Genosse Präsident
ANALYSIERT man Salvador Allendes politische Entwicklung und speziell seine Haltung in der Zeit der Unidad Popular, lässt sich eine angemessene Erklärung für sein Ende geben: Weder war sein Selbstmord am 11. September 1973 im Präsidentenpalast La Moneda ein Akt der Verzweiflung noch der romantische Versuch, mit aller Macht als Held in die Geschichte einzugehen. Vielmehr fand in dieser Tat das Leben eines großen Politikers und Realisten seine Fortsetzung.
Salvador Allende war innerhalb einer Linken, die sich als marxistisch bezeichnete, und einer Sozialistischen Partei, die in den Sechzigerjahren in den „Maximalismus“ abglitt, ein politischer Revolutionär besonderer Art. Einer, der seine Hoffnung auf die Wahlen, mithin auf die Macht des Volkes setzte und glaubte, den Sozialismus innerhalb des bestehenden politischen Systems einführen zu können.
Allende war kein Volkstribun oder Maulheld der Revolution. Sein Profil als Politiker gewann er im täglichen Kampf um volksnahe Politik im Rahmen einer repräsentativen Demokratie, in der durchaus Spielraum für eine Bündnispolitik zugunsten der Linken bestand. Doch nie nahm er Abstand von seiner Kapitalismuskritik und vom Ziel des Sozialismus. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen ihm und der Sozialistischen Partei Chiles von heute, die seit dem Ende der Diktatur an der Regierungskoalition „Concertación Democrática“ beteiligt ist. Realist sein, das bedeutete für Allende noch lange nicht, sich mit einer pragmatischen Politik zufrieden zu geben.
Seine politische Vision entstand in der Zeit der Mitte-links-Koalitionen zwischen 1938 und 1947, insbesondere unter der Volksfrontregierung von Pedro Aguirre Cerda, der er als Gesundheitsminister angehörte. Damals entdeckte er, was von 1952 an im Mittelpunkt seiner Strategie stand: das Bemühen um eine Einheit der beiden großen Volksparteien, der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei. Deren wechselseitige Rivalitäten hatten in der Vergangenheit die Regierungskoalition geschwächt und Reformen verhindert, da sie dem Koalitionspartner, der Zentrumspartei Partido Radical, die Rolle des Züngleins an der Waage zuschoben. Diese Regierungen vertraten ein bürgerlich-demokratisches Programm, oder anders gesagt: Sie standen für eine kapitalistische Modernisierung mit Sozialgesetzgebung und Schiedsrichterrolle des Staates, was Allende im Gegensatz zu anderen Sozialistenführern nie in Frage stellte.
Um seine Politik der Einheit von Sozialisten und Kommunisten umzusetzen, sah sich Allende 1952 zu einem paradoxen Schritt gezwungen: seine eigene Partei zu entzweien. Deren ganzes Trachten galt damals einem lateinamerikanischen Weg zur Revolution, inspiriert durch die Idee eines „dritten Weges“ von Haya de la Torre und den Apristen(1), der damals jedoch durch Juan Perón in Argentinien und dessen justicialismo verkörpert wurde. Allende widersetzte sich diesem Abstieg in den Populimus und zog sich innerhalb der Sozialistischen Partei zurück, um mit den Kommunisten, deren Partei noch verboten war, die „Frente de la patria“ zu organisieren. So kam es zu Allendes erster Präsidentschaftskandidatur 1952. Dieser Schritt machte ihn zur Leitfigur der Einheit mit den Kommunisten und zum Wortführer des – theoretisch noch ungenau formulierten – Konzepts, durch Wahlsieg an die Macht zu gelangen und eine revolutionäre Koalitionsregierung zu bilden. Diese Politik stellte eine Fortführung der Positionen der Befreiungsbewegungen dar, die damals von fast allen kommunistischen Parteien Lateinamerikas vertreten wurde.
Bei den Wahlergebnissen von 1958 verfehlte Allende den Sieg nur knapp. Damals herrschte ein Richtungsstreit zwischen den Befürwortern eines institutionellen Übergangs – auch friedlicher oder nichtmilitärischer Weg genannt – und den Anhängern der gewaltsamen Entmachtung der herrschenden Klasse und der Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die auf den Erfolg in Kuba verwiesen.
Allende blieb in den Sechzigerjahren der Bannerträger der chilenischen Linken, stand aber den Kommunisten geschichtsphilosophisch näher als den Positionen der eigenen Partei. Von dem Linksruck, der unter den chilenischen Sozialisten nach der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen von 1964 einsetzte, ließ er sich nicht mitreißen. Damals preschten zahlreiche Politiker der Sozialistischen Partei mit der Behauptung vor, man könne nicht länger auf den Sieg durch Wahlen setzen; keiner von ihnen untersuchte allerdings eingehender die Besonderheiten der chilenischen Situation mit dem komplexen Klassengefüge des Landes, seinem Parteiensystem und seiner langen und kontinuierlichen demokratischen Tradition.
Allende blieb auf Distanz zu diesem Wirbel. Er war, ohne von seiner Wertschätzung und Unterstützung für Kuba abzurücken, fast der Einzige in der Sozialistischen Partei, der an der Überzeugung festhielt, dass man die Präsidentschaftswahlen gewinnen und auf diese Weise durch einen institutionellen Übergang zum Sozialismus gelangen könne. Diese Haltung trug ihm viel Kritik ein.
Die triumphale Stimmung der Sechzigerjahre – einer optimistischen Zeit, was die Aktualität der Revolution und deren historische Notwendigkeit betraf – verhinderte, dass sich die marxistischen Parteien und Intellektuellen die entscheidenden Fragen zu einem institutionellen Übergang zum Sozialismus in Chile stellten. War denn angesichts des breiten Grabens, der sie von den fortschrittlichen Teilen der Christdemokratischen Partei trennte, an eine Verwirklichung des Sozialismus überhaupt zu denken? Wie sollte man denn in den Institutionen und in der Bevölkerung eine Mehrheit erreichen, wenn es nicht gelang, ein Bündnis für den Fortschritt zu schmieden?
Es war die Hochphase der Unidad Popular, eine zukunftsverheißende und im Keim tragische Zeit. 1971 definierte Allende den chilenischen Sozialismus als freiheitlich, demokratisch und mit einem Mehrparteiensystem vereinbar. Damit wurde er zum Vordenker des Eurokommunismus. Er ging wesentlich weiter als die chilenischen Kommunisten, die von der orthodoxen Auffassung des zu errichtenden Sozialismus nicht abrücken wollten und sich an die Logik des „historischen Moments“ klammerten, in dem die „totale Macht“ übernommen werden müsse. Zwar schoben die Kommunisten diesen Zeitpunkt hinaus, hielten ihn aber für unverzichtbar. Parteichef Corvalán kleidete diese Perspektive in die bekannt gewordene und vielsagende Parabel: Der Zug des Sozialismus werde bis Puerto Montt im tiefen Süden Chiles kommen, doch einige Verbündete würden unterwegs aussteigen.
Allende gelang es jedoch nicht rechtzeitig, seinen Weg vom institutionellen Übergang durch ein breites strategisches Bündnis aller progressiven gesellschaftlichen Kräfte zu verankern und eine solide Mehrheit in der Bevölkerung zu finden. Sein Weitblick war vergebens.
Zu keinem Zeitpunkt seiner Regierungszeit war er bereit, seine humanistische Gesinnung zugunsten der Anwendung autoritärer Machtmittel preiszugeben, wie dies fast alle Präsidenten seit 1932 getan hatten, indem sie zu allen erdenklichen – legalen wie illegalen – Zwangsmaßnahmen griffen. Meines Erachtens war dies richtig, auch wenn es dazu führte, dass seine Gegner die „Revolution“ nicht fürchteten. Angesichts der sich Anfang 1973 zuspitzenden Krise hätte er nicht nur mit aller Härte des Gesetzes gegen oppositionelle Kreise, sondern auch gegen jene Teile der Linken vorgehen müssen, die sich seiner Politik widersetzten; was ihn in eine politische Sackgasse geführt hätte. Er war durch und durch Demokrat, selbst in der Zeit permanenter Bedrohung durch unverhohlene ausländische Interventionen und durch terroristische Attacken der Ultrarechten.
Zweifellos hätte Allende in die Rolle des starken Präsidenten schlüpfen müssen, ohne in Autoritarismus zu verfallen: sich über die Parteien stellen und in den entscheidenden Momenten seine Positionen durchsetzen. Die Unidad Popular war durch das katastrophale Patt zwischen dem Lager derer, die die Notwendigkeit von Verhandlungen einsahen, und jener, die auf dem Standpunkt „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ standen, lahm gelegt.
Das Hauptproblem war, dass es Allende (und seinem auf diesem Gebiet sehr aktiven politischen Berater Joan Garcés) nicht gelang, den „neuen Weg“ zum Sozialismus theoretisch zu untermauern und ihn kulturpolitisch durchzusetzen. Sie wollten nicht nur eine neue Reformphase einläuten oder einen sozialdemokratischen Weg beschreiten. Es ging ihnen darum, die radikale Demokratisierung aller Bereiche des sozialen Lebens zum Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Veränderung zu machen. Darin bestand der revolutionäre Charakter des „neuen Wegs“, nicht in der Anwendung von Gewalt zur Lösung der Machtfrage.
Allende geht nicht durch seinen Tod, sondern durch sein Leben in die Geschichte ein, wenn auch der Tod seinen Mythos begründete. Dank seines politischen Instinkts und seines geschichtsphilosophischen Realismus konnte er zur Symbolfigur eines „anderen“ Weges zum Sozialismus werden, und dies zu einer Zeit, da die Krise des real existierenden Sozialismus sich bereits bemerkbar machte.
Allende beging Selbstmord. Heute verstehe ich nicht mehr, warum dieses Faktum so viele Jahre geheim gehalten wurde. Er entschied sich für einen selbstbestimmten Tod, gegen den zufälligen Tod im Kampf. An jenem furchtbaren Morgen des 11. September fand der Präsident von der Verzweiflung zur Klarheit. Zunächst schmerzte ihn der Verrat. Viele Zeitzeugen sprechen von seinem Kummer über „Augusto“. In einer der Reden an diesem Morgen forderte er sogar die loyalen Militärs auf, zur Verteidigung der Regierung auszurücken. An welchen General könnte er dabei gedacht haben, wenn nicht an Pinochet, dem er immerhin persönlich den „Marschallstab“ des Oberkommandierenden der Armee anvertraut hatte?
Tatsächlich glaubte Allende in keinem Moment, dass er die Moneda lebend verlassen würde. Ich glaube aber, er rechnete mit einem Tod im Kampf. Allende dachte an Widerstand, an Militärs, die ihren Schwur halten würden, an Parteien, die fähig wären, den eigenen Worten auch Taten folgen zu lassen. Er hatte nicht erwartet, allein zu sein, verlassen, nur von seinen treuesten Anhängern umgeben, während die Unidad Popular Waffenruhe verkündete.
Angesichts der unerwarteten Situation – er hatte die Bombenangriffe auf den Präsidentenpalast überlebt, die Niederlage blieb ohne Gegenwehr – sann Allende auf größtmögliche politische Wirkung. Das Exil kam für ihn nicht in Frage; er suchte nach einer Reaktion, die seine Ideale am adäquatesten ausdrücken und denjenigen am empfindlichsten treffen würde, der Chiles Tragödie betrieb.
deutsch von Christian Hansen
* Soziologe an der Universidad Arcis Santiago; Autor von „En la brecha. Derechos humanos, críticas y alternativas“ [etwa: „Auf dem Posten. Menschenrechte, Kritiken und Alternativen“], Santiago (Editorial Lom) 2002.
Fußnote: 1 Victor Haya de la Torre gründete 1924 die Alianza Popular y Revolucionaria Americana (Apra) und stieß mit seinem nationalistischen und anfangs marxistisch gefärbten Programm bei der indianischen Bevölkerung und den Intellektuellen Perus gleichermaßen auf Begeisterung.