13.08.2004

Nachbarn, Scanner, Zielobjekte

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Nachbarn, Scanner, Zielobjekte

Trotz der hohen Fehleranfälligkeit setzen Regierungen und Unternehmen auf die Weiterentwicklung der Instrumente zur Personenkontrolle – und die Personen kooperieren viel zu bereitwillig.

Von DENIS DUCLOS *

DIE Stadt Boston hat ihre aufwändigen Experimente mit Videoüberwachungsanlagen abgebrochen. Der Flughafen, an dem zehn der neunzehn Terroristen des 11. September 2001 eincheckten, stellte die Erprobung eines kameragestützten Systems der Gesichtserkennung ein, als von den 40 Angestellten, die sich für einen Versuch zur Verfügung gestellt hatten, nur 60 Prozent richtig identifiziert wurden. Die Polizei in Tampa, Florida hatte kurz zuvor ähnliche Experimente aufgegeben. Angesichts der hohen Fehlerrate – Unschuldige wurden festgenommen, in Polizeiakten registrierte Gesichter dagegen nicht erkannt – wurden viele Systeme dieser Art wieder fallen gelassen. Dazu meint der Sprecher einer amerikanischen Bürgerrechtsinitiative: „Vielleicht ist das ganze Konzept falsch; vielleicht ist es nur eine Neuauflage des Lügendetektors, der für seine Fehleranfälligkeit bekannt ist, obwohl seine Befürworter seit Jahrzehnten ankündigen, dass er eines Tages funktionieren werde.“

Die Parameter der Gesichtserkennung – Form der Augenhöhle, Wangenform, Mundwinkel, Sitz von Nase und Augen – reichen als Kriterien nicht aus. Zu groß ist die Zahl der ein Gesicht prägenden Merkmale. Diese verändern sich mit Alter und Gesichtsausdruck und lassen sich auch gezielt manipulieren, so dass die Trefferwahrscheinlichkeit unzumutbar sinkt. Das Problem ist womöglich prinzipieller Natur – was viele Stadtverwaltungen nicht davon abhält, viel Geld für entsprechende Gerätschaften auszugeben.

Der eigentliche Zweck solcher Sicherheitsmaßnahmen ist also offenbar eine abschreckende Wirkung. So installierten die israelischen Behörden an der Straße nach Gaza das System „Basel“, eine Kombination aus elektronischer Hand- und Gesichtserkennung, um mit Hilfe von Kamera und Chipkarte täglich 30 000 Palästinenser auf ihrem Weg zur Arbeit zu überprüfen. Doch je höher die Zahl der mutmaßlich Verdächtigen liegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Person zu erkennen.

In der Unterhaltungsindustrie versucht die Walt-Disney-Gruppe die Besitzer von Saisonkarten per Fingerabdruckscanner zu identifizieren, um zu verhindern, dass sie ihre Karten an Freunde weitergeben. Doch diese Technologie erwies sich als noch fehleranfälliger als die Handgeometrieerkennung, auch hier dürfte es also eher um den Abschreckungseffekt gehen. Das gilt wohl auch für die Behauptungen des Neurologen und FBI- und CIA-Favoriten Larry Farwell, wonach man die Absichten einer Person durch Scannen ihrer Hirntätigkeit bestimmen könne (brain fingerprinting).

Man mag einwenden, dass sich Systeme wie zum Beispiel die Abnahme von Fingerabdrücken durchaus bewährt haben. Fachleute wissen jedoch – auch wenn sie es nicht laut sagen –, dass auch diese Methode nicht unfehlbar ist. So lassen sich etwa ältere Leute, manche asiatische Bevölkerungsgruppen und auch Menschen, die häufig schwere Handarbeit verrichten, durch Fingerabdrücke nicht eindeutig identifizieren. Um der Öffentlichkeit zu imponieren, setzen private und staatliche Polizeiorgane modernste Techniken ein – egal wie gut sie funktionieren.

Handgeometrie für Vielflieger

DAS gilt zum Beispiel auch für die „biometrischen Kontrollen“ – ein Sammelbegriff für den klassischen Fingerabdruck und andere Erkennungsmerkmale wie etwa Iris und Handform. Dass ihr Einsatz derzeit weiter entwickelt wird, hat nicht zuletzt mit der öffentlichen Akzeptanz zu tun. Das „Inspass“-Programm zum Beispiel („Immigration and Naturalization Service Passenger Accelerated Service System“ ) erspart es Vielfliegern zwischen Los Angeles, Miami, Newark, New Jersey, New York, Washington, Toronto und Vancouver, vor jedem Start ein Ausweisdokument vorlegen zu müssen. Sie bekommen eine Chipkarte mit den Daten ihrer Handgeometrie, die auch zentral gespeichert sind, und identifizieren sich an der Kontrollstelle, indem sie ihre Hand auf einen Scanner legen. Bis 2001 ließen sich so 50 000 Personen freiwillig registrieren.

Ohne freiwillige Mitarbeit kann diese Technik tatsächlich kaum funktionieren. Ein auf biometrische Verfahren spezialisiertes Gutachterbüro erklärt: „Die Technologien für das Gesichtsscanning kann man praktisch nicht für die Identifizierung einsetzen, wenn die Kooperation verweigert wird.“

Unbestreitbar ist andererseits, dass viele Menschen am Kontrollieren anderer Menschen spontan Gefallen finden. Erinnert sei an die versuchsweise Installation eines Videoüberwachungssystems in einem französischen Wohnkomplex, das die Aufnahmen aus der Eingangshalle in sämtliche Wohnungen übertrug – und den Bewohnern nach Verabschiedung der Sarkozy-Gesetze die Möglichkeit bot, auffällige Jugendliche bei der Polizei anzuzeigen. Der Erfolg der Anlage gibt zu denken, belegt er doch, mit welcher Lust die Leute ihren Nachbarn hinterherschnüffeln.

Soziale Kontrolle als oberstes Gebot eines reibungslos funktionierenden Gesellschaftsapparats setzt sich immer mehr durch, seit Privatpersonen oder Firmen Überwachungssysteme installieren können, was lange Zeit Behörden vorbehalten war. Aber umgekehrt beobachten wir auch die institutionelle Vereinnahmung von Instrumenten, die den Kompetenzbereich zwischen Polizei und Bürger oder Verbraucher verwischen. Ein Beispiel sind die ans Internet gestöpselten Webcams, die erst als interaktives Produkt zur Intensivierung des Kontakts beworben, anschließend zur privaten Überwachung des eigenen Heims (oder der Zweitwohnung) eingesetzt und schließlich direkt mit polizeilichen Alarmsystemen vernetzt wurden.

Die Kontrolle des Einzelnen zielt keinesfalls nur auf Überwachen und Strafen. Im Gegenteil, gerade um Strafen zu vermeiden, sympathisiert die Öffentlichkeit mit technizistischen Lösungen, die systembedingte Probleme angeblich bei der Wurzel packen. Um Ausgaben für ein automatisiertes Verkehrsleitsystem zu rechtfertigen (und die Handlungsfreiheit des Einzelnen einzuengen, die als Hauptursache von Fahrfehlern wie von Verkehrsunfällen gilt), appelliert der Staat an die emotionale Vernunft: „Jährlich 41 000 Verkehrstote auf den Straßen Europas“ scheinen ein zwingendes Argument für die Entwicklung intelligenter Verkehrssysteme mit ferngesteuerten Autos – Cybercar heißt das Projekt.

In den USA und in Japan sind bereits „Automated Highway Systems“ (AHS) in Arbeit, während das französische Arcos-Projekt mehrere Systemen entwickelt, die vom einfachen Warnsystem bis zur vollautomatischen Verkehrsführung reichen. Zurzeit versuchen die Ingenieure gemeinsam mit Juristen die rechtlichen Fragen solch „invasiver“ Fahrerunterstützung zu klären. Meinungsumfragen zeigen jedenfalls, dass die Öffentlichkeit das Projekt eher befürwortet.

Als Vermittler zwischen Öffentlichkeit und staatlicher Institution bietet sich immer offensiver der technische Experte an. In zahlreichen Berufen entwickelt sich die technische zur sozialen Kontrolle, was dazu beiträgt, dass Letztere in der öffentlichen Wahrnehmung als etwas ganz Normales erscheint, was wiederum die Behörden ermutigt, ihren technischen Apparat auszubauen.

Die Elektroschockwaffe Taser X26 soll widersetzliche Personen zur Vernunft bringen, „ohne ihnen den geringsten Schaden zuzufügen“. Die voluminöse Handwaffe wurde bereits in 41 Ländern eingeführt und gilt als die Polizeiwaffe des 21. Jahrhunderts schlechthin. Der Taser schießt auf sechs Meter Entfernung mit einer Geschwindigkeit von 50 Metern pro Sekunde zwei kleine Nadelpfeile ab, die über feinste, aber hochrobuste Drähte mit der Abschusspistole verbunden sind. Die Widerhaken der Pfeile setzen sich in der Kleidung oder im Körper des „Zielobjekts“ fest und senden Stromstöße von 1,5 Milliampere aus. Diese Impulse lähmen das zentrale Nervensystem und stören die Kommunikation zwischen Gehirn und Muskeln. Der Schuss selbst hinterlässt keine äußeren Spuren.

Die Ideologie der Kontrolle verbreitet sich auch mittels einer „techno-militärischen“ Umkodierung des Zusammenlebens. Man kann es auf einem großen Bahnhof erleben, wenn Patrouillen und Durchsagen die Reisenden zur Wachsamkeit vor Terrorakten ermahnen; oder beim Betreten einer Apotheke, wo der Verkäufer hinter einem bankschalterartigen Tresen steht und mittels Videokamera jede Bewegung aufgezeichnet wird, während die akustische Werbung auf die Kunden einredet: „Prüfen Sie ihren Blutdruck, prüfen Sie Ihr Gewicht.“

Ein weiteres Beispiel: In Frankreich und Deutschland wurden in einigen Schulkantinen mit Zustimmung der Eltern Handgeometrie-Scanner aufgestellt, um zu überprüfen, welche Schüler in der Kantine essen. Weder Lehrer noch Eltern und Schüler fühlen sich dadurch bespitzelt. Sie alle halten das für eine erstrebenswerte Form von Informationsauswertung.

Selbst Berufe, die eigentlich die Befreiung des Individuums ermöglichen sollen, lassen sich vom allgemeinen Regulierwahn anstecken. Als der französische Gesundheitsminister Jean-François Mattéi die Novellierung des Psychotherapie-Gesetzes zurückziehen wollte – das neue Gesetz sollte „Scharlatanen ohne Diplom“ das Handwerk legen –, boten sich einige Psychoanalytiker an, in den eigenen Reihen Polizei zu spielen.

Solch eilfertige Mitarbeitsangebote sind beunruhigend. Man fühlt sich an die politkommissarischen Weisungen erinnert, denen sich Psychiater in der alten Sowjetunion fügen mussten. Damals galt als anormal, wer mit dem Regime nicht einverstanden war. Heute bestimmen technowissenschaftliche Diagnostik und Therapie, was normal ist, und wer diese Legitimität nicht anerkennt, gilt als gefährlich.

Viele, die in sozialen Berufen tätig sind, wehren sich aber auch: In den Vereinigten Staaten haben zahlreiche Organisationen gegen die Videoüberwachung im öffentlichen Raum protestiert. In Frankreich waren es die Sozialarbeiter und Erzieher, die sich gegen die Legalisierung der Denunziation wehrten, weil sich damit jegliche Politik, die Verbrechensprävention anstrebt, diskreditiert.

Im Übrigen erweist sich die verallgemeinerte Kontrollwut tendenziell doch als kontraproduktiv. So scheint die jüngste Wahlniederlage der Rechtsparteien in Frankreich zum Teil auch damit zu tun zu haben, dass es eine kollektive Angst vor einer weiteren Automatisierung der Kontroll- und Sanktionssysteme gibt. Auch das Konfliktpotenzial solcher Technologien wurde wohl unterschätzt. Seit Mai dieses Jahres sind europäische Fluggesellschaften verpflichtet, bei Flügen in die USA personenbezogene Daten ihrer Passagiere – insgesamt sind es 34 Datenkategorien – an die amerikanischen Behörden zu übermitteln. Darüber hinaus sollen Pässe in Zukunft standardmäßig biometrische Daten enthalten.

Die an solchen Kontrolltechnologien arbeitenden Fachleute sehen durchaus die Möglichkeit von Fehlentwicklungen. Ein Manager aus der Automobilindustrieberichtet zum Beispiel, dass sein Unternehmen an automatischen Lenksystemen arbeitet, die das Fahrzeug in eine andere als die vom Fahrer vorgegebene Richtung lenken können. Der Bordcomputer kann also falsche Lenkmanöver ausgleichen. Womöglich lassen sich solche intelligenten Systeme eines Tages auch dazu nutzen, ein gestohlenes Auto wiederzufinden. In Verbindung mit Fernüberwachungssystemen, eingebautem Radar und GPS wäre folgendes Szenario vorstellbar: Am anderen Ende der Welt wird Ihnen Ihr Auto gestohlen. Sie werden davon umgehend informiert und sehen Ihren Wagen auf ihrem Handy. Per Handytastatur übernehmen Sie die Kontrolle und steuern ihn wie in einem Videospiel zur nächsten Polizeidienststelle, die Sie via Satellit in der Zwischenzeit informieren. In Echtzeit, versteht sich.

Zusätzlich haben Sie die Möglichkeit, dem Dieb einen heftigen Stromstoß in den Hintern zu versetzen – so etwas soll künftig in Taxis eingebaut werden und ist in manchen Ländern schon im Einsatz –, damit der Delinquent den Polizisten keinen Widerstand leisten kann, wenn Sie die Tür ferngesteuert entriegeln.

Vorstellbar wäre allerdings auch, so derselbe Ingenieur, „ein anderes Szenario: Sie sind ein politischer Oppositioneller, und eines Abends, auf dem Heimweg von einer Versammlung, schlägt Ihr Auto trotz energischer Lenkmanöver nicht den Weg ein, der Sie nach Hause bringt, sondern steuert einen entlegenen Boulevard an, wo es vor einer großen anonymen Lagerhalle anhält. Die Türen lassen sich nicht öffnen, bis maskierte Kerle Sie ohne Federlesens aus dem Auto zerren und in einen riesigen gekachelten Raum werfen, wo bereits hunderte von Gleichgesinnten, Aktivisten und Sympathisanten, die ebenso wenig Glück hatten wie Sie, versammelt sind.“

Was dann möglich ist, will man sich noch gar nicht ausmalen. Wie jugendliche Demonstranten beim Europäischen Sozialforum berichteten, existieren solche Hallen im Großraum Paris bereits und warten darauf, ganze Gruppen „straffälliger Menschen“ aufzunehmen, die etwa bei verbotenen und als gewalttätig ausgemachten Demonstrationen abgegriffen wurden. In diesem Zusammenhang ist auch an die Infraschallkanonen zu denken – eine Waffe, die aus dem Labor der syldavischen Geheimpolizei („Tim und Struppi“) stammen könnte. Durch niederfrequente Schwingungen können damit sogar große Menschenansammlungen matt gesetzt werden.

Die höchste Wirksamkeit verspricht oft ein Kombination von Methoden, bei der die Menschen möglichst wenig in Erscheinung treten. So wissen wir etwa, dass eine fast unfehlbare Methode zur „gewaltlosen“ Erzwingung von Geständnissen in der sensorischen Deprivation besteht, also durch Unterbringung in schalldichten Räumen. Die „weiße Folter“ ist als solche zwar nicht anerkannt, aber höchst wirksam, und sie wird von der US-Armee derzeit bei den Gefangenen auf Guantánamo angewandt.

„Wissenschaftliche Bevölkerungskontrolle“ ist alles andere als der harmlose Versuch der Demokratie, sich an veränderte Gegebenheiten anzupassen. Das aber sind offenbar viele Zeitgenossen zu glauben bereit, die sich zu Recht gegen die wachsende Unsicherheit auflehnen. Die Methode birgt den Keim eines inakzeptablen Autokratismus. Aus diesem Grund sind die Bürger hier zu größter Wachsamkeit aufgerufen, egal ob sich die Kontrolle als Anweisung zum gesteigerten Wohlbefinden, als Vorbeugung gegen Verkehrsunfälle oder als Instrument zur Identifizierung von Terroristen ausgibt.

deutsch von Bodo Schulze

* Forschungsleiter am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), Paris; Autor von unter anderem „Fra Diavolo“, Paris (Le Passage) 2004.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2004, von DENIS DUCLOS