13.08.2004

Demokratie und Glück

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Demokratie und Glück

DAS letzte Tabu, an dem die westliche Welt festhält, ist das der demokratischen Herrschaftsform. Die Parole von 1989, „Wir sind das Volk“, Schlachtruf der demokratischen Wende, beinhaltet den urdemokratischen Anspruch, als Volk tatsächlich Souveränität auszuüben. Der Nobelpreisträger und Kommunist José Saramago fordert nun, die real existierenden Demokratien im Hinblick auf ihre Echtheit, ihre Tauglichkeit und ihren wirklichen Demokratiegehalt zu prüfen. Das Delegieren von Macht im Akt des Wählens ist, so seine These, im Grunde ein Akt des Machtverzichts. Die politische Demokratie, ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Komponente beraubt, sei nichts als eine leere Schale.

Von JOSÉ SARAMAGO *

Mein Ausgangspunkt sind zwei Zitate von Aristoteles, die beide aus „Politik“ stammen. Das erste ist ein Fazit: „So sind denn in der Demokratie die Armen mächtiger als die Reichen. Denn sie sind zahlreicher, und maßgebend ist die Meinung der Mehrzahl.“ Das zweite scheint die erste Aussage zunächst einschränken zu wollen, erweitert und ergänzt sie jedoch am Ende, so dass es selbst zum Axiom wird: „Denn die Gleichheit besteht darin, dass Arme und Reiche in gleicher Weise regieren, dass nicht Einzelne allein entscheiden, sondern alle gleichmäßig ihrer Zahl nach. So – meint man wohl – sei für die Verfassung die Gleichheit und Freiheit garantiert.“ Wenn ich mich nicht allzu sehr in der Interpretation dieser Textstelle irre, dann sagt uns Aristoteles, dass die reichen Bürger zwar mit aller demokratischen Legitimität an der Regierung der Polis beteiligt sind, jedoch infolge eines unabänderlichen Zahlenverhältnisses zwangsläufig immer in der Minderheit sein werden. In einer Hinsicht hat Aristoteles Recht: So viel man weiß, sind die Reichen im Lauf der Geschichte niemals zahlreicher gewesen als die Armen. Doch die Behauptung des Stagiriten hält, obwohl rein arithmetisch nicht von der Hand zu weisen, der harten Realität nicht Stand: Seit jeher haben die Reichen die Welt regiert oder immer Mittelsmänner gehabt, die sie für sie regiert haben. Heute mehr denn je. Es soll nicht unerwähnt bleiben, auch wenn mich meine eigene Ironie schmerzt, dass für den Schüler Platons der Staat die höchste Form der Sittlichkeit war.

Jedem gängigen elementaren Handbuch des politischen Rechts ist zu entnehmen, dass Demokratie eine innere Organisation des Staates ist, bei der die politische Macht vom Volk ausgeht und ausgeübt wird und in der das regierte Volk mittels seiner Vertreter regiert, sodass die wechselseitige Kommunikation und die Symbiose zwischen Regierenden und Regierten im Sinne eines Rechtsstaats gewährleistet ist.

Die kritiklose Übernahme solcher Definitionen, die in ihrer sachlichen Richtigkeit und formalen Strenge zweifellos an die exakten Wissenschaften heranreichen, wäre meiner bescheidenen Meinung nach etwa so, als würden wir im persönlichen Rahmen unserer alltäglichen biologischen Existenz der endlosen Abstufung diverser pathologischer oder degenerativer Zustände, die wir zu jeder Zeit an unserem eigenen Körper wahrnehmen können, keinerlei Beachtung schenken.

Anders ausgedrückt: Die Tatsache, dass die Demokratie in Übereinstimmung mit den vorgenannten oder vergleichbaren Formeln definiert werden kann, bedeutet nicht, dass wir sie in allen Fällen und unter allen Umständen als wirklich und wirksam betrachten müssen, nur weil sich in der Gesamtheit ihrer institutionellen Organe und ihrer administrativen Strukturen noch immer eines oder mehrere der Merkmale erkennen lassen, die in den entsprechenden Definitionen explizit angeführt oder implizit enthalten sind.

Ein kurzer und knapper Streifzug durch die Geschichte der politischen Ideen erlaubt mir, auf zwei allgemein bekannte Beobachtungen hinzuweisen, die immer mit dem Argument „die Zeiten ändern sich“ abgetan werden, wenn es Anlass gibt, nicht nur über die reine Definition von Demokratie, sondern über deren konkreten Gehalt nachzudenken.

Der erste Hinweis gilt der Tatsache, dass die Demokratie ihren Ursprung im klassischen Griechenland hat, genau gesagt, in Athen, wo sie etwa im 5. Jahrhundert vor Christus entstand; dass diese Demokratie die Teilnahme aller freien Bürger an der Regierung der Stadt voraussetzte; dass sie auf der direkten Form gründete, wobei sämtliche Ämter durch ein Mischverfahren aus Verlosung und Wahl vergeben wurden; dass die Bürger das Wahlrecht besaßen und das Recht, Vorschläge in den Volksversammlungen zu machen.

Im Römischen Reich jedoch – und dies ist mein zweiter Hinweis –, das die zivilisatorischen Neuerungen der Griechen erbte und sie fortführte, konnte das demokratische System nicht Fuß fassen, obwohl es sich in seinem Ursprungsland als tauglich erwiesen hatte. Wir kennen die Gründe. Abgesehen von einigen sozial und politisch weniger relevanten Faktoren lag das hauptsächliche, entscheidende Hindernis für die Verwurzelung der Demokratie in Rom in der ungeheuren ökonomischen Macht einer Grundbesitzeraristokratie, die im System der Demokratie – sehr zu Recht – einen unmittelbaren Feind ihrer Interessen sah.

Mir ist durchaus bewusst, dass derlei zeitliche und räumliche Extrapolationen immer das Risiko allzu großer Verallgemeinerung mit sich bringen, aber ich kann nicht umhin mich zu fragen, ob die Wirtschafts- und Finanzimperien unserer Tage nicht ebenfalls der unerbittlichen Logik der Interessen gehorchen; ob diese nicht kalt und vorsätzlich an der fortschreitenden Eliminierung der demokratischen Möglichkeit arbeiten. Die Demokratie, zeitlich immer weiter von ihren ursprünglichen Ausdrucksformen entfernt, bewegt sich rasch in Richtung zunehmender Schwäche, mag sie auch einstweilen noch ihre äußeren Formen bewahren. In ihrem Wesen ist sie jedoch von Grund auf verfälscht.

Ich frage mich: Inwieweit können die verschiedenen Instanzen der politischen Macht uns eine wirklich demokratische Vorgehensweise garantieren, wenn sie unter Ausnutzung der institutionellen Legitimität, die ihnen aus der Wahl durch das Volk erwächst, mit allen Mitteln versuchen, unsere Aufmerksamkeit von der offenkundigen Tatsache abzulenken, dass im Wahlakt selbst einerseits eine politische Entscheidung in Form der Stimmabgabe zum Ausdruck kommt, aber andererseits unfreiwillig die Bekundung eines – meist nicht bewussten – Verzichts auf staatsbürgerliches Handeln? Mit anderen Worten: Ist es nicht so, dass der Wähler in dem Augenblick, da er den Wahlzettel in die Urne steckt, den Anteil an politischer Macht, der ihm bis zu diesem Moment als Mitglied der Bürgergemeinschaft gehörte, in andere Hände übergibt, ohne andere Gegenleistung als die Versprechen, die ihm während des Wahlkampfes gemacht wurden?

Die Rolle des Advocatus Diaboli, die ich hier zu spielen vorgebe, mag unklug erscheinen. Ich bezwecke damit, zuerst auf das instrumentelle Vakuum hinzuweisen, das in unseren demokratischen Systemen die Wähler von den Gewählten trennt, und übergangslos, ohne jeden rhetorischen Kunstgriff, weiterzufragen, inwieweit die verschiedenen politischen Prozesse, in denen es um demokratisches Delegieren, Repräsentation und Autorität geht, tatsächlich sachgerecht und angemessen sind. Ein Grund mehr, kurz innezuhalten und zu überlegen, was unsere Demokratie denn nun ist und wozu sie gut ist, bevor wir, wie es in unserer Zeit zur Obsession geworden ist, sie als obligatorisch und universell ausgeben.

Denn diese Karikatur einer Demokratie, die wir wie Missionare einer neuen Religion entweder durch Überzeugungsarbeit oder durch Gewalt in der übrigen Welt zu verbreiten und durchzusetzen suchen, ist nicht die Demokratie der weisen, aufrichtigen Griechen, sondern eine andere, wie sie die pragmatischen Römer in ihrem Reich eingeführt hätten, wenn sie darin irgendeinen Nutzen erblickt hätten, und wie sie, so wage ich zu behaupten, zu Beginn dieses Jahrtausends in unserem Umkreis zu besichtigen ist: Diese durch zahllose ökonomische, finanzielle oder technologische Bedingungen eingeschränkte und abgeschwächte Demokratie hätte, daran sollte kein Zweifel bestehen, die Großgrundbesitzer des Latiums veranlasst, ihre Vorstellungen rasch zu ändern und sich in die aktivsten und enthusiastischsten „Demokraten“ zu verwandeln.

An diesem Punkt meiner Ausführungen ist es mehr als wahrscheinlich, dass bei vielen meiner Zuhörer allmählich der unangenehme Verdacht aufkommt, der Autor habe nichts von einem Demokraten, was, wie die besser Informierten wissen werden, eine offenkundige Tatsache ist, sind meine ideologischen Neigungen doch allgemein bekannt. Die zu rechtfertigen oder zu verteidigen, ist hier nicht der Ort, da ich mir lediglich vorgenommen habe, öffentlich über die Vorstellung, die Annahme, die Überzeugung oder die Hoffnung nachzudenken, dass wir alle einer wahrhaft demokratisierten Welt entgegengehen, womit wir also zweieinhalb Jahrtausende nach Sokrates, Platon und Aristoteles endlich die griechische Schimäre einer harmonischen Gesellschaft verwirklichen würden, nunmehr ohne jeden Unterschied zwischen Herren und Sklaven [und einschließlich der bei den Griechen nicht zu den freien Bürgern gerechneten Frauen Anm. d. Red.], wie die naiven Gemüter behaupten, die noch immer an die Vollkommenheit glauben.

Da die Demokratien, die wir reduktionistisch als „westliche Demokratien“ bezeichnen, weder auf dem Vermögen noch auf der Rasse basieren, da die Stimme des reichsten oder hellhäutigsten Bürgers ebenso viel zählt wie die des ärmsten oder dunkelhäutigsten, womit der äußere Schein an die Stelle der Tatsachen tritt, hätten wir den optimalen Grad einer entschieden egalitär ausgerichteten Demokratie erreicht, der es lediglich an einer größeren geografischen Ausdehnung fehlt, um zum ersehnten politischen Ersatz für das Universalheilmittel der antiken Medizin zu werden.

Die Mechanik des Delegierens

ES möge mir jedoch erlaubt sein, ein wenig für Abkühlung zu sorgen und zu sagen, dass die brutale Wirklichkeit der Welt, in der wir leben, das idyllische Bild, das ich gerade beschrieben habe, der Lächerlichkeit preisgibt und dass wir unter dem Gewand der Demokratie immer, in der einen oder anderen Weise, ohne darüber besonders erstaunt zu sein, einen eigenen autoritären Körper finden werden. Ich werde versuchen, dies im Folgenden etwas besser zu erklären.

Wenn ich behaupte, dass der Akt der Stimmabgabe als Ausdruck eines bestimmten politischen Willens zugleich ein Akt des Verzichts auf die Ausübung ebendieses Willens ist, der implizit in der vom Wähler vorgenommenen Delegierung enthalten ist, wenn ich das behaupte, dann stelle ich mich lediglich auf die erste Stufe der Frage. Weitere Feinheiten und Folgen des Wahlaktes – sei es in institutioneller Hinsicht, sei es im Hinblick auf die verschiedenen politischen und sozialen Schichten, in denen sich das Leben einer Bürgergemeinschaft abspielt – sind hier noch nicht berücksichtigt. Betrachte ich die Dinge näher, drängt sich mir folgender Schluss auf: Während der Akt der Stimmabgabe objektiv, zumindest bei einem Teil der Bevölkerung, eine Form des zeitweiligen Verzichts auf eigenes, dauerhaftes politisches Handeln ist, das ausgesetzt und zurückgestellt wird bis zu den nächsten Wahlen, also dem Zeitpunkt, da die Mechanik des Delegierens erneut greift, kann dieser Verzicht – nicht weniger objektiv – für die gewählte Minderheit der erste Schritt in einem Prozess sein, der zwar demokratisch durch die Wählerstimmen legitimiert ist, jedoch oft entgegen den vergeblichen Hoffnungen der getäuschten Wähler Ziele verfolgt, an denen nichts Demokratisches ist und die sogar eindeutig gegen das Gesetz verstoßen können.

Grundsätzlich würde es keiner geistig gesunden Gemeinschaft in den Sinn kommen, korrupte und korrumpierende Personen zu ihren Vertretern in den Parlamenten oder Regierungen zu wählen, obwohl die alltägliche bittere Erfahrung uns lehrt, dass sich große Machtbereiche sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene in den Händen dieser und anderer Verbrecher oder ihrer direkten oder indirekten Sachwalter befinden. Keine Auszählung, keine mikroskopische Überprüfung der in einer Wahlurne enthaltenen anonymen Stimmen wäre imstande, zum Beispiel die verräterischen Anzeichen der wilden Ehen zwischen den Staaten und den internationalen Konzernen sichtbar zu machen, deren verbrecherische Aktionen – bis hin zum Krieg – dabei sind, den Planeten, auf dem wir leben, in die Katastrophe zu führen.

Wir erfahren aus den Büchern, und die Lehren, die das Leben uns erteilt, bestätigen es, dass bei aller nach außen hin demonstrierten Ausgewogenheit der institutionellen Strukturen und ihrer jeweiligen Funktionsweise eine politische Demokratie uns wenig nützt, wenn sie nicht auf einer wirksamen, konkreten wirtschaftlichen Demokratie und einer nicht minder konkreten und wirksamen kulturellen Demokratie beruht. In den heutigen Zeiten erscheint eine solche Aussage wahrscheinlich weniger banal als vielmehr abgegriffen, ein von gewissen ideologischen Bestrebungen der Vergangenheit ererbter Gemeinplatz; es hieße jedoch die Augen vor der Realität verschließen, würde man nicht erkennen, dass diese demokratische Trinität – Politik, Wirtschaft, Kultur –, in der jedes Element die anderen ergänzt, in ihrer Blütezeit als Zukunftsprojekt ein Banner war, das in der jüngeren Geschichte die Bürger wie kaum ein anderes um sich geschart hat; ein Banner, das imstande war, die Herzen zu bewegen, das Bewusstsein zu erschüttern und den Willen zu mobilisieren.

Heute hat die Idee einer wirtschaftlichen Demokratie, die wie ein alter wertloser Schuh längst auf dem Abfallhaufen der abgenutzten und aus der Fasson geratenen Formeln gelandet ist, so relativiert sie auch sein müsste, einem obszön triumphierenden Markt Platz gemacht, und an die Stelle der Idee einer kulturellen Demokratie ist ein nicht weniger obszönes Sammelsurium industrieller Massenkulturen getreten, ein falscher melting pot, mit dem versucht wird, die absolute Vorherrschaft einer dieser Kulturen zu verschleiern.

Wir glauben, Fortschritte gemacht zu haben, aber in Wirklichkeit bewegen wir uns rückwärts. Und es wird immer absurder werden, von Demokratie zu sprechen, wenn wir auf dem Irrtum beharren, sie mit ihren quantitativen und mechanischen Ausdrucksformen, bezeichnet als Parteien, Parlamente und Regierungen, gleichzusetzen, ohne zuvor ernsthaft und überzeugend die Art und Weise zu prüfen, in der diese die Stimmen benutzen, denen sie ihre Position verdanken. Eine Demokratie, die sich nicht selbst überwacht, sich nicht selbst überprüft, sich nicht selbst kritisiert, wird unausweichlich dazu verurteilt sein, zu verkümmern.

Man schließe aus dem eben Gesagten jedoch nicht, ich sei gegen die Existenz von Parteien: ich selbst bin ja in einer aktiv. Man glaube nicht, ich verabscheue die Parlamente: ich würde sie mir freilich arbeitsamer und weniger geschwätzig wünschen. Und man stelle sich auch nicht vor, ich sei der Erfinder eines Wundermittels, das die Völker fortan in die Lage versetzt, ein glückliches Leben zu führen, ohne Regierungen ertragen zu müssen: Ich weigere mich lediglich, mir einreden zu lassen, dass es die einzige Möglichkeit sei, im Sinne der gängigen demokratischen Modelle zu regieren und regiert zu werden. Nach meiner Auffassung sind diese weder vollständig noch kohärent, und wir trachten sie nur in einer Art panischer Flucht nach vorn zu universellen zu erheben, als wollten wir im Grunde nur vor unseren eigenen Phantasmen fliehen, anstatt sie als das zu erkennen, was sie sind, und zu arbeiten, um sie zu besiegen.

Ich habe die gängigen demokratischen Modelle unvollständig und inkohärent genannt, weil ich tatsächlich nicht weiß, wie ich sie anders bezeichnen sollte. Eine richtig verstandene, vollständige, abgerundete Demokratie, die einer Sonne gleicht, die alle gleichermaßen erleuchtet, müsste rein logisch betrachtet dort beginnen, wo wir uns befinden, das heißt in dem Land, in dem wir geboren wurden, in der Gesellschaft, in der wir leben, in der Straße, in der wir wohnen. Ist diese Bedingung nicht gegeben, und die alltägliche Erfahrung zeigt uns, dass es nicht so ist, dann sind sämtliche früheren Überlegungen und Verfahren, das heißt das theoretische Fundament und das praktische Funktionieren des Systems, von Anfang an falsch und verdorben. Es wird nichts nützen, das Wasser des Flusses in seinem Lauf durch die Stadt zu säubern, wenn sich der Herd der Verschmutzung an der Quelle befindet.

Wir haben bereits gesehen, wie obsolet, aus der Mode und sogar lächerlich es geworden ist, sich auf die humanistischen Ziele einer wirtschaftlichen Demokratie und einer kulturellen Demokratie zu berufen. Ohne diese bleibt das, was wir politische Demokratie nennen, auf eine zerbrechliche äußere Schale reduziert, die zwar glänzen und mit Fahnen, Plakaten und Losungen bunt geschmückt sein mag, jedoch jedes staatsbürgerlich nahrhaften Inhalts entbehrt. Aber selbst diese dünne, zerbrechliche Schale des demokratischen Scheins, wiewohl gehegt und gepflegt vom verstockten Konservatismus des menschlichen Geistes, der sich mit äußeren Formen, Symbolen und Ritualen zufrieden zu geben pflegt, um weiterhin an die Existenz einer innerlich längst zerfallenen Materialität oder einer längst sinn- und namenlosen Transzendenz glauben zu können, selbst die glitzernden Farben, die bislang vor unseren wohl oder übel resignierten Augen die abgenutzten Formen der politischen Demokratie geschmückt haben, sind unter den gegenwärtigen Lebensumständen dabei, stumpf, dunkel, beunruhigend, wenn nicht erbarmungslos grotesk zu werden, wie die Karikatur eines Verfalls, der sich zwischen Hohn und Spott und letzten ironischen oder opportunistischen Beifallskundgebungen dem Ende entgegenschleppt.

Seitdem die Welt besteht und solange sie und mit ihr die menschliche Gattung bestehen wird, ist die zentrale Frage in jeder Art menschlichen sozialen Organisation, die Frage, von der sich alle anderen ableiten und zu der früher oder später alle hinführen, die Frage der Macht. Das hauptsächliche theoretische und praktische Problem, vor dem wir stehen, liegt darin zu bestimmen, wer sie besitzt, herauszufinden, wie er in ihren Besitz gelangt ist, und zu prüfen, welchen Gebrauch er von ihr macht, welcher Mittel er sich bedient und welche Ziele er anstrebt.

Wäre die Demokratie tatsächlich das, was wir mit echter oder gespielter Naivität behaupten, nämlich die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk, dann wäre jede Debatte über die Machtfrage sinnlos, da, weil die Macht beim Volk liegt, es dem Volk zukäme, sie zu verwalten, und, weil das Volk sie verwaltet, es dies natürlich nur zu seinem eigenen Wohl und seinem eigenen Glück tun würde, denn dazu sähe es sich durch etwas verpflichtet, was ich ohne jede begriffliche Strenge das Gesetz der Lebenserhaltung nennen möchte. Allerdings wäre wohl nur ein perverser Geist, ein zynischer Pangloss, so kühn zu behaupten, dass die Welt, in der wir leben, hinreichend glücklich ist. Im Gegenteil: Niemand dürfte von uns verlangen, dass wir sie so hinnehmen, wie sie ist, nur weil sie, um den abgenutzten Gemeinplatz noch einmal zu wiederholen, die beste aller möglichen Welten ist. Es wird ebenfalls immer wieder behauptet, die Demokratie sei unter allen bislang erfundenen politischen Systemen das am wenigsten schlechte, und man bemerkt nicht, dass dieses resignierte Hinnehmen von etwas, das sich damit begnügt, „weniger schlecht“ zu sein, uns vielleicht davon abhält, den Weg zu beschreiten, der uns zu etwas „Besserem“ führen würde.

Ihrem eigenen Wesen nach wird die politische Macht immer provisorisch und konjunkturbedingt, immer von der Stabilität der Stimmenzahl, der Fluktuation der Ideologien und der Klasseninteressen abhängig sein und kann daher sogar als eine Art organisches Barometer betrachtet werden, das die Schwankungen des politischen Willens der Gesellschaft registriert. Allerdings mehren sich die Fälle von scheinbar radikalen politischen Veränderungen, die zwar zu radikalen Veränderungen der Regierungen, nicht aber zu solchen radikalen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen führen, wie sie das Wahlergebnis zu versprechen schien.

Formeln wie „sozialistische“ oder „sozialdemokratische“ oder „konservative“ oder „liberale“ Regierung und deren Bezeichnung als Macht sind heutzutage nichts als billige Kosmetik, der Versuch, etwas zu benennen, was sich schlicht und einfach nicht dort befindet, wo man uns glauben machen will, dass es sich befinde. Die Macht befindet sich an einem anderen, unerreichbaren Ort, die wirkliche, die ökonomische Macht, deren Umrisse wir undeutlich hinter dem abgekarteten Spiel und den Netzwerken der Institutionen wahrnehmen können: Die Macht entzieht sich uns jedoch immer, wenn wir uns ihr zu nähern suchen, und wird sofort zum Gegenangriff ausholen, sollten wir einmal auf die verrückte Idee kommen, ihr Herrschaftsgebiet einschränken oder disziplinieren und der Richtschnur des allgemeinen Interesses unterordnen zu wollen.

Anders und prägnanter ausgedrückt: Ich behaupte, dass die Völker ihre Regierungen nicht gewählt haben, damit sie sie auf den Markt „führen“, und dass es der Markt ist, der die Regierungen mit allen Mitteln konditioniert, damit sie ihm die Völker „zuführen“. Und wenn ich so vom Markt spreche, dann deshalb, weil er in den modernen Zeiten das Instrument schlechthin der einzigen Macht ist, die diesen Namen wirklich verdient, nämlich der transnationalen und transkontinentalen ökonomischen und finanziellen Macht, der Macht, die nicht demokratisch ist, weil das Volk sie nicht gewählt hat, die nicht demokratisch ist, weil sie nicht vom Volk verwaltet wird, die schließlich und endlich nicht demokratisch ist, weil das Glück des Volkes sie nicht interessiert.

Es wird nicht an empfindlichen Gemütern fehlen, die meine Ausführungen als skandalös und sinnlos provokant betrachten, auch wenn sie nicht umhin können zuzugeben, dass ich lediglich einige klare und elementare Wahrheiten und Erfahrungswerte, schlichte Beobachtungen des gesunden Menschenverstands zum Ausdruck gebracht habe. Doch politische Strategien jeder Art und Couleur haben über diese und andere nicht minder offenkundige Tatsachen ein kluges Schweigen gebreitet, damit niemand anzudeuten wage, dass wir, obwohl wir die Wahrheit kennen, die Lüge kultivieren oder bereit sind, uns zu ihren Komplizen zu machen.

Sehen wir also den Tatsachen ins Gesicht. Das gesellschaftliche System, das wir bislang als demokratisch bezeichnet haben, ist mehr und mehr zu einer Plutokratie – Regierung der Reichen – geworden und hat aufgehört, eine Demokratie – Regierung des Volkes – zu sein. Es ist unmöglich zu leugnen, dass die riesige Masse der Armen dieser Welt, die allgemein aufgerufen ist, zu wählen, niemals aufgerufen ist, zu regieren (die Armen würden niemals eine Partei der Armen wählen, weil eine solche Partei ihnen nichts versprechen könnte). Es ist unmöglich zu leugnen, dass selbst in der mehr als unwahrscheinlichen Annahme, dass die Armen eine Regierung bilden und politisch als Mehrheit regieren, eine Möglichkeit, die Aristoteles in seiner Politik ohne Widerstreben gelten ließ, sie nicht über die Mittel verfügen würden, um die Organisation der plutokratischen Welt, die sie befriedet, überwacht und oft erstickt, zu verändern.

Es ist unmöglich, nicht zu erkennen, dass die so genannte westliche Demokratie in einen rückschrittlichen Transformationsprozess eingetreten ist, den anzuhalten und umzukehren sie völlig außerstande ist und an dessen Ende ihre eigene Negation steht. Alles deutet darauf hin. Es wird nicht nötig sein, dass jemand die schreckliche Verantwortung übernimmt, die Demokratie zu liquidieren; sie selbst bringt sich jeden Tag ein wenig mehr um.

Was sollen wir also tun? Sie reformieren? Wir wissen nur zu gut, dass das nur bedeutet, wie es in Lampedusas Roman „Il Gattopardo“ heißt, sie so weit zu ändern, damit alles bleibt, wie es ist. Sie erneuern? Zu welcher demokratischen Vision der Vergangenheit würde es sich lohnen, zurückzukehren, um ausgehend von ihr mit neuem Material wieder aufzubauen, was heute dabei ist, verloren zu gehen? Zur Vision des alten Griechenland? Zu der der Handelsstädte und -republiken des Mittelalters? Zu der des englischen Liberalismus des 17. Jahrhunderts? Zu der der französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts? Die Antworten wären gewiss ebenso flüchtig wie die Fragen … Was also tun?

Hören wir auf, die Demokratie als etwas Erworbenes, als etwas ein für alle Mal Definiertes und für alle Zeit Unantastbares zu betrachten. In einer Welt, die sich daran gewöhnt hat, alles in Frage zu stellen, wird nur eines nicht in Frage gestellt: eben die Demokratie. Salazar, der Diktator, der mein Land mehr als vierzig Jahre lang regiert hat, dozierte in seinem salbungsvollen Stil: „Wir stellen Gott nicht in Frage, wir stellen das Vaterland nicht in Frage, wir stellen die Familie nicht in Frage.“ Heute stellen wir Gott in Frage, stellen wir das Vaterland in Frage, und die Familie stellen wir nur deshalb nicht in Frage, weil sie selbst es tut. Aber die Demokratie stellen wir nicht in Frage, so weit gehen wir nicht.

Doch ich sage: Stellen wir sie in Frage, stellen wir sie jederzeit in Frage, stellen wir sie in sämtlichen Foren in Frage, denn wenn wir es nicht rechtzeitig tun, wenn wir nicht herausfinden, wie wir sie neu erfinden können, ja, neu erfinden, dann wird nicht nur die Demokratie verloren gehen, sondern auch die Hoffnung, dass eines Tages die Menschenrechte auf diesem unglücklichen Planeten geachtet werden. Und das wäre der große Schiffbruch unserer Epoche, das Zeichen des Verrats, das für immer und ewig das Antlitz der Menschheit entstellen würde.

Machen wir uns keine Illusionen. Ohne Demokratie wird es keine Menschenrechte geben, ohne Menschenrechte keine Demokratie.

deutsch von Elke Wehr

* Romancier, Erzähler, Lyriker, Dramatiker und Essayist, geb. 1922, Literaturnobelpreis 1998. Auf Deutsch zuletzt erschienen: „Alle Namen“ (1999); „Das Zentrum“ (2002); „Die portugiesische Reise“, (2003); alle Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag). José Saramago ist Mitglied der Kommunistischen Partei Portugals und lebt auf Lanzarote.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2004, von JOSÉ SARAMAGO