Abend der Freude, Morgen der Ohnmacht
DER 4. SEPTEMBER 1970. Ich erinnere mich an den Wahlsieg Salvador Allendes. An den irrsinnigen Jubel, der die Menge nach und nach erfasste. An das Lachen und an die Umarmungen auf der Straße mit wildfremden Leuten, die keine Unbekannten mehr waren, weil sie sich ebenso freuten wie wir.
An diesem 4. September 1970 endete in Santiago der Winter. Die Abenddämmerung brach herein. Wir hatten lange auf die Ergebnisse dieser umstrittenen Präsidentenwahlen gewartet – viel zu lange, gemessen an der sorgenvollen Ungeduld all derer, die auf einen Sieg der Linken hofften. Die es nicht mehr erwarten konnten, auf die Straße zu gehen und ihre Freude hinauszuschreien.
Am Anfang war ein Besorgnis erregendes Gerücht umgelaufen: Der Kandidat der Rechten habe seine beiden Gegner hinter sich gelassen. Schon fuhren die Anhänger von Jorge Alessandri aus den Nobelvierteln in die Innenstadt hinunter, schwenkten mit diebischer Freude chilenische Fahnen aus den Fenstern ihrer Autos und veranstalteten ein Hupkonzert. Doch dann fiel dieses Gerücht in sich zusammen, und die Hochrechnungen wurden korrigiert. Die Hupenden zogen sich etwas kleinlaut in ihre noblen Anwesen am Fuß der Kordilleren zurück.
Wir hatten weiter gewartet. Plötzlich ging es wie eine Welle durch die Menge. Allende lag vorn! Allende, getragen von der Linkskoalition, der Unidad Popular. Sozialisten, Kommunisten, Radikale und linke Christen standen vereint einer gespaltenen Rechten gegenüber. Und dann endlich – der Sieg! Wir zögerten noch und konnten es kaum glauben. Aber die Zahlen sprachen für sich. Es war vielleicht kein Erdrutschsieg, aber das konnte uns wirklich egal sein. Mit mehr als 36 Prozent der Stimmen überrundete der Kandidat der Linken den alten Konservativen Alessandri deutlich. Der Christdemokrat Radomiro Romic war weit abgeschlagen. Zum ersten Mal hatte die Linke mit Allende eine Wahl gewonnen. Der ewige Verlierer der Präsidentschaftswahlen, der nach drei Niederlagen sarkastisch bemerkte, dass ihn seine Grabinschrift einst als „Allende, Präsidentschaftskandidat“ würdigen werde, strafte nun alle Kassandrarufe Lügen.
Die Leute schrien und hüpften herum: „El que no salta es momio“ – wer jetzt nicht vor Freude springt, ist ein Reaktionär. Wir umarmten einander, um sicher zu sein, dass wir nicht träumten. Was war Chile doch für ein wunderbares Land! Und waren sie nicht großartig, diese bis in die Haarwurzeln politisierten Chilenen!
Schon war es finstere Nacht, und es herrschte eine feuchte Septemberkälte. Aber wen kümmerte das? Aus den Armenvierteln im Süden und Osten der Hauptstadt strömten die Massen zur Alameda, der Hauptstraße von Santiago. Sie waren in bunte Wolle, Schals und Ponchos gehüllt: Frauen, Kinder mit dicken Backen und großen, staunenden Augen, hagere, nervöse Männer mit blasser Haut und straff gekämmten Haaren. Eine festliche Stimmung ergriff diese freudestrahlende Menge. Um die erbärmliche Straßenbeleuchtung zu ergänzen, um sich zu wärmen und den Nebel zu vertreiben, entzündeten die Leute hier und da Freudenfeuer. Von Mund zu Mund verbreitete sich die Nachricht: Allende wird sprechen.
Im ersten Stock der Niederlassung des Chilenischen Studentenverbands (Federación de Estudiantes Universidad de Chile, FECH) wurde auf die Schnelle eine Verstärkeranlage zusammengebastelt – im Herzen der Innenstadt, gegenüber dem Hügel Santa Lucia, dem Schauplatz sämtlicher Rendezvous in der Stadt. Schließlich wandte sich Allende mit einem Megafon an die Menge. Seine Rede war offensichtlich improvisiert. Die unbeschreibliche Freude, einen Kampf gewonnen zu haben, den er seit dreißig Jahren führte, gab dem 62-jährigen Arzt die richtigen Worte ein, um den Wahlsieg des Volkes zu begrüßen, seinen Unterstützern zu danken und zum Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit zu ermutigen. Trotz aller zu erwartenden Hindernisse, sagte er, werde sich Chile von Grund auf verändern. Und alle verstanden, dass man nun „dar vuelta a la tortilla“ – den Pfannkuchen umdrehen – würde. Und dass die bisher vom Wohlstand Ausgeschlossenen endlich ihren Platz am gedeckten Tisch der Nation einnehmen würden.
„Dulce Patria …“: Die chilenische Nationalhymne wurde gesungen, es wurde geklatscht und gerufen, und im Überschwang des Augenblicks ließen die freudig erregten Chilenen auch ihrer üblichen Vulgarität freien Lauf: „Viva Chile, mierda!“ – Es lebe Chile, verdammte Scheiße!
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DER 11. SEPTEMBER 1973. Ich erinnere mich an den Sturm auf die Botschaften. Der golpe vom 11. September, Pinochets Staatsstreich, löste bei der Linken eine Welle der Panik aus, bei der Rechten Jubel und bei den Christdemokraten mit diffusen Ängsten untermischte Erleichterung.
Seit Monaten hatte die Regierung der Unidad Popular vor der Gefahr eines Staatsstreichs gewarnt. Doch hatte sie wirklich daran geglaubt? Die Kommunisten betonten immer wieder die Loyalität der Armee, obwohl erst drei Monate zuvor ein Putschversuch vereitelt worden war. Allendes Regierung hatte alles darangesetzt, Chile ausschließlich mit den Mitteln der bürgerlichen Rechtsordnung zum Sozialismus zu führen. Sie wollte weder das Militär einsetzen noch das Volk bewaffnen. Ein derart pazifistisches Axiom war bei Marx nirgends vorgesehen. Als es dann plötzlich losging und der Moneda-Palast bombardiert wurde, war die chilenische Linke in keiner Weise vorbereitet. Es war eine einzige Tragödie. Die Devise war „Rette sich, wer kann“.
Im Rio Mapoche, der durch Santiago fließt, trieben jeden Tag die Leichen der nachts zuvor Erschossenen vorbei. An den Ufern standen die Passanten und starrten stumm aufs Wasser. Es gab Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, jeden Tag mehr. Auf die wichtigsten Vertreter der Unidad Popular war ein Kopfgeld ausgesetzt. Der Dichter Pablo Neruda hatte sich in seinem verwüsteten Haus in Santiago zum Sterben niedergelegt. Das Konzentrationslager im riesigen Stadion, dem Estadio de Chile, füllte sich mit Männern und Frauen, die immer noch nicht recht begriffen, wie ihnen geschah. Einen argentinischen Soziologen mit irischem Namen hatte man aus der Klinik geholt, wo seine Frau gerade entbunden hatte. Sein Vergehen war offensichtlich so geringfügig, dass man ihn drei Tage auf einem Schemel vergaß und dann freiließ. Er erzählte mir, dass an der Wand mehrere Listen mit den Namen von gesuchten Linken aushingen. Die politische Zugehörigkeit jedes Einzelnen war detailliert vermerkt. Es gab sogar eine eigene Liste der „Ausländer“, in der sich mein Gesprächspartner nicht ohne Stolz an zweiter Stelle wiederfand. Offensichtlich waren die militärischen Geheimdienste während der Regierungszeit Allendes nicht untätig geblieben.
Weil ich nicht nur ausländischer Journalist, sondern auch ein von der französischen Regierung entsandter Professor war, erreichte mich eine ganze Lawine von Hilferufen. Ob Freunde, Freunde von Freunden oder Unbekannte: Eilig hatten sie es alle. Doch nicht nur chilenische Linke waren in Gefahr. Viele andere Lateinamerikaner saßen ebenso in der Falle. Etliche Brasilianer, Bolivianer oder Uruguayer hatten vor der Repression in ihren Heimatländern in Chile Zuflucht gesucht. Jetzt standen sie vor den Maschinenpistolen der Armee. Wo sollten sie hin?
Meine Frau und ich knüpften, so gut wir konnten, ein Netzwerk zur unmittelbaren Hilfe und wandten uns an Diplomaten, die wir kannten, und andere Franzosen. Gemeinsam mit Véronique D., einer Korrespondentin der Agence France Presse, Jacques d‘A., einem Kollegen aus Valparaíso, und vielen anderen erstellten wir eine Liste der befreundeten und der „feindlichen“ Botschaften. In der ersten Kategorie standen an erster Stelle die Vertretungen Mexikos, Argentiniens, Schwedens (dank eines bemerkenswerten Mannes namens Harald Edelstam) und Frankreichs (unter dem Botschafter Pierre de Menthon). Auf der anderen Seite taten sich die Länder des Ostblocks, die UdSSR, die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande durch Feindseligkeit und verschlossene Türen hervor. Man erzählte sich, dass ein Botschafter sogar die Polizei gerufen habe, um einen Mann entfernen zu lassen, der sich auf einen Baum der Botschaft gerettet und – einen Fuß noch jenseits des Zauns auf chilenischem Territorium – um Schutz gebeten hatte.
Die Niederlande vollzogen immerhin eine spektakuläre Wende. Eines sonntagmorgens bekam ich Besuch von einem mir bekannten niederländischen Diplomaten: „Ich habe soeben meinen Botschafter ins Flugzeug gesetzt, den, der mich genötigt hatte, Ihre Bitte um Hilfe abzulehnen. Da ich nun selbst die Amtsgewalt ausübe, werde ich morgen ein Haus mieten, Matratzen kaufen und eine Köchin einstellen. Sie können dort unterbringen, wen sie wollen.“ Ich hätte ihn am liebsten umarmt. Sein Entschluss hat ganz sicher einigen Menschen das Leben gerettet. Ich konnte nicht bis zum nächsten Morgen warten. Drei kommunistische Abgeordnete auf meiner Liste waren in höchster Gefahr. Ich schickte sie sofort zu dem sicheren Haus.
Oft bestand die Schwierigkeit aber weniger darin, eine Botschaft mit offenen Türen zu finden, als vielmehr darin, es bis zu dieser Tür zu schaffen. Die Junta hatte vor jeder diplomatischen Vertretung Wachposten stationiert. Sie kontrollierten jeden, der hineinwollte oder herauskam. Wenn jemand den leisesten Verdacht erweckte, wurde er an Ort und Stelle gefesselt – manchmal an einen Baum, manchmal liegend auf dem Bürgersteig. Später kam ein Polizeiwagen und transportierte die Gefesselten ab. Doch irgendwie konnte man die Polizei immer überlisten. So hatten wir beobachtet, dass der Eingang zur belgischen Botschaft im Nobelviertel Providencia am Ende einer Sackgasse lag. Bei der Wachablösung mussten die Polizisten ihren Posten verlassen, um am anderen Ende der Straße auf den Mannschaftswagen zu erwarten. In diesen wenigen Minuten konnte man die Exilkandidaten zur Botschaft begleiten (dabei auf keinen Fall rennen!) und dafür sorgen, dass sie den eben noch streng bewachten Eingang erreichten.
Dann kam der Moment, an dem auch Leute wie wir, die Flüchtlinge zu den Botschaften geleitet hatten, das Land verlassen mussten. Die Chilenen dagegen mussten lernen, mit Pinochet zu leben – mit der Repression, mit den Ausgangssperren, mit dem wirtschaftlichen Ultraliberalismus. Siebzehn lange Jahre.
deutsch von Herwig Engelmann
* Journalist, Autor und Diplomat. Pierre Kalfon war ab 1969 Chilekorrespondent von Le Monde, bis er 1973 des Landes verwiesen wurde. Diese beiden Texte sind Auszüge aus seinem Buch „L‘encre verte de Pablo Neruda“, das im September 2003 im Verlag Terre de Brume in Paris erscheint.