Bush, der Bruchpilot
DER September 2002 war für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten ein entscheidender Monat. Er brachte drei Ereignisse von erheblicher Tragweite, die eng miteinander zusammenhängen. Erstens veröffentlichten die USA ihre neue „Nationale Sicherheitsstrategie“. Zweitens begannen sie die Kriegstrommeln zu rühren. Und drittens entschied sich im Zwischenwahlkampf zum Kongress, dass die Bush-Regierung ihr radikales außen- und innenpolitisches Programm weiter durchziehen konnte.
Nach der neuen imperial grand strategy, wie sie in der führenden außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs sogleich tituliert wurde, sind die USA „ein revisionistischer Staat, der seine gegenwärtigen Vorteile zu einer Weltordnung verfestigen will, in der allein er das Sagen hat“. Angestrebt ist also eine „unipolare Weltordnung“, in der „kein Staat und keine Koalition“ den USA ihre Rolle „als globale Führungsmacht, als Schutzmacht und als Durchsetzungsorgan“ streitig machen kann (so John Ikenberry in Foreign Affairs vom September/Oktober 2002). Diese Strategie berge Gefahren für die USA selbst, warnte der Autor des Artikels allerdings – und viele außenpolitische Experten haben seither seine Warnung wiederholt.
Was nach dieser Konzeption „geschützt“ werden muss, sind Macht und Interessen der USA – nicht die Interessen der Welt insgesamt. Meinungsumfragen zeigen, dass sich seit September 2002 die Angst vor den Vereinigten Staaten im gleichen Maße verstärkt hat wie das Misstrauen gegen ihre politische Führung. Eine internationale Erhebung vom Dezember 2002 ergab, dass ein „einseitig von US-Amerika und seinen Verbündeten“ geführter Krieg gegen den Irak nur sehr wenige Befürworter fand.
Die Vereinten Nationen ließ Washington wissen, sie könnten nur dann weiter eine „relevante“ Rolle spielen, wenn sie die Pläne der USA absegneten; andernfalls würden sie zu einem Debattierklub verkommen. Die USA hätten „das souveräne Recht, Militäraktionen zu unternehmen“, eröffnete US-Außenminister Colin Powell dem Weltwirtschaftsforum in Davos, wo die Kriegspläne Washingtons ebenfalls auf heftigen Widerstand stießen. Dabei führte er aus: „Wenn wir eine entschiedene Einschätzung von einer Angelegenheit haben, dann übernehmen wir die Führung, selbst wenn uns niemand folgen sollte“ (Wall Street Journal, 27. Januar 2003).
Noch deutlicher gaben George W. Bush und Tony Blair ihre Missachtung des Völkerrechts und der internationalen Organisationen zu erkennen, als sie sich am Vorabend der Invasion auf den Azoren trafen. Hier verkündeten sie ein Ultimatum – nicht etwa an den Irak, sondern an die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats: Wenn ihr nicht kapituliert, beginnen wir auch ohne eure unerhebliche Zustimmung mit der Invasion; und zwar auch wenn Saddam Hussein und seine Familie vorher das Land verlassen sollten.(1) Es ging also nur darum, dass die USA den Irak unter ihre Kontrolle bekommen.
Präsident Bush erklärte, die USA hätten „die souveräne Befugnis, zur Behauptung ihrer nationalen Sicherheit Gewalt anzuwenden“. Im Irak solle ruhig eine „arabische Fassade“ aufgebaut werden (so nannten es die Briten, als sie noch den „Platz an der Sonne“ innehatten), vorausgesetzt, die USA können ihre Macht in dieser ölreichen Region fest verankern. Nach allem, was wir aus der historischen wie aus der gegenwärtigen Praxis schließen können, wird auch im Irak ein äußerlich demokratisches System willkommen sein – sofern die Iraker so willfährig sind, wie es sich für den „Hinterhof“ Washingtons geziemt.
Nach der neuen grand strategy hat Washington die Generalvollmacht zu einem preventive war, dem vorbeugenden Krieg, nicht zu verwechseln mit dem preemptive war, was so viel heißt wie dem Gegner zuvorkommend. Wie immer die Rechtfertigung für einen preemptive war aussehen mag, sie deckt keineswegs einen preventive war ab, schon gar nicht in der Bedeutung, die seine Befürworter dem Präventivkrieg geben: als Einsatz von militärischer Gewalt, um eine fiktive Bedrohung auszuschalten, sodass selbst der Ausdruck „vorbeugend“ eigentlich zu milde ist. Preventive war im Sinne der Bush-Doktrin ist schlicht und einfach das Verbrechen des Angriffskriegs, das nach 1945 den „Hauptkriegsverbrechern“ im Nürnberger Prozess zur Last gelegt wurde.
Auch US-Amerikaner, denen ihr Land wirklich am Herzen liegt, sind sich über diesen Sachverhalt im Klaren. Als die US-Armee ihre Invasion im Irak begann, schrieb der Historiker Arthur Schlesinger, die grand strategy von Bush erinnere „auf alarmierende Weise an die Strategie des kaiserlichen Japan beim Angriff auf Pearl Harbor, der als ein Datum der Schande in die Geschichte eingegangen ist …“ Schlesinger bezog sich damit auf den bekannten Satz von Präsident Franklin D. Roosevelt, fügte aber hinzu: „Heute sind es wir Amerikaner, die mit dieser Schande leben müssen.“ Deshalb sei es keine Überraschung, dass „die Welle der Sympathie, die den Vereinigten Staaten nach dem 11. September entgegenschlug, inzwischen verebbt ist und stattdessen weltweit der Hass auf die Arroganz und den Militarismus der USA wächst“. Damals konstatierte Schlesinger, dass in den Augen vieler Menschen Präsident Bush „die größere Bedrohung für den Weltfrieden darstellt als Saddam Hussein“.(2)
Für die Führung in Washington, die sich mehrheitlich aus den reaktionären Kreisen der Regierungen von Ronald Reagan und George Bush sen. rekrutiert, ist diese Woge des Hasses kein großes Problem. Diese Leute wollen gefürchtet, nicht geliebt werden. In aller Selbstverständlichkeit zitiert Donald Rumsfeld Al Capone, den Gangsterkönig von Chicago: „Mit freundlichen Worten und einer Knarre erreicht man mehr als nur mit freundlichen Worten.“
Rumsfeld und die Leute in seiner Umgebung wissen genauso gut wie ihre Kritiker, dass ihre Aktionen das Risiko der Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen und Terror eher vergrößern. Aber auch das ist für sie kein großes Problem. An der Spitze ihrer Prioritätenliste stehen zwei andere Ziele: Sie wollen erstens ihre globale Vorherrschaft durchsetzen und zweitens ihr innenpolitisches Programm durchziehen. Letzteres besteht darin, die im Lauf der letzten hundert Jahre hart erkämpften sozialen Errungenschaften wieder rückgängig zu machen, und zwar ein für alle Mal.
Eine Hegemonialmacht kann sich nicht damit begnügen, ihre Strategie kundzutun. Sie muss sie vielmehr mit exemplarischen Aktionen als „neue Norm des internationalen Rechts“ durchsetzen. Man geht also davon aus, dass nur ein Staat „mit Knarre“ in der Lage ist, „Normen“ zu setzen und das Völkerrecht zu verändern.
Der Feind muss allerdings drei Bedingungen erfüllen: Er muss erstens wehrlos sein und zweitens so wichtig, dass ein Krieg sich lohnt; drittens muss er als unmittelbare Bedrohung für unsere Existenz, als das Böse schlechthin erscheinen. Der Irak erfüllte alle drei Kriterien: Er war erstens wehrlos und zweitens wichtig genug. Was die von ihm ausgehende Bedrohung angeht, so galt sie nach den Reden von Bush, Blair und Co. als erwiesen. Demnach hatte sich der Diktator „die gefährlichsten Waffen der Welt verschafft, um andere Länder zu beherrschen, einzuschüchtern oder anzugreifen“; außerdem habe er sie bereits eingesetzt und dabei tausende seiner Landsleute getötet oder verstümmelt: „Wenn das nicht böse ist“, so Bush, „hat das Wort böse jede Bedeutung verloren.“
Bushs Urteil über das Hussein-Regime hört sich berechtigt an. Und von den Leuten, die dieses üble Regime gestärkt haben, soll keiner ungestraft davonkommen. Nur gehört zu ihnen eben auch der Mann, der diese hehren Worte ausgesprochen hat, samt seiner gegenwärtigen Helfer und jener Leute, die vor Jahren im Auftrag der US-Regierung das Böse schlechthin unterstützt haben, lange nachdem Saddam seine schrecklichen Verbrechen begangen hatte. Diese Hilfe erfolgte nach Aussagen der Regierung von George Bush sen., um die Exportinteressen der USA zu unterstützen. Es ist schon eindrucksvoll, wie leicht es unseren politischen Führern fällt, sich bei der Aufzählung der schlimmsten Verbrechen dieses Ungeheuers um die entscheidenden Worte zu drücken: Hussein bekam, so heißt es dann, „unsere Unterstützung, weil wir uns um solche Nebensächlichkeiten nicht kümmern“.
Die Verurteilung erfolgte erst, als der einstige Freund sein erstes echtes Verbrechen beging: als er nämlich den Befehl aus Washington missachtet (oder vielleicht auch nur missverstanden) hat und in Kuwait einmarschierte. Die Bestrafung fiel hart aus – jedenfalls für Saddams Untertanen.
Leicht zu verdrängen sind auch die Gründe für den Entschluss der USA, Saddam Hussein im Anschluss an den ersten Golfkrieg erneut zu unterstützen, als er die Aufstandsversuche erstickte, die sein Regime hätten stürzen können. Der außenpolitische Kolumnist der New York Times stellte damals klar, welche die „beste aller Welten“ für Washington sei: „ … eine brutale irakische Junta ohne Saddam Hussein“. Aber da dieses Ziel nicht erreichbar sei, müsse man sich mit der zweitbesten Lösung begnügen. Die kurdischen und schiitischen Aufständischen durften keinen Erfolg haben, weil sich die USA und ihre Verbündeten in einem Punkt „erstaunlich einig“ waren: „Egal wie groß das Sündenregister des irakischen Führers sein mochte, für den Westen und die Region bot er eine bessere Aussicht auf die Stabilität seines Landes als diejenigen, die unter seiner Repression gelitten hatten.“(3) In den Kommentaren über die Massengräber, in denen man heute die Opfer von Saddams Terror findet, kommt das alles nicht mehr vor. Denn dieser Terror, der heute einen „moralisch gerechtfertigten“ Krieg begründen soll, war damals aus Sicht der USA durchaus statthaft.(4)
Nur zum Lachen
ZWÖLF Jahre später galt es, bei den zögerlichen Amerikanern die notwendige Kriegsbegeisterung zu entfachen. Seit Anfang September 2002 ergingen finstere Warnungen über die tödliche Gefahr, die Saddam für die Vereinigten Staaten darstelle, und über seine Verbindungen zu den Al-Qaida-Terroristen. Dabei wurde immer wieder angedeutet, Saddam selbst sei in die Angriffe vom 11. September verwickelt. Zu dieser Propaganda meinte die Herausgeberin des Bulletin of Atomic Scientists: „Viele der Behauptungen, die man den Journalisten schmackhaft machen wollte, waren einfach zum Lachen, aber je lächerlicher sie waren, desto unkritischer wurden sie von den Medien aufgegriffen und zum Lackmustest für Patriotismus hochgeredet.“(5)
Die propagandistische Offensive blieb nicht ohne Wirkung. Schon nach wenigen Wochen sah die Mehrheit der US-Bürger in Saddam Hussein eine unmittelbare Bedrohung für die USA. Und bald glaubte fast die Hälfte der Befragten, hinter den Terroranschlägen vom 11. September stecke das irakische Regime. Dementsprechend fiel dann auch der Grad der Zustimmung für den Krieg aus. Die Propaganda verhalf den Republikanern im November 2002 zu einer klaren Mehrheit bei den Zwischenwahlen zum Kongress, weil die Wähler ihre Alltagsprobleme vergaßen und sich aus Angst vor dem teuflischen Feind unter den großen Schirm der Macht flüchteten.
Der glänzende Erfolg dieser „Öffentlichkeitsdiplomatie“ wurde vollends offenbar, als Bush am 1. Mai auf dem Deck des Flugzeugträgers „Abraham Lincoln“ „ein starkes, Reagan-würdiges Finale für einen Sechswochenkrieg lieferte“, wie es in der New York Times hieß. Der Vergleich bezieht sich auf die Erklärung, in der Präsident Reagan 1983 nach der Besetzung von Grenada verkündete, Amerika könne stolz darauf sein, die Muskatnuss-Metropole der Welt erobert und die Russen daran gehindert zu haben, die USA zu bombardieren. Zwanzig Jahre später erklärte George W. Bush ungeachtet aller skeptischen Kommentare im Lande, er habe „einen Sieg im Krieg gegen den Terror gewonnen“ und „einen Verbündeten der al-Qaida aus dem Weg geräumt“.(6) Dabei schert ihn überhaupt nicht, dass es keine Beweise für die angeblichen Verbindungen zwischen Saddam Hussein und seinem Erzfeind Ussama Bin Laden gibt. Gleichgültig ist ihm auch, dass die einzig erwiesene Beziehung zwischen dem Sieg im Irak und dem Terror eine ganz andere ist: Die Irakinvasion bedeutet für den Antiterrorkrieg viel eher einen „enormen Rückschlag“, weil sie der al-Qaida verstärkt neue Kandidaten zugetrieben hat.(7)
Das Wall Street Journal befand denn auch, dass der sorgfältig inszenierte Operettenauftritt von Präsident Bush auf der „Abraham Lincoln“ „den Auftakt zu seinem Wahlfeldzug des Jahres 2004“ darstellte. Dieser soll sich, hofft man im Weißen Haus, „so weit wie möglich um Themen der Nationalen Sicherheit drehen“.(8)
Vor den Kongresswahlen 2002 hatte Karl Rove, der politische Chefstratege der Republikaner, seine Wahlhelfer angewiesen, die Sicherheitsthemen in den Vordergrund zu stellen und von der unpopulären Innenpolitik der Republikaner möglichst abzulenken. Diese Strategie ist für die alten Reagan-Gefolgsleute, die sich heute wieder in Washington breit machen, zur zweiten Natur geworden. Mit derselben Methode hatten sie ihre erste Dienstzeit bestritten, als sie immer wieder auf den außenpolitischen Alarmknopf drückten, um zu verhindern, dass die öffentlichen Diskussionen sich auf den innenpolitischen Kurs konzentrieren, der Reagan am Ende seiner Amtszeit 1992 zum unbeliebtesten Präsidenten seit langem gemacht hatte.
Die aufwändige Propagandakampagne war zwar begrenzt erfolgreich, konnte aber die öffentliche Meinung in den grundsätzlicheren Fragen nicht wirklich kippen. Heute spricht sich eine Mehrheit der US-Amerikaner dafür aus, dass bei internationalen Krisen die Vereinten Nationen und nicht die USA die führende Rolle spielen müssen; fast zwei Drittel zögen es vor, wenn statt der USA die UN den Wiederaufbau im Irak beaufsichtigen würden.(9)
Als die Besatzungsarmee keine Massenvernichtungswaffen entdecken konnte, musste die Bush-Regierung einen Kurswechsel vornehmen. Jetzt sprach niemand mehr von der „absoluten Sicherheit“, dass der Irak solche Waffen besitze, man argumentierte nur noch, die entsprechenden Vorwürfe seien „gerechtfertigt durch die Entdeckung von Geräten, die möglicherweise zur Herstellung von Waffen dienen könnten.“(10) Und hohe Regierungsbeamte sprachen auf einmal von einer „Verfeinerung“ der Präventivkriegsdoktrin vom September 2002, die den USA das Recht auf einen Angriff zuspricht, wenn das betreffende Land über „tödliche Waffen in großen Mengen“ verfüge. Demgegenüber soll die revidierte Fassung nun vorsehen, „dass die Regierung gegen feindliche Regime vorgehen wird, die lediglich den Vorsatz und die Fähigkeit haben, Massenvernichtungswaffen zu entwickeln“.(11) Die Argumente, mit denen die Invasion begründet worden war, haben sich als unhaltbar herausgestellt – woraus sich als Konsequenz ergibt, dass man die Schwelle für den Einsatz militärischer Gewalt noch niedriger ansetzt.
Bushs vielleicht spektakulärster propagandistischer Erfolg spiegelte sich in den Lobeshymnen wider, die seine „Vision“ eines Friedens für den Nahen Osten priesen. Zeitgleich konnte man beobachten, wie die US-Regierung demokratische Prinzipien verleugnete. Am deutlichsten zeigte sich das in der Unterscheidung zwischen dem geschmähten „Old Europe“ und dem begeistert gefeierten „New Europe“. Die Abgrenzung erfolgte nach einem präzisen Kriterium: Zum „alten Europa“ gehören die Länder, deren Regierungen sich in ihrer Haltung zum Irakkrieg an der überwiegenden Mehrheit ihrer Bevölkerung orientierten; die Helden des „neuen Europa“ dagegen befolgten die Befehle aus Crawford, Texas. In den meisten Fällen setzten sie sich damit zu Hause sogar über noch größere Mehrheiten hinweg. Die meisten politischen Kommentatoren in den USA zeterten über das ungehorsame „Old Europe“ und dessen psychische Macken.
Am progressiven Ende des politischen Spektrums verwies Richard Holbrooke, Vizeaußenminister und von 1999 an UN-Botschafter der Clinton-Regierung, auf „den äußerst wichtigen Punkt“, dass die acht Länder, die Donald Rumsfeld als Kern eines „New Europe“ bezeichnet hat,(12) zusammen mehr Einwohner zählen als das „Old Europe“ – was belege, dass Frankreich und Deutschland „isoliert“ seien. Da hat er schon Recht, es sei denn, man hält es mit dem linksradikalen Irrglauben, dass in einer Demokratie auch die öffentliche Meinung zählt. Im selben Geist hat Thomas Friedman in der New York Times dafür plädiert, Frankreich die ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat zu entziehen, weil es noch im „Kindergartenalter“ und unfähig sei, „mit den anderen anständig zu spielen“. Nimmt man neuere Meinungsumfragen zur Kenntnis, wäre dann allerdings die Mehrheit der „Neu-Europäer“ im Kindergartenalter stecken geblieben.(13)
Die Türkei war im Hinblick auf das Demokratieverständnis ein besonders aufschlussreicher Fall. Die Regierung in Ankara weigerte sich trotz starken Drucks, ihre „demokratische Gesinnung“ dadurch zu belegen, dass sie die Befehle aus Washington auch dann befolgt, wenn 95 Prozent ihrer eigenen Bevölkerung dagegen sind. Über diese Lektion in Demokratie waren einige US-Kolumnisten so erbost, dass sie in ihren Kommentaren nachträglich auf die Verbrechen der Türkei gegen die Kurden während der 1990er-Jahre verwiesen. Dieses Thema war zuvor tabu gewesen, weil die Vereinigten Staaten dabei eine wichtige Rolle gespielt hatten.
Auf den entscheidenden Punkt verwies Paul Wolfowitz, der dem türkischen Militär vorwarf, es habe „nicht die starke Führungsrolle gespielt, die wir von ihm erwartet hätten“. Denn die Militärführung habe nichts unternommen, um die neue Regierung der AKP daran zu hindern, die nahezu einhellige öffentliche Meinung zu respektieren. Deshalb erwarte man von Ankara das Eingeständnis: „Wir haben einen Fehler gemacht. Jetzt müssen wir sehen, wie wir den Amerikanern eine möglichst große Hilfe sein können.“(14)
Die Wut über das „alte Europa“ ist sehr viel tiefer verwurzelt als die geringschätzige Relativierung der Demokratie. Für die USA war der europäische Einigungsprozess schon immer eine zwiespältige Angelegenheit. Vor 30 Jahren hat Henry Kissinger in seiner „Year of Europe“-Ansprache den Europäern geraten, sich auf ihre „regionalen Verantwortlichkeiten“ zu beschränken, und zwar innerhalb eines „umfassenden Ordnungsrahmens“, für den die Vereinigten Staaten verantwortlich sind. Europa solle keine unabhängige Politik betreiben, die sich auf sein französisch-deutsches Kerngebiet stützt.
Ähnliche Bedenken gelten heute für Nordwestasien – die Weltregion mit der größten ökonomischen Dynamik, mit riesigen Bodenschätzen und einer zunehmend industrialisierten Wirtschaft. Auch diese potenziell integrierte Großregion könnte einmal mit der Idee liebäugeln, den „umfassenden Ordnungsrahmen“ in Frage zu stellen, der nach der erklärten Überzeugung Washingtons auf Dauer erhalten bleiben muss. Zur Not auch mit Gewalt.
deutsch von Niels Kadritzke
* Sprachwissenschaftler und politischer Autor, seit 1961 Professor am Massachusetts Institute of Technology, Boston. Auf Deutsch zuletzt erschienen: „Media control – wie Medien uns manipulieren, Hamburg (Europa Verlag) 2003.
Fußnoten: 1 Michael Gordon in der New York Times, 18. März 2003. 2 Los Angeles Times, 23. März 2003. 3 So Thomas Friedman, New York Times, 7. Juni 1991 bzw. Alan Cowell, New York Times, 11. April 1991. 4 Thomas Friedman, New York Times, 4. Juni 2003. 5 Linda Rothstein, Bulletin of Atomic Scientists, Juli 2003. 6 Kommentar von Elisabeth Bumiller in der New York Times vom 2. Mai 2003; dort auch der Text der Bush-Erklärung. 7 So Jason Burke, Observer (London), 18. Mai 2003. 8 Wall Street Journal, 2. Mai 2003. In diesem Sinne erklärte auch Karl Rove, der politische Chefstratege der Republikaner, in der New York Times vom 10. Mai 2003, der Wahlkampf werde sich „auf die Schlacht um den Irak, nicht auf den Krieg“ konzentrieren. 9 Siehe Program on International Policy Attitudes (PIPA), University of Maryland, 18.–22. April 2003. 10 Dana Milbank, Washington Post, 1. Juni 2003. 11 Guy Dinmore und James Harding, Financial Times, 3./4. Mai 2003. 12 Gemeint sind die acht Staaten, die die Anzeige der Solidaritätsadresse an die USA unterschrieben haben, die Ende Januar im Wall Street Journal erschienen war. 13 Siehe Michael Katz, National Journal, 8. Februar 2003; das Friedman-Zitat in New York Times, 7./8. Mai 2003. 14 Siehe Marc Lacey, New York Times, 7./8. Mai 2003.