15.08.2003

Olaf Nicolai

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Olaf Nicolai

Der 1962 in Halle geborene Olaf Nicolai absolvierte keine Kunstschule, sondern ein Studium der Linguistik. Thema seiner Promotion war die Spannung zwischen Expression und Kalkül in der Poetik der Wiener Gruppe – eine Spannung, die sich auch in seinem eigenen Werk wiederfindet.

„Die Produktion von Kultur“, so zitiert Nicolai den amerikanischen Soziologen Jeremy Rifkin, „ist die letzte Stufe des Kapitalismus, dessen wesentliche Triebkraft es von jeher war, immer mehr menschliche Aktivitäten für das Wirtschaftsleben zu vereinnahmen.“ Nicolai arbeitet mit den verschiedensten Materialien, um die Vereinnahmung aller Lebensbereiche in Szene zu setzen. Er kreiert virtuelle Landschaftsräume, bläst Konsumgegenstände ins Gigantische auf, entfremdet Werbegrafiken; er arbeitet gern mit dem Kunstmittel der Wiederholung: zum Einen dem Wiederholen bekannter Motive in neuen Zusammenhängen, zum anderen dem Wieder-Holen erinnerter Bilder.

Einmal griff er aus dem Renaissance-Gemälde „Geißelung Christi“ von Jan Baegart einen Blutstropfen auf und vervielfältigte diesen auf einer Tapete, mit der er einen Raum völlig auskleidete. Die derart mit Blutstropfen übersäten Wände wiederholten zwar das Zeichen des Leidens Christi, doch die Passion war zum Dekor verkommen.

Ein andermal wiederholte Nicolai eine Konsum-Ikone: einen Nike-Turnschuh, den er in orginalgetreuem Weißgrau nachbildete – jedoch dermaßen mit Luft aufgeblasen, dass er sich Kindern als Hüpfburg, Erwachsenen als bizarre Sitzlandschaft darbot. Die Schrift an der Wand handelte von der ständigen Sehnsucht nach Bedürfnisbefriedigung in der Warenwelt – und von deren Vergeblichkeit.

Olaf Nicolais jüngst in dem sorgsam edierten Band „rewind/forward“ (Hatje Cantz 2003) zusammengetragenen Arbeiten sind kalkulierte Konstrukte. Seine Kunst ist ohne Geheimnis; nur selten gewinnt die Expression gegenüber dem Kalkül die Oberhand. Seine Naturbilder oder Landschaftsräume sind keine Bausteine romantischer Seelenspiegelung – Natur ist, ähnlich wie Kultur, nur noch als Kunst-Produkt vorhanden. So kreierte er für die „Dokumenta X“ eine Landschaft als Interieur: Auf handlichen Felsbrocken sprießt eine Art Bonsai-Gebirgswelt – hinter dieser zerlegten Natur, auf der Tapete, ist die Vegetation zum Ornament erstarrt. Das Band produziert virtuell-naturalistisches Vogelgezwitscher.

Nicolai, der im letzten Jahr mit dem Kunstpreis der Stadt Wolfsburg ausgezeichnet wurde („Junge Stadt sieht junge Kunst“), hat zu diesem Anlass eine Skulptur geschaffen, die eine abgewandelte Wiederholung ist: 1967 zum Jahrestag der Novemberrevolution wurde in Halle „Die Flamme der Revolution“ aufgestellt; heute, 13 Jahre nach dem Ende des Sozialismus, rekonstruiert Nicolai für Wolfsburg dieses Kunstwerk aus seiner Heimatstadt – diesmal allerdings „liegend“. Diese Flamme lodert in keinen Himmel, nach keiner Freiheit – eine Raumplastik, die nichts mehr in Brand setzt. M.L.K.

Le Monde diplomatique vom 15.08.2003, von M.L.K.