15.08.2003

Das Fest der Beine

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Das Fest der Beine

LETZTES Jahr gab es zwei Fußballweltmeisterschaften. Bei der einen spielten Sportler aus Fleisch und Blut. Bei der anderen spielten zur gleichen Zeit Roboter. Die Humanoiden trugen ihren Kampf um den RoboCup 2002 in der japanischen Hafenstadt Fukuoka aus, die der koreanischen Küste gegenüberliegt.

Die Roboterturniere finden jedes Jahr an einem anderen Ort statt. Ihre Organisatoren sind voller Hoffnung, eines Tages gegen wirkliche Mannschaften antreten zu können. Schließlich habe auch schon ein Computer den Weltmeister Garri Kasparow auf dem Schachbrett geschlagen, und so können sie sich problemlos vorstellen, dass die mechanischen Athleten auf dem Fußballplatz eine ähnliche Meisterleistung vollbringen könnten.

Die von Ingenieuren programmierten Roboter sind stark in der Verteidigung, schnell und torgefährlich im Angriff. Sie machen nie schlapp, legen sich nie mit dem Schiedsrichter an, und kein Roboter ist je auf dem Spielfeld tot umgefallen. Und sie tändeln nicht mit dem Ball herum: Ohne Murren tun sie, was der Cheftechniker ihnen sagt, und sind auch nicht eine Sekunde so einfältig, sich einzubilden, die eigentlichen Macher des Spiels seien die Spieler.

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Was ist der größte Traum der Manager und Technokraten, der Bürokraten und Ideologen der Fußballindustrie? Die Realität nähert sich dem Traum immer mehr an: Spieler, die Roboter imitieren.

Es ist ein trauriges Zeichen der Zeit, wenn im 21. Jahrhundert im Namen von Effizienz der Mittelmäßigkeit gehuldigt und die Freiheit auf den Altären des Erfolgs geopfert wird. „Man gewinnt nicht, weil man etwas gilt, sondern man gilt etwas, weil man gewinnt“, hatte Cornelius Castoriadis schon vor Jahren behauptet. Er sprach dabei nicht von Fußball, aber es hätte gepasst.

Zeit verlieren ist verboten, verlieren ist verboten: Zu Arbeit geworden, den Gesetzen der Rentabilität unterworfen, ist das Spiel kein Spiel mehr. Mit jedem Jahr scheint der Profifußball, wie alles andere auch, von der UFS (Union der Feinde der Schönheit) beherrscht zu sein, einer mächtigen Organisation, die es nicht gibt, der aber alles unterworfen ist.

Der zu Unrecht unbekannte Schiedsrichter Ignacio Salvatierra gehörte eigentlich heilig gesprochen. Er ist ein früher Zeuge des neuen Glaubens. Vor sieben Jahren hat er im bolivianischen Trinidad dem Fußball den Dämon der Fantasie ausgetrieben: Schiedsrichter Salvatierra verwies den Spieler Abel Vaca Saucedo des Feldes. Er zeigte ihm die rote Karte, „um ihn zu lehren, den Fußball ernst zu nehmen“. Vaca Saucedo hatte ein unverzeihliches Tor verbrochen. Er hatte die gesamte gegnerische Mannschaft mit seinen Dribbelkünsten ausgetanzt, verladen, getunnelt und seine Orgie mit dem Rücken zum Tor durch einen gezielten Steißvolley gekrönt, mit dem er den Ball im Netz versenkte.

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Disziplin, Schnelligkeit, Stärke und keine genialen Improvisationen: so sehen die durch die Globalisierung aufgezwungenen Standards aus.

Man fabriziert Fußball vom Fließband, kälter als eine Tiefkühltruhe. Unerbittlicher als eine Dampfwalze.

Nach den von France Football veröffentlichten Zahlen hat sich die aktive Zeit der Fußballprofis in den letzten zwanzig Jahren halbiert. In dieser Zeit ging der Schnitt von zwölf auf sechs Jahre zurück. Die Werktätigen des Fußballs leisten immer mehr, aber dies über immer kürzere Zeit. Um den Anforderungen des Arbeitstempos gerecht zu werden, wissen sich viele nicht anders zu helfen, als auf die Chemie zu setzen, in Form von Spritzen und Pillen, die den Verschleiß beschleunigen. Die Drogen tragen tausend verschiedene Namen, aber alle entstehen aus dem Zwang zum Erfolg, man sollte sie eher „Siegamin“ nennen.

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Zweieinhalbtausend Jahre vor Sepp Blatter traten die Athleten noch nackt und ohne Werbetattoo zum Wettbewerb an. Die Griechen lebten auf viele Stadtstaaten verteilt, mit eigenen Gesetzen und eigenen Heeren, aber bei den Olympischen Spielen fanden sie zusammen. Beim Sport sagten die unterschiedlichen Polis-Bürger: „Wir sind Griechen“, als rezitierten sie mit ihren Körpern die Verse der „Ilias“, auf der ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit basierte.

Viel später, im 20. Jahrhundert, war es über lange Zeit der Fußball, der die nationale Identität am besten ausdrückte und auf die sichtbarste Weise bestätigte. Die unterschiedlichen Spielweisen demonstrierten und zelebrierten die unterschiedlichen Lebensweisen. Doch neuerdings gerät die Vielfalt der Welt immer mehr unter den Druck der zwangsläufigen Vereinheitlichungstendenzen. Der Profifußball, den das Fernsehen zum lukrativsten Massenspektakel gemacht hat, setzt ein Einheitsmodell durch. Die individuellen Charakterzüge werden ausgelöscht, wie es auch bei Gesichtern geschieht, die nach mehreren Schönheitsoperationen alle maskenhaft und gleich aussehen.

Der Behauptung, diese Langeweile sei ein Zeichen von Fortschritt, hält der Historiker Arnold Toynbee, der sich mit vielen Vergangenheiten beschäftigt hat, die Beobachtung entgegen: „Das konstanteste Merkmal dekadenter Zivilisationen ist die Tendenz zur Standardisierung und Uniformität.“

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Der Profifußball funktioniert wie eine Diktatur. Gegen das despotische und räuberische Regime der Herren des runden Leders, die in ihrem Fifa-Schlösschen am Genfer See residieren, können die Spieler nicht aufmucken. Die absolutistische Macht legitimiert sich als Gewohnheitsrecht: Es ist so, weil es so sein muss, und es muss so sein, weil es so ist.

Aber war es schon immer so? Es lohnt sich, an ein Experiment zu erinnern, das vor zwanzig Jahren, zur Zeit der Militärdiktatur, in Brasilien stattfand. 1982 hatten bei den Corinthians, einem der mächtigsten Clubs Brasiliens, die Spieler die Macht übernommen, die sie bis zur Saison 1983 ausübten. Ungewöhnlich und noch nie dagewesen: Die Spieler entschieden alles, unter Beteiligung aller, nach dem Mehrheitsprinzip. Sie diskutierten und stimmten demokratisch ab, über Arbeitsmethoden, Spielweise, Geldangelegenheiten und alles Übrige auch. Auf ihren Trikots las man: Democracia Corinthiana.

Nach zwei Jahren nahmen die abgesetzten Bosse das Heft erneut in die Hand und machten dem Spuk ein Ende. Doch solange die Demokratie währte, boten die von ihren Spielern geführten Corinthians den kühnsten und brillantesten Fußball im ganzen Land, lockten die meisten Zuschauer in die Stadien und wurden zweimal nacheinander brasilianischer Meister.

Erfolge und Schönheit ihres Spiels waren Ergebnis einer Droge. Einer Droge, die der Profifußball sich nicht leisten kann: Dieser unbezahlbare Zaubertrank heißt Begeisterung. Das Wort für Begeisterung in der Sprache des alten Griechenland (enthusiasmos) bedeutet wörtlich „die Götter in sich tragen“.

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Wie man weiß, hat Brasilien im vergangenen Jahr den Weltcup im im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Deutschland gewonnen. Niemand weiß, dass gleichzeitig ganz woanders ein weiteres Finale stattfand.

Es war auf den Gipfeln des Himalaja. Hier standen sich die beiden schlechtesten Teams des Planeten gegenüber, das letzte und das vorletzte auf der Fifa-Weltrangliste: das Königreich Bhutan und die Karibikinsel Monserrat. Die Trophäe war ein großer, versilberter Pokal, der am Rand des Spielfelds wartete. Kein Star war dabei, sämtliche Spieler waren unbekannt, aber sie hatten einen Riesenspaß und keine andere Verpflichtung, als sich königlich zu amüsieren. Und nachdem die Partie beendet war, wurde der Pokal, der in der Mitte zusammengeklebt war, auseinander geklappt und jede Mannschaft bekam eine Hälfte überreicht. Bhutan hatte gewonnen und Monserrat verloren. Aber das hatte nicht die geringste Bedeutung.

deutsch von Christian Hansen

* Journalist, Historiker und Schriftsteller aus Uruguay, u. a. „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“, Wuppertal (Peter Hammer) 1997; „Erinnerungen an das Feuer“, drei Bände, Wuppertal (Peter Hammer) 1991/92.

Le Monde diplomatique vom 15.08.2003, von EDUARDO GALEANO