13.08.2004

Der Uruguay ist ein fließender Himmel

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Der Uruguay ist ein fließender Himmel

Patagonien, das weite, malerische Land am Ende der Welt, ist ein Fluchtpunkt der Phantasie – nicht nur für Butch Cassidy, der einst vor den schnellen Pferden der US-Sheriffs hierher floh. Die Luft riecht nach Dung, Kräutern, Holz und ein wenig nach Colt, und fast alle Geschichten, die man hier hört oder erlebt, sind legendär.

Von LUIS SEPÚLVEDA *

WIR befanden uns in der Nähe von El Bolsón, einer malerischen Stadt an der Grenze zwischen den Provinzen Rio Negro und El Chubut. Die riesigen Pappeln am Rande des Friedhofs wogten im Wind, so dass sich ihre Kronen zu einer riesigen schützenden Kuppel verzweigten, die sich über die Gräber wölbte. Die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten, waren einmal an dieses südliche Ende der Welt gereist – im Gepäck ihre Träume, Hoffnungen und Pläne, Liebe und Hass und außerdem all die Dinge, die man braucht, um das kurze Wandeln auf Erden zu meistern. Sie waren aus allen Teilen der Welt gekommen – mit ihren Bräuchen und ihren Sprachen, um auf diesem vergessenen, vom Winde verwehten Friedhof zu enden, vereint in unterirdischer Ruhe und der universalen Sprache des Todes.

Ein Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel beugte sich über ein Grab und stellte eine Vase mit vertrockneten Blumen wieder auf.

„Wir haben gehört, dass Martin Sheffields hier liegt.“

„Der Sheriff? Der liegt dahinten, der alte Gauner“, knurrte er.

Der Mann war von unbestimmbarem Alter, sein von Sonne und Wind gegerbtes Gesicht undurchdringlich.

„Wissen Sie, welches Grab es ist?“, hakte ich nach.

„Ich weiß es, aber man muss sich ihm vorsichtig nähern; denn sie haben den Bastard mit seinen Colts in den Händen begraben, und wenn er schlechte Laune hat, kann es passieren, dass uns die Kugeln um die Ohren fliegen“, antwortete er und stiefelte los.

Wir folgten ihm, vorbei an den Gräbern von Polen, Italienern, Galiciern, Juden, Russen, Walisern und hier geborenen Schwarzen.

Martin Sheffields tauchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Patagonien auf. Er sprach ein spanisches Kauderwelsch mit texanisch-mexikanischen Einsprengseln, und sein bewegliches Vermögen bestand nur aus dem Nötigsten: zwei herrlichen, an den Oberschenkeln festgeschnallten Coltrevolvern, einem prächtig aufgezäumten Schimmel mit texanischem Sattel und einem Sheriffstern am Jackenaufschlag. Er schien einer der Geschichten von Marcial Lafuente Estefanía entsprungen, weitab vom Wilden Westen Nordamerikas.

„Hier liegt er, und ich hoffe, tief genug“, sagte der Mann und deutete auf ein Grab ohne jede Inschrift.

Die Erde auf dem Grab war gelb und trocken, beinahe so hart wie Stein, und darauf lag eine Margarite aus Plastik mit von der Sonne verbrannten Blütenblättern. Ein bescheidener Grabschmuck für eine der großen Legenden Patagoniens.

Wahrscheinlich starb er 1939, niemand weiß es genau, obwohl mehrere Biografien über ihn geschrieben wurden, alle nach dem Hörensagen und von Autoren, die versuchen, der Geschichte einer Region habhaft zu werden, deren Legenden, Mythen und Wahrheiten sich verändern, je nachdem wie der Wind gerade weht; denn die in Patagonien erzählten Geschichten scheren sich nun einmal wenig um chronologische Genauigkeit und strenge Objektivität. Sie sind vielmehr nur ein Vorwand, um sich endlose Geschichten zu erzählen, an Abenden mit Matetee beim Lagerfeuer.

Einige sagen, er sei eines gewaltsamen Todes gestorben, andere wollen wissen, dass er auf dem Rücken seines Schimmels einen Herzinfarkt erlitt, als er in den Flüssen, die den Seen der Anden entspringen, nach Gold schürfte. Wie es auch gewesen sein mag, als ein paar Maultiertreiber ihn fanden, war er schon mehrere Wochen tot.

Condore und Bussarde hatten sich längst über den ein Meter fünfundachtzig großen und über hundert Kilo schweren Kerl hergemacht. Sie hatten seine dicke Winterkleidung zerhackt und die Eingeweide verzehrt. Übrig geblieben war nur das blanke Gerippe – mit einem Revolver in jeder Hand. So fand man schließlich sein Skelett, und wären die Waffen nicht gewesen, hätte keiner gewusst, dass es Martin Sheffields war.

Die Maultiertreiber, anständige Leute, wie alle einsam lebenden Menschen, häuften Steine auf seine sterblichen Reste; und dort verblieben sie, am Bachlauf Las Minas, bis 1959 eines seiner zwölf Kinder, die er mit Maria Pichún hatte – einer Achtung gebietenden Mapuche, an die man sich immer noch mit Furcht erinnert –, seine Gebeine auf dem Friedhof von El Bolsón begraben ließ.

Maria Pichún, so wird berichtet, soll genauso groß und stark gewesen sein wie er. Anders ist wohl auch nicht zu erklären, dass, sobald sie in den Tavernen auftauchte, die Männer von den Spieltischen flüchteten und lieber ihre Karten durch die Luft fliegen sahen, als sich eine ihrer Ohrfeigen einzufangen, mit denen sie ihren Mann traktierte, bis er zu Boden ging. Aus sicherer Entfernung schauten sie zu, wie sie ihn zu seinem Pferd schleifte und schimpfte: „Dass mir keiner seine Karten anrührt. Er macht mir bloß noch ein Kind, dann kommt er zurück.“

Im Übrigen wird erzählt, dass das Skelett den Transport auf einem Laster über die Holperstraßen Patagoniens nicht überstand und auseinander fiel, aber seine Knochenfinger sollen weiterhin die beiden Colts umklammert haben.

Eine Margarite aus Plastik auf seinem Grab und der Sheriffstern in einer Vitrine des Museums von San Carlos de Bariloche ist alles, was von Martin Sheffields übrig blieb. Wirklich alles? Nein. Er hinterließ auch eine Geschichte, die vergnüglich anzuhören ist, die die Leute entzweit und Leidenschaften weckt. Wie bei Gaunern und Abenteurern so üblich.

Manche behaupten, er sei in Baltimore geboren, andere sagen, er habe in Tom Green, Texas, das Licht der Welt erblickt. In den Archiven der Agentur Pinkerton finden sich Dokumente, aus denen hervorgeht, dass er seine Jugend in Utah verbrachte. Ein Cowboy unter vielen, vielleicht etwas geschickter im Umgang mit der Waffe, und zudem Augenzeuge des Untergangs der „Wild Bunch“, einem Trupp von Bank- und Zugräubern, der unter anderen Berühmtheiten wie Black Jack Ketchum, Harry Tracey, „PO8“ Logan (ein Barde, der seine Missetaten in epischen Geschichten zum Besten gab), Flat Nose Curry und Butch Cassidy angehörten. Ende 1898 war es den Pinkertonleuten gelungen, im nordamerikanischen Westen das Recht des Stärkeren – der Viehzüchter und Eisenbahnunternehmer – durchzusetzen, nachdem sie so gut wie alle Banditen gefangen oder getötet hatten. Nur einer war ihnen entkommen: Butch Cassidy.

1901 traf bei Pinkerton eine Besorgnis erregende Nachricht ein: Butch Cassidy habe das Gebiet der Vereinigten Staaten an Bord des Dampfers „Soldier Prince“ mit Ziel Buenos Aires verlassen. Und er reiste nicht allein. Begleitet wurde er von einer jungen Lehrerin namens Etta Place sowie von einem Mann, der bisher in keinem Vorstrafenregister aufgetaucht war und sich Sundance Kid nannte. Sofort setzte die Agentur Pinkerton einen Detektiv auf die Spur von Butch Cassidy und wählte dafür Frank Dimaio, einen gebürtigen Italiener. Als dieser in Buenos Aires eintraf, fand er heraus, dass das Trio sechstausend Hektar Land in der Nähe von Cholila, in Patagonien, erstanden hatte; noch bevor er seine Reise in den Süden der Welt hatte antreten können, war er den Reizen der argentinischen Hauptstadt erlegen. Er hatte ein schönes Mädchen kennen gelernt, Tochter von Italienern, und folgte daraufhin dem Ruf eines sesshaften Lebens, das heißt er schickte Pinkerton zum Teufel und eröffnete ein Schuhgeschäft.

Im Stadtteil San Telmo, ganz in der Nähe des Platzes, auf dem jeden Sonntag der beste Antiquitätenmarkt der Welt stattfindet, gab es noch bis 1976 das Geschäft „Schuhwaren Dimaio“, und an einem Ehrenplatz im Laden hing die Detektivplakette des Gründers. In Lateinamerika kommt eben immer alles anders, als die Gringos es sich denken.

Im selben Jahr, 1901, sprach Martin Sheffields bei Pinkerton vor. Einige sagen, er sei im Hauptsitz der Agentur in Houston, Texas, angeheuert worden; andere, in San Francisco, wo er eine kurze Gefängnisstrafe wegen wiederholter Landstreicherei absaß. Wie auch immer; das auf Butch Cassidy ausgesetzte Kopfgeld von fünfzigtausend Dollar schien ihm wohl ein überzeugender Grund, Argentinien kennen zu lernen.

Am 6. Februar 1902 traf er in Buenos Aires ein. In dem Einwandererhotel am Hafen, das zwischen 1830 und 1960 tausende von Neuankömmlingen beherbergte, trug er sich ein als Martin Sheffields ein, Sheriff der Vereinigten Staaten, und vielleicht zeigte er sogar den silbernen Stern vor, den er mehrere Jahre zuvor einem echten, aber dem Suff erlegenen Sheriff in Montana abgenommen hatte. In seinem absonderlichen Tex-Mex-Spanisch wird er wohl gefragt haben, wie zum Teufel man nach Patagonien komme.

Die Blockhütte, die Etta Place, Butch Cassidy und Sundance Kid in der Nähe von Cholila bauten, steht heute noch, und sie ist so stabil gebaut, dass sie noch viele weitere Jahre halten wird. Heute wird sie von einer Familie namens Sepúlveda bewohnt. An einem Nachmittag, da der Himmel besonders dramatisch über uns hing, sprechen mein Partner und ich mit dem Hausherrn, Don Aladín Sepúlveda, einem alten Männlein mit dem Blick eines Kindes, doch gewitzt wie ein Fuchs, und trinken mit ihm Mate.

„Natürlich hat er sie gefunden. Er kam hierher und sprach mit ihnen. Ich war da noch nicht geboren, ich bin ja erst vierundachtzig, aber mein Vater hat es mir erzählt. Das muss 1907 gewesen sein; Sheffields kam auf einem Schimmel angeritten, was anderes ritt er nie, und vom Zaun her rief er: ‚Butch, Sun!‘, und die Männer antworteten auf Spanisch, dass sie Don Pedro und Don José hießen. Da fing Sheffields an zu lachen, dass er fast vom Pferd gefallen wäre, und danach haben sie sich in Gringosprache unterhalten.“

Wir werden nie erfahren, worüber sie geredet haben, aber offensichtlich kamen sie zu einer Übereinkunft, denn die Telegramme, die Sheffields zwischen 1902 und 1905 an die Detektei Pinkerton schickte, hatten alle den gleichen Wortlaut: „Argentinien ist ein großes Land. Ich bleibe ihnen auf den Fersen.“

1905 kam ein Nordamerikaner, der unter dem Namen Andrew Duffy reiste, zu der Blockhütte in Cholila. Sein richtiger Name war Harvey Logan, er war einer der Gründer der „Wild Bunch“, und zwei Jahre zuvor aus dem Zuchthaus von Knoxville, Tennessee, ausgebrochen, indem er sich auf altbewährte Weise den Weg freigeschossen hatte. Zurückgeblieben waren vier Wärter, die fortan die Radieschen von unten betrachteten. Im selben Jahr überfielen Butch Cassidy, Etta Place, Sundance Kid und der Neuankömmling die Banco del Sur in Santa Cruz.

Sheffields schrieb derweil Berichte an Pinkerton, die er aber nie abschickte. Jo Giglian, ein Neuseeländer und leidenschaftlicher Sammler von allem, was mit Butch Cassidy zu tun hat, zeigte mir in seinem Haus auf den Las-Guaitecas-Inseln ein in braunes Leder gebundenes Büchlein, das Martin Sheffields gehört haben soll. In einer Eintragung vom Oktober 1907 heißt es da: „Ich konnte auf sie schießen, als sie mit dem Geld der Waliser herauskamen. Ich konnte, aber ich tat es nicht.“ 1907 überfielen die drei Männer und die Lehrerin die Banco de la Nación in Villa Mercedes, und die Sache wurde komplizierter, weil Harvey Logan den Direktor erschoss. In Sheffields’ Büchlein heißt es dazu: „Zuerst habe ich die Frau nicht erkannt, weil sie wie ein Mann gekleidet war. Dieser Tote wird uns in Schwierigkeiten bringen.“

Wir werden nie erfahren, wie weit das Abkommen ging, das Butch Cassidy, Sundance Kid, Etta Place und Martin Sheffields in der Blockhütte von Cholila trafen, aber sehr wahrscheinlich wurde mit einem Teil der Beute aus den Banküberfällen das Schweigen des Sheriffs erkauft, denn 1907 erwarb dieser fünftausend Hektar Land in der Nähe von El Maitén, in der Provinz El Chubut. Die Verhandlungen dürften hart und überaus interessant gewesen sein. Wenn Harvey Logan auch daran teilgenommen hat, waren es vier gegen einen; vier Argumente verschiedener Kaliber gegen die zwei 45er Colts des Kopfgeldjägers.

Don Aladín Sepúlveda versicherte uns, seinem Vater zufolge habe das Treffen zwischen Sheffields und den Banditen mehrere Tage und Nächte gedauert. Sie betranken sich, schrien sich an, lachten, fluchten in einer Sprache, die der Kreole nicht verstand, und schließlich sei der Sheriff auf seinem Schimmel davongeritten.

„Wollt ihr wissen, was ich glaube?“, fragte Don Aladín Sepúlveda.

„Klar wollen wir das wissen“, antwortete ich und säbelte nebenbei ein paar Späne aus der Hüttenwand, die ich bis heute aufbewahrt habe.

„Sheffields hat ihnen gesagt, dass es keine Toten geben dürfe. Tote machen immer Probleme. Da kann einer der harmloseste Mensch der Welt sein, doch kaum ist er tot, wird das Leben für einige Leute sehr kompliziert.“

Das Bankgeschäft kann man bekanntlich auf zweierlei Weise betreiben: als Dieb mit Kragen und Krawatte oder als maskierter Räuber. Nach den Vorfällen von Villa Mercedes ließen Butch Cassidy, Etta Place und Sundance Kid ihre Bankgeschäfte für eine Weile ruhen. Harvey Logan verschwand spurlos, und Etta Place kehrte heimlich in die Vereinigten Staaten zurück, wo sie an Krebs starb. Butch und Sundance verkauften die Hütte in Cholila und begaben sich weiter nach Süden, ans Ende der Welt. Sie überquerten die Magellan-Straße und tauchten in Feuerland unter, wo sie in die Legende eingingen als zwei romantische Veteranen, die Banken überfielen und mit dem erbeuteten Geld anarchistische Revolutionen finanzierten.

Ein Grab ohne Namen mit einer Margarite aus Plastik. Mehr hat der Sheriff auf seinem Ritt durch Patagonien nicht hinterlassen.

„Gibt es hier noch jemanden, der ihn gekannt hat?“, fragte ich den Mann mit der Kippe im Mundwinkel.

„Nur noch eine Tochter. Die letzte überlebende Tochter dieses Gauners“, antwortete er in einem Tonfall, in dem sich Verachtung mit Bewunderung mischte.

Am nächsten Tag lernten wir Martin Sheffields’ Tochter kennen. Als wir es uns auf den Holzbänken des alten Patagonien-Express bequem gemacht hatten, den die Bewohner dieser Gegend zärtlich La Trochita – das Bähnchen – nennen, wurde uns allmählich klar, was den Sheriff mit dem Bau der Eisenbahn verband.

Es begann 1933 mit der Verlegung der Schienen von Ñorquinco nach El Maitén, als sich die Gleisarbeiter vom Fleisch der Schafe ernährten, die Sheffields gehörten. Er selbst machte sich derweil einen Spaß daraus, die Männer mit seinen Schießkünsten zu unterhalten. Er konnte einem Grünschnabel die Zigarette aus dem Gesicht pusten und einem anderen den Schnauzbart versengen; so etwas mit einer Kugel vom Kaliber 45 zu bewerkstelligen war zweifellos eine Kunst. Als die Strecke fertig gestellt war, spendierte Martin Sheffields sechs Jungstiere und dreißig Schafe für das große Grillfest, mit dem das Ereignis gefeiert wurde. Wir fanden mehrere alte Leute in El Maitén, Esquel, Leleque und Cholila, die sich an den großzügigen Gringo erinnerten. Seine Verachtung für Reichtum und Geld sowie die Spur von Söhnen und Töchtern, die er dort unten im Süden hinter sich herzog, trieben ihn schließlich in den Ruin. Darum war er, als er starb oder getötet wurde, auf Goldsuche.

Das Schmalspurbähnchen schlich dahin, der sichtbare Verfall der Gleise und die engen Kurven machten eine Geschwindigkeit von mehr als vierzig Kilometern in der Stunde unmöglich. Die alte Dampflok fauchte wie ein müder Drache, und der allgegenwärtige Wind, der am Himmel des Südens nichts neben sich duldet, riss den Qualm, der aus dem Schornstein hervorquoll, unerbittlich auseinander. Das Schaukeln lud zum Schlummern ein oder zu einem Schwätzchen mit dem Sitznachbarn.

„Wissen Sie, wer Martin Sheffields war?“, fragte ich einen Alten, der mir sogleich von seinem Mate anbot.

„Und ob ich das weiß! Der war hier bekannt wie ein bunter Hund“, sagte er und nahm eine Zigarette von mir an.

„Erzählen Sie mir von ihm.“

„Er war ein einsamer Mann. Er hatte viele Freunde und viele Kinder, aber er war ein einsamer Mann. Kein Mensch weiß, woher er das viele Geld hatte, um all das Land zu kaufen, das er hinterher verloren hat. Angeblich war er gekommen, um die amerikanischen Banditen zu fangen, aber das hat er nicht getan. Er war ein großartiger Schütze, und wenn er betrunken war, hat er sich oft herbe Scherze ausgedacht. Er wettete, beispielsweise, dass er einer Dame die Absätze von den Schuhen schießen konnte, und dann tat er es. Wenn der Freund oder Ehemann kam und ihn zur Rede stellte, schenkte er dem zwei Schafe, und damit war der Fall erledigt. Er besaß über hunderttausend Schafe, als die Wolle ihr Gewicht in Gold wert war, aber er war angezogen wie ein Vagabund. Er war immer unterwegs, immer allein. Auf seinem Schimmel ritt er von Cholila nach Esquel, von Ñorquinco nach Portezuelo, immer allein. Manchmal hielt er bei einer Taverne an, spielte, verlor ein Vermögen, nahm ein Weib auf den Schoß und sang mit ihr, doch plötzlich stand er auf, setzte sich weg in eine Ecke und trank allein für sich weiter. Im Grunde war er ein einsamer Mann; aber nicht weil seine Freunde, seine Frauen oder seine Kinder ihn verlassen hätten, sondern weil er sich selbst aufgegeben hatte. Ein einsamer, sonderbarer Mann, aber immer gut gelaunt und voller Humor. Kennen Sie die Geschichte von dem Plesiosaurus?“

Das war Sheffields’ größter Streich. Irgendwann 1922 schrieb er einen Brief an den Direktor des Zoos von Buenos Aires und berichtete ihm von der Existenz eines Tieres, das in der Schwarzen Lagune lebte. Seine Beschreibung war so exakt und ausführlich, dass Wissenschaftler und Naturforscher keinen Zweifel daran hatten, dass es sich um einen Plesiosaurus handeln musste. Dutzende von Forschungsgesellschaften auf der ganzen Welt stritten sich darum, wem das Recht zukomme, den Plesiosaurus einzufangen. Warren Harding, der damalige republikanische Präsident der Vereinigten Staaten, drohte sogar mit Sanktionen für den Fall, dass man das weitere Schicksal des Plesiosaurus nicht in die Hände des Smithsonian Institutes lege; für die englische Krone galt es als ausgemacht, dass der Plesiosaurus von Fachleuten des Britischen Museums untersucht werde, und am Ende komponierte ein Musiker sogar den „Tango des Plesiosaurus“, der überall gesungen wurde.

Schließlich kamen alle, die sich des prähistorischen Tiers bemächtigen wollten, nach Buenos Aires und machten sich von dort aus unter Knüffen und Schubsen auf den Weg nach Patagonien. Da entdeckten sie dann, dass das Tier aus der Schwarzen Lagune ein mit Kuhfell überzogener Baumstamm war. Die Patagonier lachten sich halbtot über Sheffields’ Streich und tun es heute noch, aber weder die Wissenschaftler damals noch die argentinische Regierung nahmen den Fall mit demselben Humor.

In El Maitén verließen wir den Alten Patagonien-Express und machten uns auf den staubigen Weg zum Haus von Juana Sheffields, der letzten noch lebenden Tochter des Abenteurers und Spaßvogels. Um uns bei Laune zu halten inmitten des aufwirbelnden Staubs, der unsere Kehlen austrocknete und um unsere Kameras fürchten ließ, sangen wir unter dem missbilligenden Krächzen der Kiebitze aus voller Brust, „der Uruguay ist kein Fluss, er ist ein fließender Himmel“, bis nach einigen Stunden Fahrt vor uns die Hütte auftauchte, die der Sheriff ehedem für seine Tochter gebaut hatte.

Es war ein Ort von überwältigender Schönheit, wo Steineichen, Pappeln und Büsche wuchsen; die Luft war erfüllt von dem Duft nach frischem Holz aus den patagonischen Anden und von dem kräftigen Geruch, den der Dung gesunder Rinder verströmt. Das köstliche Aroma von Kräutern ließ das Herz frohlocken.

Doña Juana Sheffields war sechsundachtzig Jahre alt. Sie stützte sich beim Gehen auf einen Stock und wirkte überaus stolz, beinahe hochmütig. Die Landschaft ihres Antlitzes erzählte von Liebe und Hass – ein typisch patagonisches Gesicht, eine Mischung aus Mapuche-Mutter und Gringo-Vater, der seinerseits wer weiß was für Blut in seinen Adern hatte.

Sie forderte mich auf, ihr und der Mateschale gegenüber Platz zu nehmen. Nicht ohne Koketterie strich sie ihre Schürze glatt, fuhr mit der Hand prüfend über das weiße Haar, das sie zu einem energischen Knoten zusammengebunden hatte. Während mein Freund und Reisegenosse sie fotografierte, fragte sie, was uns zu ihr führe.

„Ihr Vater. Erzählen Sie uns von Ihrem Vater.“

„Martin Sheffields. Der Sheriff Martin Sheffields. Er hat dieses Haus gebaut und noch viele weitere. Er war ein Mann. Er wurde geliebt und gehasst, weil er ein Mann war. Es war nie leicht, ein Mann zu sein.“

„Ein stets zu derben Scherzen aufgelegter Mann.“

„Unfug. Er hatte Humor, aber er hat nie einem Menschen etwas zuleide getan. Sicher, wenn er betrunken war, hat er manchmal Zielschießen veranstaltet. Einmal hat er schlecht gezielt und einem Gaucho die Nase abgeschossen, aber er hat keinem Menschen je was zuleide getan.“

„Manche sagen, mal war es die Nase, mal der ganze Kopf.“

„Na und? So war das Leben damals. Es war nicht leicht; das Leben in Patagonien war nie leicht. Außerdem, gelebt und gestorben wird überall. Er starb allein. So müssen Männer sterben.“

„Wir haben sein Grab besucht. Es ist ziemlich verwahrlost.“

„Es war falsch, seine Gebeine auf den Friedhof zu bringen. Wir hätten sie lassen sollen, wo sie gefunden wurden, am Bach von Las Minas. Aber die Söhne und Töchter sind schwach. Es gibt keine Männer mehr wie meinen Vater, und die beste Art, ihm Respekt zu zollen, ist, nicht zum Friedhof zu gehen.“

Bevor wir aufbrachen, überreichte uns Doña Juana Sheffields ein frisch gebackenes Brot und gekochte Eier für die Reise. Die liebevolle Art, mit der sie alles in ein Tuch einschlug, strafte ihre harten Worten und herrischen Gesten Lügen.

Als wir zurückfuhren, kündigte der dramatische Himmel über uns ein bevorstehendes Gewitter an, was uns nicht weiter störte, da wir wussten, dass jeder Weg ständig Überraschungen bereithält. Eine halbe Stunde später sahen wir, wie der Wolkenbruch über einem weiten Tal niederging; wir fuhren unter einem imposanten Regenbogen hindurch, und als wir die Landstraße nach Cholila erreichten, hielten wir an, um einem Trupp Reiter nachzuschauen, der in gestrecktem Galopp vorüberzog.

Einer der Reiter saß auf einen Schimmel, und wir fragten uns, ob die Reiter auf dieser oder auf der anderen Seite des Lebens über die Ebene galoppierten, und ob einer von ihnen vielleicht einen Sheriffstern am Revers trug.

deutsch von Willi Zurbrüggen

* Chilenischer Autor, u. a. von „Der Alte, der Liebesromane las“ Frankfurt (Fischer) 1994; geb. 1949, ging nach politischem Engagement in Studenten- und Gewerkschaftsbewegung ins Exil nach Ecuador, gründete Theatergruppen und arbeitete als Journalist. Er lebt heute in Spanien. Sepúlveda beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der wahren Geschichte der legendären Bankräuberbande um Butch Cassidy und Sundance Kid. Er reiste zusammen mit dem Fotografen Daniel Mordzinski nach Patagonien; ihre gemeinsame Reportage erscheint in Frankreich demnächst unter dem Titel „Dernières nouvelles du Sud“.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2004, von LUIS SEPÚLVEDA