15.08.2003

Augenblicke in Ramallah

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Augenblicke in Ramallah

ALS John Berger im Juni dieses Jahres das Westjordanland besuchte, herrschte dort Gewalt. Attentate der Palästinenser und Mordaktionen des israelischen Militärs bestimmten die Schlagzeilen. Berger wirft einen ruhigen Blick auf den Alltag des palästinensischen Volkes, so sieht er zum Beispiel Jungen zu, wie sie Tomatensetzlinge gießen. In einer anderen Zeit – vor 1948 gewiss – war Ramallah einmal ein beliebtes Ausflugsziel der Bewohner Jerusalems, die vor der sommerlichen Hitze gerne in höher gelegene Regionen flohen. Von JOHN BERGER *

Eine kleine gepflasterte Straße schlängelt sich zwischen Felsbrocken hinab in ein Tal südlich von Ramallah. Rechts und links Olivenhaine, deren Bäume teils noch aus der Römerzeit stammen könnten. Für die Palästinenser ist dieser Weg (eine Tortur für jedes Auto) die einzige Zufahrt zu ihrem nahe gelegenen Dorf. Denn die eigentliche Asphaltstraße ist den israelischen Siedlern vorbehalten und für Palästinenser gesperrt.

Ich gehe schnell, denn langsames Gehen ist mir seit jeher ermüdender erschienen. Zwischen den Sträuchern entdecke ich eine rote Blume. Ich bleibe stehen, um sie zu pflücken. Später erfahre ich, dass sie Sommeradonisröschen heißt. Ihr Rot ist sehr intensiv und ihr Leben, laut Botaniklexikon, kurz.

Baha, unser Führer, ruft mir warnend zu, dass ich mich von der Anhöhe zu meiner Linken fernhalten soll. Wenn sie sehen, dass jemand näher kommt, schießen sie, ruft er.

Ich versuche, die Entfernung abzuschätzen: ein knapper Kilometer. Ein paar hundert Meter weiter in der nicht empfohlenen Richtung entdecke ich ein angebundenes Maultier und ein Pferd. Durch den Anblick ermuntert, gehe ich dorthin.

Als ich ankomme, sehe ich zwei Jungen, etwa elf und acht Jahre alt, auf einem Feld arbeiten. Der Jüngere füllt aus einer in den Boden versenkten Tonne Gießkannen mit Wasser. Die Sorgfalt, mit der er das macht – er verschüttet keinen Tropfen – zeigt, wie kostbar das Wasser ist. Der Ältere nimmt die volle Kanne jedes Mal entgegen und klettert vorsichtig hinunter auf ein gepflügtes Stück Land, um die dort wachsenden Pflanzen zu gießen. Beide Jungen sind barfuß.

Der Junge, der die Pflanzen gießt, winkt mich heran und zeigt mir stolz sein Stück Land mit den hunderten von kleinen Pflanzen. Einige erkenne ich: Tomaten, Auberginen, Gurken. Sie müssen in der vergangenen Woche gesetzt worden sein. Sie sind noch klein, dürsten nach Wasser. Eine Pflanze kenne ich nicht, der Junge merkt es. Dick und leicht, sagt er. Melone? Shumaam! Wir lachen. Seine Augen schauen mich dabei ohne Umschweife an. Wir sind, Gott weiß warum, beide in diesem Augenblick am Leben. Er führt mich durch die Reihen, um mir zu zeigen, was er alles gegossen hat. Einmal bleiben wir stehen, schauen um uns und werfen einen Blick auf die Siedlung mit den Schutzmauern und den roten Dächern.

Als er mit seinem Kinn in Richtung der Siedlung deutet, liegt etwas Spöttisches in seiner Geste, ein Spott, den er mit mir teilen will, so wie den Stolz auf das Gießen. Der Spott geht über in ein Grinsen – so als hätten wir uns verabredet, zur gleichen Zeit an der gleichen Stelle zu pinkeln.

Später gehen wir zurück zu der gepflasterten Straße. Er pflückt wilde Minze und reicht mir ein Bund. Ihre Frische ist wie ein Schluck kaltes Wasser, kälter als das in der Gießkanne. Wir gehen auf das Pferd und das Maultier zu. Das Pferd, ohne Sattel, hat einen Halfter, aber weder Zaumzeug noch Gebissstange. Der Junge will mir etwas vorführen. Während sein Bruder das Maultier ruhighält, springt er auf das Pferd und galoppiert – ohne Sattel – den Holperweg hinunter, auf dem ich gekommen bin. Das Pferd hat scheinbar sechs Beine, seine vier eigenen und die zwei seines Reiters, und alle werden von den zwei Händen des Jungen dirigiert. Er reitet wie einer, der über Generationen von Reiterfahrung verfügt. Als er zurückkehrt, lacht er, und wirkt zum ersten Mal schüchtern.

Ich schließe mich wieder Baha und den anderen an, die schon einen Kilometer weiter sind. Sie unterhalten sich mit einem Mann. Er ist der Onkel des Jungen, und er gießt ebenfalls Pflanzen, die er erst kürzlich ausgesät hat. Die Sonne geht unter, und das Licht verändert sich. Das Gelbbraun der Erde – das an den Stellen, wo gegossen wurde, dunkler ist – ist nun die vorherrschende Farbe. Der Mann versucht, noch die letzten Tropfen Wasser vom Boden einer dunkelblauen 500-Liter-Tonne zu verwenden.

Auf der Oberfläche der blauen Tonne sind sorgsam elf Flicken angebracht – ähnlich denen, die man zum Reparieren von Fahrradschläuchen verwendet. Der Mann erklärt mir, dass er die Tonne reparieren musste, weil eine Bande aus der Siedlung Halamish (der mit den roten Dächern) eines Nachts, als sie wussten, dass die Wasserbehälter randvoll mit Frühjahrs-Regenwasser gefüllt waren, die Tonnen mit Messern aufgeschlitzt hatte. Eine andere Tonne, die auf der unteren Terrasse steht, lässt sich nicht mehr reparieren.

Weiter weg, auf derselben Terrasse, sieht man den knorrigen Stumpf eines Olivenbaums, der, nach dem Umfang zu urteilen, mehrere hundert, vielleicht gar tausend Jahre alt gewesen sein muss. Ein paar Nächte zuvor, erzählt der Onkel, haben sie ihn mit einer Kettensäge gefällt. Später finde ich ein Gedicht von Zakaria Mohammed: „Das Gebiss“. Darin geht es um ein schwarzes, ungezäumtes Pferd, aus dessen Maul Blut tropft. Begleitet wird das Pferd in Zakarias Gedicht von einem Jungen, den das Blut erschreckt.

„Was kaut das schwarze Pferd? / Fragt er./ Was kaut es? / Das schwarze Pferd / Kaut / Ein Gebiss aus Eisen / Ein Mundstück der Erinnerung / An der es herumbeißt / herumbeißt bis zum Tode.“

***

Die schweren zertrümmerten Betonplatten und die eingestürzten Mauern von Arafats Hauptquartier im Zentrum Ramallahs haben nicht zuletzt eine symbolische Kraft – allerdings nicht in dem Sinne, wie es sich die israelischen Befehlshaber vorgestellt haben. Die Zerstörung der Muquata, während Arafat und seine Begleiter sich darin aufhielten, sollte eine öffentliche Demütigung sein, so wie der Tomatenketchup, den die Armee bei ihren Durchsuchungen und Plünderungen in Privatwohnungen auf Kleidern, Möbeln und Wänden verschmierte – eine private Warnung, dass Schlimmeres folgen wird.

Noch immer repäsentiert Arafat sein Volk, die Palästinenser, glaubwürdiger als jeder andere Herrscher der Welt. Nicht auf demokratische, sondern auf tragische Weise. Daher die symbolische Kraft. Wegen der zahlreichen Fehler, die die von ihm angeführte PLO begangen hat, und der zweideutigen Haltung der umliegenden arabischen Staaten bleibt ihm kein Raum für politisches Handeln. Er ist kein politischer Führer mehr. Doch er behauptet sich trotzig. Niemand glaubt mehr an ihn, und viele würden ihr Leben für ihn geben. Wie ist das möglich? Arafat ist längst ein Trümmerberg, aber ein Berg des Landes.

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Nun bin ich also hier gelandet, erfülle ungewollt einen Traum, den manche meiner Vorfahren in Polen, Galizien und dem habsburgischen Reich zwei Jahrhunderte lang geträumt und über den sie oft gesprochen haben.

Riad, der Zimmerleute ausbildet, ist seine Zeichnungen holen gegangen, die er mir zeigen möchte. Wir sitzen im Garten, der das Haus seines Vaters umgibt. Dieser eggt mit seinem Schimmel das Feld gegenüber. Als Riad wiederkommt, trägt er die Zeichnungen wie eine Akte unter dem Arm, als hätte er sie aus einem altmodischen metallenen Ablageschrank hervorgezogen. Er geht langsam, und die Hühner gehen ihm noch langsamer aus dem Weg. Er nimmt mir gegenüber Platz und reicht mir nacheinander die Zeichnungen. Sie sind mit einem harten Bleistift gezeichnet, aus der Erinnerung und mit großer Geduld. Strich um Strich, in den Abendstunden nach der Arbeit gezeichnet – bis die Schwarztöne so schwarz sind, wie er sie haben will, die Grautöne silberglänzend. Und das auf ziemlich großen Blättern.

Eine Zeichnung von einem Wasserkrug. Eine Zeichnung von seiner Mutter. Eine Zeichnung von einem zerstörten Haus, durch dessen Fenster man in keine Zimmer mehr blicken kann.

Als ich die Zeichnungen schließlich beiseite lege, steht ein alter Bauer mit gegerbtem Gesicht vor mir. Sie kennen sich doch sicher mit Hühnern aus, wendet er sich an mich. Wenn eine Henne krank wird, legt sie keine Eier mehr. Da ist nichts zu machen. Eines Tages aber wacht sie auf und spürt, dass sie bald sterben wird. Sie merkt es, und was passiert? Sie fängt wieder an zu legen, und nichts wird sie davon mehr abbringen, nur der Tod. Wir sind wie diese Henne.

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Die Kontrollpunkte fungieren wie innere Grenzen, trotzdem sehen sie nicht aus wie normale Posten. Sie sind so konstruiert und mit Soldaten besetzt, dass jeder, der sie passiert, auf den Status eines unerwünschten Flüchtlings reduziert wird. So werden die Palästinenser ständig daran gemahnt, wer der Sieger ist und wer der Besiegte. Mitunter müssen die Palästinenser die Demütigung, im eigenen Land als Flüchtlinge behandelt zu werden, mehrmals am Tag über sich ergehen lassen.

Jeder, der hinüber will, muss den Kontrollpunkt zu Fuß passieren, und die Soldaten – Maschinenpistolen im Anschlag – picken sich heraus, wen sie „überprüfen“ wollen. Autos dürfen nicht passieren. Die alten Straßen wurden zerstört. Auf der neuen, obligatorischen „Route“ wurden Brocken und Steine verteilt und andere kleinere Hindernisse errichtet. Folglich stolpern alle hinüber, ausgenommen die ganz Sportlichen.

Junge Männer, die sich auf diese Weise einen kleinen Lebensunterhalt verdienen wollen, schieben die Kranken und Alten auf vierrädrigen Holzkisten über die Grenze, mit denen sonst das Gemüse zum Markt gekarrt wird. Um die Stöße der Straße abzufangen, bieten die Jungen jedem ein Kissen an. Sie hören sich die Geschichten der Alten an und wissen immer das Neueste, schließlich sind die Straßensperren jeden Tag an anderen Stellen. Sie geben Ratschläge, jammern, und sind stolz auf die Hilfe, die sie anbieten können, auch wenn sie nur gering ist. Sie sind so etwas wie der Chor in der antiken Tragödie.

Einige „Pendler“ benutzen einen Stock, manche sogar Krücken. Alles, was üblicherweise im Kofferraum eines Fahrzeugs untergebracht ist, muss in Bündeln auf dem Rücken oder den Armen hinübergeschafft werden. Die Distanz beträgt zwischen 300 Metern und anderthalb Kilometern; sie kann sich stündlich ändern.

Palästinensische Ehepaare – die jüngeren, gebildeteren ausgenommen – wahren in der Öffentlichkeit normalerweise immer einen gebührlichen Abstand. An den Kontrollposten aber halten sich Ehepaare allen Alters an der Hand. Mit jedem Schritt suchen sie sicheren Boden; und sie überlegen genau, wo und wie sie an den Posten vorbeigehen sollen – nicht zu schnell, denn Eile weckt Verdacht, und nicht zu langsam, denn Zögern könnte die Wachen zu einem ihrer „Spielchen“ animieren, mit denen sie sich gerne die (chronische) Langeweile vertreiben.

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Viele, nicht alle, israelische Soldaten haben ausgeprägte Rachegefühle. Diese haben nichts gemein mit der Grausamkeit, die Euripides schildert und beklagt, denn die Konfrontation geschieht nicht unter Gleichen, sondern zwischen Allmächtigen und offensichtlich Ohnmächtigen. Doch die Macht der Mächtigen geht einher mit einer großen Enttäuschung: die Entdeckung, dass ihre Macht, trotz aller Waffen, unerklärbare Grenzen hat.

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Ich will einige Euros in Schekel wechseln – die Palästinenser besitzen keine eigene Währung. Ich gehe die Hauptstraße entlang, vorbei an vielen kleinen Läden; gelegentlich sitzt ein Mann auf einem Stuhl dort, wo früher, vor der Invasion der Panzer, ein Gehsteig war. Die Männer halten dicke Bündel Banknoten in der Hand. Ich gehe auf einen jüngeren Mann zu und sage ihm, ich würde gerne hundert Euro in Schekel tauschen. (Für diesen Betrag könnte man beim Juwelier einem Mädchen ein Goldarmband kaufen.) Er tippt etwas in seinen Kindertaschenrechner und gibt mir mehrere hundert Schekel heraus.

Ich gehe weiter. Ein Junge, der ein Bruder des – meiner Vorstellung entsprungenen – Mädchens mit dem Goldarmband sein könnte, bietet mir Kaugummi zum Kauf an. Er kommt aus einem der beiden Flüchtlingslager in Ramallah. Ich kaufe ihm welches ab. Außerdem verkauft er Plastikhüllen für die maschinenlesbaren Ausweise, die jeder Palästinenser bei sich tragen muss. Seine Miene fordert mich nachdrücklich auf, ihm alle Kaugummis abzukaufen, was ich schließlich tue.

Eine halbe Stunde später bin ich auf dem Gemüsemarkt. Ein Mann verkauft Knoblauchknollen, so groß wie Glühbirnen. Viele Menschen stehen dicht gedrängt. Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um. Es ist der Geldwechsler. Ich habe Ihnen fünfzig Schekel zu wenig herausgegeben, sagt er, hier sind sie. Ich nehme die fünf Zehn-Schekel-Scheine. Es war nicht schwer, Sie zu finden, fügt er hinzu. Ich bedanke mich bei ihm.

Er blickt mich an, und der Ausdruck in seinem Gesicht erinnert mich an eine alte Frau, die ich tags zuvor getroffen habe. Man spürt, dass da jemand sich völlig auf den Augenblick konzentriert – und zwar ruhig und bedächtig, als könnte jeder Augenblick sein letzter sein. Dann wendet sich der Geldwechsler ab und begibt sich auf den Weg zurück zu seinem Stuhl.

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Die alte Frau hatte ich in dem Dorf Kobar getroffen. Das Haus war neu, aber einfach und unfertig. An der Wand des kahlen Wohnzimmers hingen Fotos von ihrem Neffen, Marwan Barguti. Marwan als Kind, als Jugendlicher, als Mann von vierzig Jahren. Derzeit sitzt Marwan in einem israelischen Gefängnis. Wenn er überlebt, ist er einer der politischen Führer innerhalb der Fatah – einer, um den man nicht herumkommt, wenn man ernsthaft den Frieden aushandeln will.

Während wir Zitronensaft trinken und die Tante Kaffee kocht, kommen ihre Enkel in den Garten: zwei Jungen, etwa acht und neun Jahre alt. Der jüngere, schmalere, trägt den Namen „Heimat“, der ältere heißt „Kampf“. Sie liefen zunächst hierhin und dorthin, hielten dann aber plötzlich inne und warfen sich gespannte Blicke zu, taten dabei so, als würden sie sich hinter etwas verstecken und hervorspähen, ob sie schon jemand entdeckt hätte. Dann bewegten sie sich wieder, liefen ins nächste unsichtbare Versteck. Ein Spiel, das sie sich ausgedacht hatten und das sie oft spielten. Das dritte Kind war vier Jahre alt. Es hatte rote und weiße Flecken im Gesicht, wie ein Clown; und wie ein Clown stand der Junge auch abseits, und sah den anderen sehnsüchtig beim Spielen zu. Er hatte Windpocken und wusste, dass er Abstand zu den Gästen halten musste. Als es an der Zeit war, zu gehen, nahm die Tante meine Hand, und in ihrem Gesicht erkannte ich den Ausdruck von jemandem, der sich völlig auf den Augenblick konzentriert.

Wenn zwei Menschen gemeinsam auf einem Tisch ein Tischtuch ausbreiten, blicken sie sich an, um das Tuch richtig hinzulegen. Man stelle sich vor, der Tisch ist die Welt und das Tuch das Leben all jener, die wir retten müssen. So konzentriert war der Ausdruck in ihrem Gesicht.

deutsch von Thomas Stegers

* Schriftsteller und Kunstkritiker, lebt in Frankreich. Auf Deutsch erschien zuletzt der Essayband „Gegen die Abwertung der Welt“, München (Hanser) 2003.

Le Monde diplomatique vom 15.08.2003, von JOHN BERGER