12.09.2003

Die feine Struktur des Protests

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Die feine Struktur des Protests

VOR kurzem lief er in den deutschen Kinos, in Farsi mit deutschen Untertiteln, der neue Film „Ten“ von Abbas Kiarostami. Seit einigen Jahren findet das iranische Kino auch in den europäischen Ländern ein aufmerksames Publikum. Es ist kein großes episches, sondern eher ein dokumentaristisch anmutendes Kino, unaufgeregt und nahe am Alltag. Und bei aller kulturellen Fremdheit scheint es in der Thematik und der Psyche seiner Protagonisten eine universelle, zumindest aber auch den Westen betreffende Gültigkeit zu besitzen. Das ist erstaunlich, zumal das Kino im Iran lange Zeit eine wichtige Rolle in den internen politischen Auseinandersetzungen des Landes spielte. Von JAVIER MARTIN und NADER TAKMIL HOMAYOUN *

Wenn früher vom Iran die Rede war, dachte man an Öl, Kaviar, Teppiche und den Savak(1). Mittlerweile ist der Film derjenige Exportartikel, auf den man am meisten stolz ist. In weniger als zwanzig Jahren hat sich das iranische Kino auf allen internationalen Festivals durchgesetzt. Es ist eigenständig und besitzt seine eigenen Codes in einem eigenen Bezugssystem, seine eigene Ästhetik und seine eigenen Autoren. Es ist zu einem wichtigen Ausdrucksmittel der Zivilgesellschaft geworden. Das westliche Publikum schätzt es vermutlich deshalb, weil es ein nahezu dokumentarisches Bild eines Landes liefert, das es wenig kennt.

Den entscheidenden Aufschwung erlebte das iranische Kino paradoxerweise nach der islamischen Revolution vom Februar 1979.

Seit seinen frühesten Anfängen unterhielt der iranische Film ganz spezielle Beziehungen zur jeweiligen Staatsmacht. Alles begann 1900, als Mozaffar ed-in Shah, der fünfte Herrscher der Qajar-Dynastie, sich auf einer Europareise eine Kamera kaufte. Sein offizieller Fotograf, Mirza Ebrahim Khan Akass Bashi, filmte am 18. August 1900 eine Blumenschau in Ostende. So entstand der erste von einem Iraner gedrehte Film. Doch der Film blieb lange Zeit lediglich ein Spielzeug zum Privatgebrauch des Schahs.

Während ab 1904 anderswo sehr rasch erste Vorführsäle entstanden, war es in Teheran und der umliegenden Provinz erst in den Zwanzigerjahren so weit. 1928 wurde sogar ein Kinosaal ausschließlich für das weibliche Publikum eröffnet. Das kühne Experiment erwies sich allerdings als wirtschaftlicher Misserfolg.

Seit jener Zeit schwanken die religiösen Führer, die sich der Macht der Bilder sehr wohl bewusst sind, zwischen Furcht und Anziehung. Groß ist die Versuchung, ein Verbot auszusprechen: Die Filme aus dem Westen können Wertvorstellungen in Umlauf bringen, die zu denen des Islam und der iranischen Kultur im Widerspruch stehen. Doch statt sich dieser verführerischen Erfindung entgegenzustellen, entschied man sich dafür, die Entwicklung eines eigenen iranischen Kinos zu fördern, um dieses – bei einer mehrheitlich analphabetischen Bevölkerung – in den Dienst der Erziehung, der Moral und der nationalen Identität stellen zu können.

Nach und nach erlangte der Film in dieser traditionalistischen Gesellschaft seine Berechtigung. Doch der erste abendfüllende Spielfilm wurde erst 1932 gedreht: „Hadji Agha, Aktor-e-Cinema“ („Hadji Agha, Filmschauspieler“) von dem Regisseur Ovanes Ohanian. Es ist der einzige noch erhaltene iranische Streifen aus der Stummfilmzeit, der parodistisch und in unbewusster Vorahnung die Feindseligkeit aufs Korn nimmt, die man dem Kino im Land entgegenbringen sollte.

Ein Jahr darauf drehten Ardeshir Irani und Abdol Hossein Sepanta in Indien „Dokhtar-e-Lor“ („Die Tochter aus dem Stamm Lor“), den ersten Tonfilm und den ersten Film, der einer Zensur unterlag. Die Behörden machten dem Regisseur einen absurden propagandistischen Schluss zur Auflage: Ein Hellseher verkündet, dass eines Tages ein Stern – Reza Schah – aufgehen und das Land aus dem Chaos führen, vom Banditentum befreien und ihm den Glanz der Vergangenheit wiedergeben werde. Trotz des viel versprechenden Erfolgs dieses Films wurden, da es an privatem Kapital fehlte, individuelle Initiativen immer seltener, und zwischen 1938 und 1948 kam die Filmproduktion völlig zum Erliegen. Amerikanische, indische und ägyptische Produktionen beherrschten damals den Markt.

Mit gerade mal dreizehn Filmen auf der Habenseite bis 1950 gelang es der iranischen Produktion mit dem „Farsi“-Film schließlich Fuß zu fassen. „Farsi“-Filme sind stark indisch oder ägyptisch geprägte Unterhaltungsfilme von gewöhnlich sehr mittelmäßiger Qualität, die allerdings den Vorzug haben, das für den Aufbau und die Entwicklung einer echten Filmindustrie notwendige private Kapital anzulocken. „Ganj-e-qaran“ („Der Schatz von Gharon“) von Siamak Yassami, 1965, wurde ein Riesenerfolg.

Durch die kommerzielle Produktion stimuliert, erfuhr das volkstümliche Kino zu dieser Zeit einen gewaltigen Aufschwung: 300 Kinosäle landesweit im Jahr 1963 und 33 Millionen verkaufte Eintrittskarten allein in Teheran! In den meisten der Komödien oder Krimis finden sich soziale Milieuschilderungen und die Sichtbarmachung bestimmter Konflikte (zwischen Arm und Reich, Tradition und Moderne). Sehr populär wurden die „Djahel“-Filme(2), ein typisch iranisches Genre, wie zum Beispiel „Der großherzige Gauner“ von Madjid Mohseni (1958). Ihre Helden sind großzügige Spitzbuben, und durch sie werden indirekt Themen wie Armut und soziale Ungerechtigkeit angesprochen –Übel, unter denen ein Großteil der Bevölkerung leidet, der von einer solchen Lichtgestalt träumt.

Mit bedeutenden Filmemachern wie Farokh Gaffary – Assistent bei Henri Langlois, Kritiker bei der Filmzeitschrift Positif und Gründer der Iranischen Kinemathek im Jahr 1958 –, dessen Film „Südstadt“ (1958) fünf Jahre lang verboten blieb, oder wie Ebrahim Golestan, dem Regisseur des bemerkenswerten Films „Der Backstein und der Spiegel“ (1965) und Produzenten von „Khaneh Siah Ast“ („Das Haus ist schwarz“, 1962) unter der Regie seiner Lebensgefährtin Forough Farrokhzad, nahm schließlich der „Autorenfilm“ Gestalt an.

Die Kuh, der Reisende und der Ruf des Mudschahed

DAS seit 1969 stark betonte politische Engagement ließ bis zur Revolution von 1979 nicht nach. Dafür stehen zwei Filme: „Gaaw“ („Die Kuh“) von Darius Mehrjui und „Gueyssar“ von Massoud Kimiai. Eine ganze Generation von Filmemachern – Kiarostami („Der Reisende“), Beyzai („Ragbaar“ – „Der Platzregen“), Naderi („Lebwohl, mein Freund“) , Kimiavi („Mogholha“ – „Die Mongolen“), Shahid Saless („Yet Ettefaaghe saadeh“ – „Ein einfaches Ereignis“)(3) – greift zwischen Nouvelle Vague, italienischem Neorealismus und schiitischem Fatalismus zur Kamera, um das Elend des Volkes zu zeigen. Sehr sehr bald bekommt diese Bewegung den Namen „Cinemay-e-motofavet“ („Der andere Film“).

So gelang es den Filmemachern, sich zu artikulieren und, wenn auch unter Schwierigkeiten, durch die Maschen der Zensur zu schlüpfen. Der mitunter sehr heftige Protest wurde mit großer Finesse ins Werk gesetzt, durch eine Vielfalt von Interpretationsebenen und durch ein ständiges Wechselspiel von Realität und Fiktion. So denunzierte Amir Naderi in „Die Harmonika“ (1973), scheinbar ohne Absicht, die Ausbeutung der Bauern durch die Großgrundbesitzer und die des Landes durch den Schah. Behrouz Vossoughi, der große Filmstar, spielt in „Reza, der Motorradfahrer“ einen Verrückten, der aus der Psychiatrie geflohen ist und sich mit einem Intellektuellen verwechseln lässt, der ihm ähnlich sieht. Beide Filme brachten das Unbehagen an einer Gesellschaft zum Ausdruck, die in einem Land, das aus der Asche der Vergangenheit Modernität erzeugen wollte, funktionsunfähig geworden war.

Doch als 1979 die Standbilder des Schahs gestürzt wurden, waren es nicht nur die Banken, die (als Symbole des Wirtschaftsimperialismus und der Finanzwelt) mit Steinen beworfen und angegriffen wurden: Auch die Cafés wurden verwüstet und Kinos niedergebrannt.

Dass die islamische Revolution das Kino angriff, erscheint auf den ersten Blick folgerichtig: in den dunklen Kinosälen kann man entblößte Frauen sehen. Alles ließ erwarten, dass mit dem iranischen Kino Schluss sein würde. Doch einen Tag nach seinem Sieg vom 11. Februar 1979 gab Ajatollah Chomeini eine überraschende Erklärung ab: Er tolerierte das Filmschaffen nicht nur, er ermutigte es sogar – allerdings innerhalb des ästhetischen und ideologischen Rahmens eines „islamisch korrekten“ Kinos.

Innerhalb weniger Monate setzte das neue Regime eine ganze Reihe von ungeschriebenen Gesetzen durch: Die Sympathie des Zuschauers darf niemals dem Kriminellen gelten oder dem, der einen Fehltritt begangen hat; Drogenhandel darf nicht dargestellt werden; Ehe und Familie sind zu respektieren; Ehebruch darf nicht erwähnt werden; gewisse suggestive Gesten sind verboten; Männer und Frauen dürfen sich nicht mehr berühren (nicht einmal als Eheleute); „vulgäre“ oder „unangenehme“ Sujets sind zu vermeiden; Blasphemie ist strengstens untersagt; gläubige Menschen dürfen nicht als komisch oder unehrlich dargestellt werden. Diese Zwänge belasten nicht nur das Drehbuch, sondern auch die Organisation der Dreharbeiten. Muss man zum Beispiel in der Maske Personen beiderlei Geschlechts haben, um sicherzugehen, dass es nicht zu unerlaubten Kontakten kommt?

Die neuen Machthaber, die vollauf mit ökonomischen, institutionellen und politischen Problemen beschäftigt waren, haben niemals ein verbindliches Regelwerk oder Gesetze erlassen. Die Filmemacher selbst (die jungen revolutionären Idealisten wie auch einige opportunistische Regisseure aus der Zeit des Schahs) hatten angefangen, Filme zu machen, die das alte Regime entlarven und die Werte der Revolution zu Ehren bringen sollten. Die Titel sagen alles: „Wenn das Volk sich erhebt“, „Die blutigen Reisfelder“, „Die Aufständischen“, „Der Ruf des Mudschahed“, „Der Soldat des Islam“, „Der Blutregen“.

Der Krieg gegen den Irak, der auf iranischer Seite eine Million Tote und 200 000 Verwundete forderte, veränderte natürlich das Klima. Die Helden waren nun Kämpfer, glorifiziert wie in „Bashu, der kleine Fremde“ („Bashu, gharibeh kouchak“, 1988) von Bahram Beyzaï oder ernüchtert wie in „Die Hochzeit der Auserwählten“ („Arusi-ye-khuban“, 1989) von Mohsen Makhmalbaf, der damals ein großer Verfechter der islamischen Werte war. Diese in Europa (immer) noch unbekannten Filme sind im Iran sehr populär.

Der Erfolg über die Landesgrenzen hinaus kam 1985 mit „Der Läufer“ („Davandeh“). Dieser auf allen internationalen Festivals preisgekrönte Film von Amir Naderi ging um die Welt. Innerhalb von zwei Jahren folgten ihm rund zwanzig Filme. Es ist die übliche paradoxe Situation: Die Filme zeichnen nicht immer ein idyllisches Bild des Landes, doch der Staat unterstützt ihren Vertrieb – in der Hoffnung, der islamischen Republik dadurch neuen Glanz zu verleihen, wobei er den Widerspruch so weit treibt, einige Filme im Iran zu verbieten, ihre Entsendung ins Ausland aber zuzulassen. Zwischen sechzig und siebzig Filme wurden jährlich produziert. 1997 erlangte das iranische Kino die höchsten Weihen: „Der Geschmack der Kirsche“ („T‘am e guilass“) von Abbas Kiarostami gewann in Cannes die Goldene Palme.

Auf dieser Welle schwammen einige junge Filmemacher schnell mit nach ganz oben. Zum Beispiel Bahman Ghobadi, der für seinen ersten Spielfilm, „Die Zeit der trunkenen Pferde“ („Zamani baraye masti ashba“), 2000 die Goldene Kamera erhielt, oder Samira Makhmalbaf, die mit kaum 18 Jahren „Der Apfel“ („Sieb“, 1998) drehte.

Allerdings ist dieser Erfolg nicht eindeutig und steht teilweise auf tönernen Füßen. Er verdankt sich zwar der Qualität der Werke, aber in gleichem Maße auch dem geostrategischen Kontext (Naher Osten) sowie einem Modetrend, von dem das iranische Kino profitiert. Wenn Ghobadi dem europäischen Publikum so sehr gefallen hat, dann auch deshalb, weil er Kurde ist. Wenn „Schwarze Tafeln“ („Takhtè siah“) preisgekrönt wurde, so auch deshalb, weil er in Kurdistan und von einer jungen, hübschen Iranerin, Samira Makhmalbaf, gedreht wurde. Man kann sich also mit gutem Grund fragen, ob der Erfolg nicht ganz direkt mit der Situation des Landes zusammenhängt. Die Frage ist, ob Publikum und Kritik im Westen auch dann noch begeistert sein werden, wenn es dem Iran einmal gut geht.

deutsch von Sigrid Vagt

* Programmgestalter des Zyklus „Portraits de Téhéran“ im Pariser „Forum des images“.

Fußnoten: 1 Politische Polizei unter dem Schah-Regime. 2 Djahel – Südteheraner Schlägertypen. 3 Silberner Bär der Berlinale 1974.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2003, von JAVIER MARTIN und NADER TAKMIL HOMAYOUN