15.08.2003

General Verdacht

zurück

General Verdacht

„In der Vergangenheit hatte keine Regierung die Macht, ihre Bürger unter ständiger Überwachung zu halten. Nun überwachte die Gedankenpolizei ständig alle.“ George Orwell, „1984“

WER seinen Sommerurlaub dieses Jahr in den Vereinigten Staaten verbringen möchte, sollte wissen, dass die Fluggesellschaften kraft eines Abkommens zwischen der EU-Kommission und der US-Regierung bestimmte persönliche Daten ohne vorheriges Einverständnis an die US-Grenzbehörden übermitteln. Diese kennen also, noch bevor der Reisende an Bord geht, dessen sämtliche Daten: Name, Vorname, Alter, Adresse, Pass- und Kreditkartennummer, Gesundheitszustand, Ernährungspräferenzen – die womöglich die Religionszugehörigkeit verraten –, bisherige Reisen, Name und Alter der Begleitpersonen, ob und von welcher Organisation die Reise finanziert wurde, u. v. m.

Sämtliche Daten werden durch ein computergestütztes Passagierüberprüfungssystem namens Capps geschickt, das potenzielle Verdachtspersonen herausfiltern soll. Das „Computer Assisted Passenger Pre-Screening“ vergleicht die Personendaten mit Informationen, die den polizeilichen Informationssystemen, dem Außen- und dem Justizministerium wie auch den Banken vorliegen, es ermittelt den Gefährlichkeitsgrad des Reisenden, der dann mit einer bestimmten Farbe kenntlich gemacht wird: Grün bedeutet ungefährlich, Gelb bedeutet verdächtig, und wer Rot bekommt, darf das Flugzeug nicht betreten und wird sofort festgenommen.

„Die Einwanderungsbehörden und das Außenministerium arbeiten zusammen, um Personen zu identifizieren, die bei ihrer Einreise in die Vereinigten Staaten oder schon im Vorfeld zu überwachen sind“, ließ US-Justizminister John Ashcroft wissen. „Wir überprüfen jeden Besucher auf das Risiko einer Beteiligung an terroristischen Aktivitäten.“ Jeder Reisende muslimischen Glaubens oder aus dem Nahen Osten gilt von vornherein als verdächtig und bekommt die Farbe Gelb verpaßt. Das Grenzsicherungsprogramm gestattet es in diesem Fall, den Reisenden zu fotografieren und Fingerabdrücke zu nehmen.

Ins Fadenkreuz geraten aber auch die Lateinamerikaner. So haben die USA bereits Datensätze von 65 Millionen Mexikanern, 31 Millionen Kolumbianern und weiteren 18 Millionen Menschen aus Zentralamerika angelegt, ohne die Betroffenen zu informieren oder das Einverständnis ihrer Regierung einzuholen. Die Datensammlung umfasst Geburtsort und Geburtsdatum, Geschlecht und Familienstand, die Personalien der Eltern, den Beruf sowie eine äußerliche Personenbeschreibung. Häufig enthält sie auch noch weitere vertrauliche Informationen wie Adresse, Telefon- und Kontonummer, Fahrzeugkennzeichen und Fingerabdrücke.

„Unser Ziel ist eine sicherere Welt. Wir müssen wissen, welches Risiko von Personen ausgeht, die in unser Land einreisen“, erklärte ChoicePoint-Manager James Lee. Das in Atlanta ansässige Unternehmen kauft die erwähnten Daten ein, um sie an die US-Administration weiterzuverkaufen. Denn nach US-amerikanischem Recht ist zwar die Speicherung persönlicher Daten untersagt, nicht aber der Auftrag an ein Privatunternehmen, diese Aufgabe für die Regierung zu erledigen.

Die Firma ChoicePoint hat sich schon anderweitig einen Namen gemacht. Bei den Präsidentschaftswahlen 2000 hatte der Bundesstaat Florida an die ChoicePoint-Tochter Database Technologies (DBT) den Auftrag vergeben, die Wählerlisten zu durchforsten. Mit dem Ergebnis, dass Tausende ihr Wahlrecht einbüßten und George W. Bush die Wahlen in Florida mit den entscheidenden 537 Stimmen Vorsprung gewann.

OBWOHL die Fremdenfeindlichkeit nach den Attentaten vom 11. September 2001 zweifellos zugenommen hat, werden nicht nur Ausländer, sondern auch US-Bürger scharf überwacht. Der USA Patriot Act sieht neue Überwachungsmöglichkeiten vor, die das Briefgeheimnis, die Privatsphäre insgesamt und die Informationsfreiheit bedrohen. Das Telefon darf ohne richterliche Genehmigung abgehört werden. Die Datensammler brauchen keinen Durchsuchungsbefehl mehr, um sich Zugang zu persönlichen Daten zu verschaffen. So will das FBI von den Bibliotheken derzeit wissen, welche Bücher die angemeldeten Benutzer ausgeliehen und welche Webseiten sie besucht haben – um von jedem Nutzer ein „geistiges Profil“ zu erstellen. Das aberwitzigste Projekt zur illegalen Ausspähung der Bürger entsteht freilich unter dem Codenamen Total Information Awareness (TIA) im Pentagon.

Über jeden der 6,2 Milliarden Erdbewohner will das Pentagon Informationsmaterial im Umfang von durchschnittlich 40 Seiten sammeln und zur weiteren Verarbeitung in einen Hypercomputer einspeisen. Die Zentralisierung sämtlicher über eine Person verfügbaren Daten (Kreditkartenüberweisungen, Medienabonnements, Kontobewegungen, Telefonanrufe, Surf-Gewohnheiten, E-Mails, polizeiliche wie auch Daten von Versicherungsgesellschaften, Sozialversicherungsträgern und Ärzten) hat zum Ziel, für jedes Individuum ein möglichst vollständiges Profil zu erstellen.

Wie in Steven Spielbergs Film „Minority Report“ sind die US-Behörden überzeugt, mit diesen Methoden Verbrechen verhüten zu können. „Es wird weniger Privatsphäre geben, aber mehr Sicherheit“, meinte John L. Petersen, Präsident des Arlington Institute, in El País am 4. Juli 2002. „Aufgrund der Verknüpfung sämtlicher personenbezogener Informationen werden wir imstande sein, die Zukunft vorherzusehen.“ Big Brother ist Schnee von gestern.

Le Monde diplomatique vom 15.08.2003, von IGNACIO RAMONET