12.09.2003

Ein sorgsam gehegter Konflikt

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Ein sorgsam gehegter Konflikt

DIE muslimische Bevölkerung der Insel Mindanao, genannt „Moros“, kämpft seit Jahrhunderten gegen die einst spanische, später US-amerikanische und seit 1946 philippinische Zentralgewalt. Die jüngsten Anschläge in Davao, die der muslimischen Guerilla zugeschrieben wurden, scheinen jedoch nicht auf das Konto militanter Moros zu gehen: Mit einiger Wahrscheinlichkeit steckt das philippinische Militär dahinter. Die Hintergründe der Meuterei vom vergangenen Juli sind hier zu suchen. Von CARMEN A. ABUBAKAR *

Der gescheiterte Militärputsch vom 27. Juli 2003 hat auf den Philippinen auch den Dauerkonflikt im Süden Mindanaos wieder in die Schlagzeilen gebracht. Ein Sprecher der aufständischen Truppen (der so genannten Magdalo-Gruppe(1)), Leutnant zur See Antonio Trillanes IV, erklärte kürzlich, die Anschläge vom März 2003, die sich gegen den Flughafen, den Hafen und mehrere Moscheen in Davao gerichtet hatten, seien das Werk des philippinischen Militärs gewesen. Außerdem erhoben die Magdalo-Rebellen den Vorwurf, die Armeeführung verkaufe Waffen und Munition an aufständische Bewegungen – nicht zuletzt deshalb dauerten die Kämpfe in Mindanao endlos fort.

Benasing Macarambon, ein früherer Kommandant der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF), heute Abgeordneter für die Provinz Lanao del Sur, bestätigt diesen Verdacht. Nach seinen Angaben wurden tatsächlich seit den 1970er-Jahren Waffen und Munition an die MNLF verkauft. Ähnlich äußert sich Ed Kabalu, Sprecher der Islamischen Moro Befreiungsfront MILF (einer Abspaltung der MNLF): In Mindanao könne sich jeder mit militärischem Gerät eindecken, der das nötige Geld dafür habe. Eriberto Marona, Direktor des staatlichen Rüstungsamtes, wies solche Anschuldigungen natürlich zurück und bezeichnete sie als „faustdicke Lügen“.(2)

Ed Kabalu passt die Behauptung, das Militär sei für die Attentate in Davao verantwortlich, voll ins Konzept: „Endlich wird klar, dass die MILF damit nichts zu tun hat. Wir haben immer gesagt, dass wir mit den Anschlägen in Davao nichts zu tun haben. Nun ist die Wahrheit ans Licht gekommen. Das freut uns sehr.“(3)

Vielleicht sollte die MILF ihre Begeisterung etwas dämpfen. Falls ihre Erklärungen der Wahrheit entsprechen, stellt sich die Frage nach den langfristigen Absichten der Armee und der Regierung: Wie weit wird das Regime gehen, um den Konflikt am Kochen zu halten? Wozu sollte sich Manila überhaupt auf Verhandlungen einlassen, wenn die Feindseligkeiten doch andauern sollen?

Die Annahme, der Armee sei an der Fortdauer der Kämpfe gelegen, ist durchaus nicht abwegig. Am 2. Juni 2002, während der Geiselnahme in Lamitan(4) war es einigen Kämpfern der Gruppe Abu Sayyaf gelungen, den Belagerungsring um das Dr.-José-Reyes-Krankenhaus zu durchbrechen, in dem sie sich mit ihren Opfern verschanzt hatten. Damals gab es Vorwürfe, die Armee habe dabei die Hand im Spiel gehabt, und das philippinische Parlament richtete einen Untersuchungsausschuss ein. Ein vorläufiger Bericht des Senatsausschusses für Landesverteidigung und nationale Sicherheit, den zwanzig Mitglieder des Senats unterzeichneten, benannte tatsächlich drei Verdächtige und forderte, sie vor ein Militärgericht zu stellen. In einem kürzlich erschienenen Buch von Gracia Burnham(5), einer Amerikanerin, die damals zu den Geiseln der Abu Sayyaf gehörte, wird ebenfalls behauptet, die Armee habe der Terrororganisation zugearbeitet. Das Regime unter Staatspräsidentin Gloria Macapagal Arroyo ignorierte diese Vorwürfe – auch darauf haben die Meuterer der Magdalo-Gruppe hingewiesen.

Dass der Konflikt auf Mindanao gewaltsam gelöst werden soll, stärkt die Position des Militärs gegenüber der zivilen Regierung. Unter Staatspräsidentin Arroyo ist die Situation nicht besser geworden – schließlich kam sie nur an die Macht, weil die Armee ihrem Vorgänger Joseph Estrada die Unterstützung entzog. Und Corazon Aquino verdankte die relative Stabilität ihrer Amtszeit (1986 bis 1992) trotz mehrerer Staatsstreiche letztlich der Armee. Mit dem internationalen „Feldzug gegen den Terror“ hat der Militärapparat noch einmal erheblich an Bedeutung gewonnen.

Präsidentin Arroyo fasst die Militärs in ihrem Kabinett bislang mit Samthandschuhen an. Geheimdienstchef General Victor Corpus hat zwar seinen Abschied genommen, aber Verteidigungsminister Angelo Reyes sah keinen Anlass, sein Amt zu Verfügung zu stellen, als er im Verlauf der Untersuchungen des jüngsten, gescheiterten Staatsstreichs in die Kritik geriet. Auch Hermogenes Ebdane, Chef der philippinischen Bundespolizei, behielt seinen Posten, obwohl es eine Menge unbeantworteter Fragen zur Flucht des mutmaßlichen Terroristen Fathur Rohman al-Ghosi (eines Führungsmitglieds der Dschamaa Islamija) aus seinem Gefängnis in Manila gab.

Die Moros beeilten sich, die präsidentiellen Anweisungen zum „maßvollen Vorgehen“ gegen die gescheiterten Putschisten zu loben. Solche Mäßigung ist in Mindanao nicht selbstverständlich, üblicherweise werden gnadenlose Vergeltungsaktionen durchgeführt und jedes Mittel ist recht, um angebliche Entführer oder Mitglieder der Abu Sayyaf in den Dörfern und Städten der Moros aufzuspüren. Bei Luftangriffen und Artilleriebeschuss durch die Armee muss die Zivilbevölkerung ständig um ihr Leben und ihren Besitz fürchten. Im Inneren der Insel haben Militäraktionen zahlreiche zivile Opfer gefordert und Flüchtlingsströme ausgelöst. Durch den im Jahr 2000 von Staatspräsident Joseph Estrada erklärten „totalen Krieg“ wurde fast eine halbe Million Menschen vertrieben. Einige Regionen auf Mindanao sind heute buchstäblich Kriegsgebiet.

Der Regierung Arroyo befindet sich in einer höchst unangenehmen Lage. Die Vorwürfe gegen eine ihrer Institutionen, die Armee, schüren das Misstrauen unter den Moros und wecken vor allem Zweifel an den ehrlichen Absichten des Regimes bei den Friedensverhandlungen.

Die Opposition gegen die Zentralgewalt hat eine lange Vorgeschichte. Der Gegensatz zwischen Christen und Muslimen, zwischen Philippinern und Moros, entstand bereits in der Kolonialzeit – und seither halten sich die Klischeevorstellungen und Vorurteile, die das Verhältnis zwischen den beiden großen Lagern bestimmen (siehe Kasten). Inzwischen gibt es in manchen Regionen Ansätze zum interkonfessionellen Dialog, doch für die Mehrheit der Bevölkerung ist es bis dahin noch ein weiter Weg.

Nach der Unabhängigkeit der Philippinen sorgte die Zentralregierung durch wiederholte Eingriffe in das Alltagsleben der Moros dafür, dass der Konflikt um Mindanao weiter schwelte. Das war auch eine Folge von Günstlingswirtschaft und Korruption auf allen Ebenen. Die muslimische Bevölkerung, einst wohlhabend und zukunftsorientiert, wurde zur verarmten Minderheit.

Den Moros musste das Leben in der neuen Republik wenig erfreulich erscheinen. Die allgemeine Unzufriedenheit entlud sich 1968. Am 18. März waren junge muslimische Rekruten von den Suluinseln und auf Tawi-Tawi, die an einer militärischen Spezialausbildung auf der Insel Corregidor teilgenommen hatten, exekutiert worden – angeblich wegen Meuterei. Dieses Massaker verschärfte die latenten Spannungen und löste eine allgemeine Empörung aus, die am Ende zur Gründung der MNLF führte. Die Führer dieser Organisation (darunter Nur Misuari), die als antikoloniale Befreiungsarmee gegen die Zentralregierung antrat, forderten das Ende der internen Kolonisierung der Moros, die sich vor der Kolonialzeit als Nation gefühlt hatten. Daraus leitete die MNLF ein Recht auf Selbstbestimmung ab, mit dem erklärten Ziel der Sezession und der Gründung einer unabhängigen muslimischen Staates, der Republik Bangsa Moro.

Zu der Zeit trieben auf Mindanao auch verschiedene Banden ihr Unwesen. Die Ilaga (eine christliche Bürgerwehr) und die Barrakudas (eine Moro-Organisation) verübten zahlreiche Gewalttaten – wobei es letztlich um die Aneignung von Territorium ging. Dass die Zentralregierung 1972 das Kriegsrecht über Mindanao verhängte, hat den Konflikt nur noch verschärft. Seither dauern die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der philippinischen Armee und der MNLF an.

1976 schlossen die Konfliktparteien im libyschen Tripolis einen Friedensvertrag, der die Schaffung einer autonomen Region Mindanao vorsah. Sie sollte aus vierzehn Verwaltungsbezirken und neun Städten bestehen und exakt das Territorium umfassen, das 1903 unter US-amerikanischer Kolonialherrschaft als Provinz Moro definiert war. Doch die Umsetzung dieser Vereinbarung konnte nicht gelingen, weil der damalige Präsident Ferdinand Marcos darauf bestand, sie durch die philippinischen Verfassungsorgane bestätigen zu lassen – in einer Republik, die durch Präsidialdekrete regiert wurde und deren Verfassung außer Kraft gesetzt war.

Am Ende schuf der Diktator Marcos nicht eine, sondern zwei autonome Regionen: die Region 9 und die Region 12. Ruben Canoy, ein führender Oppositionspolitiker in Mindanao, nennt das Ergebnis regionale „Gleichmacherei“, andere sprechen von einer „Autonomie nur auf dem Papier“. Letztlich ging es dem Regime in Manila nur darum, den Moros einige Zugeständnisse zu machen, ohne etwas an den staatlichen Strukturen zu ändern und ohne ihnen wirksame politische Rechte zu gewähren. Die MNLF lehnte die Dekrete ab und nahm den Kampf um die Unabhängigkeit wieder auf.

In den 1960er-Jahren wurde der „Ausschuss für Nationale Integration“ gegründet, eine der unzähligen Einrichtungen, die geschaffen wurden, um die Integration der Moros zu fördern. Nach vielen Wandlungen ist daraus inzwischen das „Amt für muslimische Angelegenheiten“ geworden, eine Behörde, die nur Beschäftigungspolitik, aber keine Strukturpolitik betreibt. Die Leitung hat häufig gewechselt, je nach der politischen Konstellation und der Stimmung der jeweiligen politischen Führung. Präsidentin Arroyo ernannte innerhalb eines Jahres zwei Direktoren, von Kontinuität in der Arbeit des Amtes kann insofern keine Rede sein.

Inzwischen wurde auch ein islamisches Gerichtswesen nach der Scharia eingeführt und eine islamische Bank gegründet; dagegen wurde das Amt für die Entwicklung des philippinischen Südens kürzlich wieder aufgelöst. Die islamische Bank war als Maßnahme zur Wirtschaftsförderung in der Moro-Region gedacht, allerdings betrug ihr Startkapital nur kümmerliche 50 Millionen Pesos (810 000 Euro). Die islamischen Gerichte sind meist in verfallenen Gebäuden an abgelegenen Orten untergebracht, es gibt nicht genügend Richter, und oft werden die Verfahren nicht zu Ende gebracht, weil die Fristen verstrichen sind. Dennoch könnten die islamische Bank und die islamische Rechtsprechung auf Mindanao zu effektiven Institutionen werden, da sie immerhin vom Zentralstaat anerkannt sind und finanzielle Zuwendungen erhalten.

Ein Autonomiestatut für das muslimische Mindanao war Teil der philippinischen Verfassung von 1987, formell gibt es seitdem die Autonome Muslimische Region Mindanao. Für die MNLF wie die MILF zählen solche einseitigen Bestimmungen nichts – sie kämpfen für einen eigenen, souveränen Staat. Haschim Salamat(6), damals Führer der MILF, betonte, dass seine Organisation nach wie vor die Islamische Republik Bangsa Moro anstrebe. Beide Gruppierungen sehen die Autonome Region nur als ein weiteres bürokratisches Gebilde des Zentralstaats an.

1996 schloss die MNLF eine „endgültigen“ Friedensvertrag mit der Regierung in Manila. Nach einer Übergangsperiode von drei Jahren, in der verstärkte Entwicklungsmaßnahmen in der Moro-Region vorgesehen waren, sollte eine Volksabstimmung über die Zukunft des Autonomiegebiets stattfinden. Wegen der Ostasien-Finanzkrise von 1997 konnte Manila die Fördermittel allerdings nicht mehr aufbringen. Der „Rat für Frieden und Entwicklung im philippinischen Süden“ (ein Gremium, in dem die MNLF, Nichtregierungsorganisationen und lokale Verantwortungsträger der Zentralregierung vertreten waren) traf sich nur wenige Male. Seinen Auftrag, den Friedensvertrag umzusetzen und die Entwicklungsprojekte zu betreuen, erfüllte er nicht.

Obwohl damals auch die Vereinten Nationen eingriffen, um den Frieden zu sichern, wurden alle Hoffnungen enttäuscht, die sich an den Friedensvertrag geknüpft hatten. Der seit Jahrzehnten bestehende Entwicklungsrückstand der muslimischen Regionen war nicht aufzuholen – die Friedensdividende blieb aus.

2001 begann Staatspräsidentin Arroyo neue Friedensgespräche mit den Rebellen, doch diese Initiative wurde durchkreuzt vom globalen „Feldzug gegen den Terrorismus“ der USA, dem sich die philippinische Regierung vorbehaltlos anschloss. Die MILF wurde nach den Anschlägen in Davao dann doch nicht als Terrorgruppe eingestuft, steht aber nach wie vor unter dem Verdacht, Verbindungen zur al-Qaida und der Dschamaa Islamija zu unterhalten. Sie wird ebenso verfolgt wie die Organisation Abu Sayyaf und die neue Gruppierung „New Peoples Army“ (NPA).

Angeblich soll es schon bald neue Verhandlungen geben. Die Regierung und die MILF haben bereits einen Waffenstillstand vereinbart, als nächster Schritt ist der staatlich geförderte Wiederaufbau in den Gebieten geplant, die während des „totalen Krieges“ besonders schwer geschädigt wurden. Aber die entscheidenden politischen Fragen bleiben noch offen.

In der philippinischen Politik ist es eine alte Erfahrung, dass Verträge die Amtszeit eines Präsidenten selten überdauern. Wenn Goria Macabagal Arroyo ihre Ankündigung ernst meint, 2004 nicht zur Wiederwahl anzutreten, dann könnte das Abkommen mit der MILF ebenso folgenlos bleiben wie der Friedensvertrag von 1996 mit der MNLF, die stark an Einfluss verloren hat. Unter den Moros auf Mindanao dürfte sich der Eindruck verstärken, dass die Regierung in Manila noch immer kein ehrlicher und seriöser Verhandlungspartner ist.

deutsch von Edgar Peinelt

* Professorin an der Universität von Manila, Leiterin des Instituts für Islamische Studien.

Fußnoten: 1 Die Bezeichnung geht zurück auf eine Widerstandsbewegung, die im 19. Jahrhundert gegen die spanischen Siedler antrat. 2 Philippine Daily Inquirer, 30. Juli 2003. 3 Philippine Daily Inquirer, 20. Juli 2003. 4 Abu Sayyaf hatte in Lamitan (einer Stadt mit vorwiegend christlicher Bevölkerung auf der südphilippinischen Insel Basilan) 200 Geiseln genommen. 5 Gracia Burnham mit Dean Merrill: „In The Presence Of My Enemies“, Chicago (Tyndale House), 2003. Gracia Burnham und ihr Mann waren beide als christliche Missionare auf den Philippinen tätig und gehörten zu den Personen, die am 27. Mai 2001 von der Gruppe Abu Sayyaf als Geiseln genommen wurden. Martin Burnham und eine weitere Geisel kamen bei einem Angriff der Armee ums Leben. 6 Haschim Salamat starb am 13. Juli 2003. Sein Nachfolger wurde Murad Ebrahim.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2003, von CARMEN A. ABUBAKAR