bewegung für eine andere Globalisierung hat die Kontroverse über die Entwicklung der Informationstechnologie in den Themenkreis der sozioökonomischen Disparitäten aufgenommen und im Rahmen ihrer Netzwerke und Sozialforen eine breite Diskussion angestoßen. Während die Problematik bei den ersten beiden Weltsozialforen im brasilianischen Porto Alegre 2001 und 2002 noch eine marginale Rolle spielte, gehörte sie beim diesjährigen Treffen im Februar zu den zentralen Diskussionspunkten. Auf Anregung von Le Monde diplomatique wurde bei dieser Gelegenheit die Gründung einer internationalen Medien-Beobachtungsstelle beschlossen. „Media Watch Global“(4) hat sich zum Ziel gesetzt, „durch verschiedenste Aktionen das Informationsrecht der Bürger aller Länder zu stärken und zu garantieren“. Die Organisation soll nationale Ableger treiben, in denen Journalisten, Wissenschaftler und Verbraucher zu gleichen Teilen vertreten sind.

Die instrumentelle Herangehensweise an Medien und Informationsnetze (und auch an die Kultur) hat die Ausarbeitung einer Theorie über deren Bedeutung für den sozialen Wandel lange Zeit verhindert.(5) Vor allem die internationale Dimension dieser Frage, die manch einer erst mit dem Internet entdeckt hat, wurde bislang mehr als stiefmütterlich behandelt. Allerdings haben auch längst nicht alle Gruppen der weltweiten sozialen Bewegung erkannt, wie sehr es auf die konkrete gesellschaftliche Ausgestaltung der Kommunikationstechnologien ankommt. Dass die Gruppen sich allesamt darauf verstehen, die digitalen Plattformen für ihre Arbeit zu nutzen, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Die Fortschritte auf diesem Feld gehen vor allem auf die bahnbrechende Arbeit zurück, die eine Reihe von Organisationen seit einigen Jahren leisten. Genannt seien die World Association for Christian Communication (Warc) in London, die Agencía Latinoamericana de Información (Alai) in Quito, die Association Mondiale des Radios Communautaires (Amarc) in Montreal sowie Inter Presse Service, ein Netzwerk, das seit den 1970er-Jahren die Länder des Südens verbindet und einen Beitrag zur Entkolonisierung der Information leisten will. All diese Organisationen sind der Unesco-Einladung zur Teilnahme an den Vorbereitungskonferenzen zum Genfer Gipfel gefolgt, sie organisierten aber darüber hinaus parallel auch ihre eigenen Tagungen. Außerdem initiierten sie auf dem Weltsozialforum 2002 eine „Kampagne für das Recht auf Kommunikation in der Informationsgesellschaft“ (Cris).

Der Kampf um das Recht auf Information ist Teil des umfassenderen Engagements für den Erhalt der öffentlichen Güter der Menschheit (Kultur, Bildung, Gesundheit, Umwelt, Wasser). Öffentliche Versorgungseinrichtungen und Kultur müssen den Marktgesetzen entzogen bleiben. Dieser Grundsatz, den die WTO mit ihren Liberalisierungsbemühungen zu unterlaufen sucht, muss auch im kommenden Dezember in Genf verteidigt werden.

deutsch von Bodo Schulze

* Professor an der Universität Paris-VIII, Autor von „Histoire de la société de l‘information“, Paris (La Découverte), Neuauflage 2003.

Fußnoten: 1 Armand Mattelart, „Archéologie des la ‚société de l’information‘“, Le Monde diplomatique, August 2000; ders., „L’information contre l’État“, Le Monde diplomatique, März 2001. 2 Dan Schiller, „Die Spinne hockt im Web“, Le Monde diplomatique, Februar 2000. 3 Jorge Luis Borges, „Der Kongress“, in: ders., „Das Sandbuch“, München (Hanser) 1977. 4 Dazu Le Monde diplomatique, Januar und März 2003. 5 Armand u. Michèle Mattelart, „Penser les médias“, Paris (La Découverte) 1986, 1991; Armand Mattelart, „La Communication-monde“, Paris (La Découverte) 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.08.2003, von ARMAND MATTELART