Was der Fluss mit sich führt
SELTSAMER Zufall. Dreißig Jahre nach dem Militärputsch und dem Tod des Dichters und Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda ist mit Roberto Bolaño die kräftigste und einflussreichste Stimme der chilenischen und lateinamerikanischen Literatur der letzten Jahre verstummt und seinem „Stern in der Ferne“(1) gefolgt. „In diesem Land von Grundbesitzern“, schrieb er in seinem nüchternsten und beißendsten Roman, „Nocturno de Chile“(2), „gilt Literatur als Extravaganz und Lesenkönnen nicht als Verdienst.“ Extravaganz, aber doch auch nationaler Stolz. Die Literatur hat im politischen und sozialen Leben Chiles seit je einen privilegierten Platz eingenommen. Zwei Nobelpreisträger, Gabriela Mistral und Pablo Neruda, dutzende talentierte Schriftsteller, von denen etliche den Weg in Verlage jenseits der Anden gefunden haben, wie Vicente Huidobro, Francisco Coloane, José Donoso, Antonio Skármeta, Isabel Allende und andere mehr. Auch gegen diese Realität richteten sich die Angriffe Pinochets und seiner Komplizen, die heute vor allem wegen der Menschenrechtsverletzungen am Pranger stehen.
Gleich nach dem 11. September 1973 ließ die Militärjunta über alle Sender 41 Anordnungen verbreiten, darunter „die Besetzung und Zerstörung“ des staatlichen Verlags Quimantu. „Er war das Symbol der Demokratisierung mit den Mitteln der Kultur“, sagt Camilo Marks, Autor des Romans „La dictadura del proletariado“. „Dass er geschlossen wurde, bedeutete den Anfang vom Ende zahlreicher Verlage und Buchhandlungen und die Demontage des chilenischen Bildungssystems, das durch ein pervertiertes elitäres System ersetzt wurde, in dem jede literarische und künstlerische Äußerung als subversiv galt.“ Man veranstaltete große Autodafés, und bis Juli 1983 unterlag die Verbreitung von Büchern strengen Restriktionen. Ein Jahrzehnt lang herrschte in Chile der apagón cultural – ein kultureller Stromausfall.
„Vor dreißig Jahren, als ich zwölf war, kaufte mir mein Vater jede Woche mehrere Bücher“, erinnert sich der 1955 geborene Autor Jaime Collyer. „Das Angebot an Büchern war erstaunlich. Man verließ sich dabei auf seine Intuition. Heute gibt es kein anständiges Angebot und keine Intuition mehr. Der berühmte apagón hat bei den Lesern zu einem Herdenverhalten geführt. Ihre Meinungen sind folgsam und unterwürfig geworden, eine eigene hat sowieso keiner mehr, oder er steht mit ihr allein da. Das ist schwer zu überwinden.“
Durch den Ausnahmezustand und die Ausgangssperre konnte die Diktatur die Verbrechen und Schreckgespenster im Verborgenen halten, die noch heute, dreißig Jahre später, durch das kollektive Imaginäre der Literatur spuken: „Damals hatten mehr oder weniger alle dann und wann einen Albtraum. […] Ich versuchte, Gedichte zu schreiben. Anfangs brachte ich nur Jamben heraus. Dann […] wurde meine Poesie, die vom Himmel her kam, eine dämonische Poesie […], sie war tollwütig geworden“, sagt Sebastián, der Ich-Erzähler von „Nocturno de Chile“.
Die chilenische Gesellschaft geriet in die Isolation, abgeschnitten von Informationen und zersplittert in verschiedene Exile. Bücher kursierten unter der Hand. Nur belanglose Zeitschriften wurden veröffentlicht, Künstlertreffen fanden heimlich statt – zu Ehren des im Estadio de Chile ermordeten Víctor Jara und von Violeta Parra, Leitfiguren des lateinamerikanischen canto nuevo und der chilenischen poesía popular. Nach 1983 lockerte sich die „Kultur des Todes“: Es gab erste Demonstrationen, und nach und nach kehrten viele Exilanten nach Chile zurück.
Mit Blick auf jene Jahre spricht Jaime Collyer von einem furchtbaren Erbe, das die Diktatur hinterlassen habe: „Die chilenische Gegenwartsliteratur ist klaustrophobisch. Beklemmend. Entmutigend. Es ist enorm schwer, sich dem zu entziehen. Bolaño hat mit seinem Durchbruch die ästhetische Herausforderung wieder ins Spiel gebracht. Sein Vorbild gab der Literatur enormen Auftrieb.“ Ein Standpunkt, den die jungen Romanschriftstellerinnen Alejandra Costamagna (* 1971) und Nona Fernández (* 1970) sowie der Dichter Germán Carrasco (* 1971) teilen.
„Der Militärputsch hat unsere kollektive Imagination umgestaltet“, meint Alejandra Costamagna. „Wir sind unter der Knute eines Vaters aufgewachsen. Immer Ausgangssperre, immer unter Kontrolle. All das ist in Wut umgeschlagen, und die Zerstörung der Familie wurde zur Metapher unseres Landes. Niedergeschlagen hat sich das in einem Aufbrechen des Erzählens. Immer wieder kreist unser Schreiben um die Tragödie, wie könnte man sich dem entziehen? Aber mit hohem Anspruch an die literarische Form. Immer wieder geht es um Schmerz, Tod, Verbrechen, um die Verschwundenen, um Lügen, Verrat. Die Texte unserer Generation und alle anderen sind voll davon.“ In ihrem dritten Roman, „Cansada ya del sol“, erscheint das Gedächtnis als ein Depot, in dem sich aller Abfall sammelt. „Das Gedächtnis ist grenzenlos. Die einzige menschliche Grenze sind die Verzweiflung und der Schmerz“, sagte Roberto Bolaño.
„Mapocho“ von Nona Fernández schlägt in die gleiche Kerbe. Mapocho, so heißt der triste, schmutzige Fluss, der durch Santiago fließt und die Hinterlassenschaft der Toten und das endlose Täuschen und Vertuschen um ihr Ende mit sich führt. „Ich sehe Reifen vorbeitreiben, Äste, eine Kiste, die wie ein Sarg aussieht und durch die Wogen des Mapocho steuert. In der Kiste liegt eine Frau mit offenen Augen. Sie hat helles Haar wie ich und schaut mich an, ich bin mir sicher. Was ist das nur für ein Ort?“, fragt uns Rucia, die Ich-Erzählerin.
In „El habitante del cielo“ von Jaime Collyer verkörpert der Ungar Nagy Transzendenz und Erfindungsgeist. Er ist besessen von dem Wunsch, zu fliegen, und macht diesen Wunsch zu seinem Beruf. Metapher für den Beruf des Schriftstellers: In einer einsamen Scheune eine Flugmaschine bauen und im Moment des Abhebens einmal mehr scheitern. In diesem Roman gelingt es ihm, das klaustrophobische Erbe der Diktatur durch seine ästhetische Bewältigung abzuschütteln.
Während diese Bücher noch im Entstehen waren, speiste sich das Imaginäre aus älteren Quellen. Zahlreiche Prosawerke, aber sehr präsent auch die Poesie. Eine zentrale Rolle spielte Nicanor Parra (* 1914), Bruder von Violeta und mehrfach Anwärter auf den Literaturnobelpreis, Autor der „Antipoesie“ und erbitterter Kritiker der erdrückenden, alles beherrschenden Gestalt Nerudas. „Enrique Lihn, Jorge Teillier, Raúl Zurita, alle haben wir uns von der Dichtung Nicanor Parras genährt, auch Roberto Bolaño. Sie war ein Mittel gegen die Vergiftung der Sprache und der Literatur durch die Diktatur“, erklärt Germán Carrasco (* 1971), Autor von „Calas“, seinem dritten Buch, das von der chilenischen Lyrik begeistert aufgenommen wurde.
Carlos Franz (* 1959), Autor von „Wo einst das Paradies war“, erklärte 1997: „Die von der Diktatur betriebene brutale Privatisierung der chilenischen Wirtschaft hat sich auf literarischer Ebene als Privatisierung der nationalen Literaturproduktion niedergeschlagen. Aber der Mangel und das raue Klima waren sehr lehrreich. Die geschichtliche Tragödie bedeutete keineswegs einen apagón, sondern eher die Lunte, die ans Pulverfass der Fantasie gelegt wurde.“ In den Neunzigerjahren kam es zu einer bemerkenswerten Renaissance unabhängiger Verlage – genannt seien vor allem Lom, Dolmen und Cuarto Propio –, und es erschienen wieder viele Bücher. Einige Schriftsteller verfolgen mit ihrer Arbeit bewusst das politische Ziel, Anklage gegen die bleiernen Jahre der Diktatur zu erheben. Andere zogen es vor, als Opposition gegen das System ihre kreative Freiheit aufzubieten. So auch Roberto Bolaño: Er hat stets erklärt, dass der Schriftsteller keine Verpflichtung gegenüber der Geschichte habe, sondern eine gegenüber der Literatur. „Wenn es stimmt, dass Politik und Literatur nicht zu trennen sind, dann ist die Literatur meine Art politischen Handelns; oder genauer: Ich nehme mit dem Schreiben mein unveräußerliches Recht auf Protest in einem Bereich wahr, wo für Kompromisse kein Platz ist.“
Autoren wie Ramón Díaz Eterovic, Luis Sepúlveda, Poli Délano, Mauricio Electorat oder Alejandra Rojas (Näheres zu Autoren und Büchern s. Kasten) haben für sich das Genre des Kriminalromans gewählt. Der Krimi bietet ideale Bedingungen, um Unrecht, Ängste und Korruption zu thematisieren. Díaz Eterovic hat mit seinem Privatdetektiv Heredia die Figur eines desillusionierten Antihelden und unbestechlichen Beobachters der Wirklichkeit geschaffen. In dem Roman „Nadie sabe más que los muertos“ bekommt Heredia den Auftrag, den Sohn von Opfern der Diktatur zu finden. Die Suche führt ihn zu Richter Cavens, der selbst in die Ereignisse verstrickt ist. Die Figur des Detektivs Heredia erzählt die moralische Wandlung eines Volkes, das schwer traumatisiert ist und zugleich unfähig, darüber zu sprechen. Jeder in Chile hat die Blicke im Rücken gespürt, ohne zu wissen, warum.
In der Traditon von „La desesperanza“ von José Donoso (1924–1996) haben einige Schriftsteller den Zusammenhang von Sprache und Macht zu ihrem Thema gewählt. Cynthia Rimsky (* 1962), Autorin von „Poste restante“, einem Reisetagebuch, tut dies mit einer aus dem Scheitern der Diskurse entstandenen Distanz. „Ich spreche von den Literatur gewordenen großen Utopien […], die uns während der Diktatur aufrechterhalten haben. […] Wir hatten gekämpft, um die Diktatur zu stürzen und diese früheren Generationen wieder an die Macht zu bringen. Und als sie an der Macht waren, hatten wir die Freiheit zu schreiben verloren.“ Die Stimme, die „von der Macht kein Führungszeugnis ausgestellt bekommt“, hat keinen Platz mehr für ihren eigenen Diskurs.
Pedro Lemebel, Autor von Chroniken und Romanen, hat schwere Zeiten durchmachen müssen; heute ist er als außergewöhnliche literarische Begabung anerkannt. Noch unter der Diktatur, im September 1986, hatte er sich mit einem Manifest unter dem Titel „Im Namen meiner Andersheit“ an die chilenische Linke gewandt: „Meine Männlichkeit habe ich nicht von der Partei / Weil man mich mit spöttischem Lächeln zurückgewiesen hat / Viele Male / Meine Männlichkeit habe ich erlernt, indem ich Partei ergriff“. Irritierend und schwer einzuordnen, brillant und provokativ, Homosexueller und Transvestit, war Lemebel von der in ihren Konventionen befangenen Gesellschaft – die Linke eingeschlossen – nie akzeptiert worden. Mit seinen Performances, aufgeführt von der 1987 von ihm gegründeten Gruppe „Die Stuten der Apokalypse“, gehörte er dennoch zu den ersten Künstlern, die die chilenische Gesellschaft wachrüttelten und aus ihrem kulturellen apagón befreiten.
Sein Roman „Tengo miedo torero“ – der Titel stammt aus einem alten Lied, das die Innenansicht eines Landes zeigt, das, laut Lemebel, „sehr wenig träumt, auf Pump träumt, nicht mehr vom Unmöglichen träumt“ – erzählt die Geschichte einer verbotenen Liebe zwischen einem jungen Revolutionär und einem Homosexuellen im Santiago von 1986, dem Jahr des fehlgeschlagenen Attentats auf General Pinochet, dem „Entscheidungsjahr“, das keines war. Man sieht die Demonstrationen und hört die Boleros und Rancheras jener Zeit. Pinochet schlägt sich privat mit seinen Gespenstern und Albträumen herum. Lucía, seine Frau, ist über die neueste Kollektion von Nina Ricci ganz aus dem Häuschen. Die „Verrückte“, Augenzeugin und Protagonistin, eine karnevaleske und fesselnde Person, verbindet Traum und Unglück.
Eine ähnlich eigenartige, beklemmende Atmosphäre herrscht auch auf den literarischen Soiréen, die María Canales, eine Figur aus Bolaños „Nocturno de Chile“, veranstaltet. Während der mondänen Empfänge geschehen im Keller scheußliche Verbrechen. „Auf der Pritsche lag ein nackter Mann, gefesselt an Händen und Füßen. Er schien zu schlafen, aber dieser Eindruck war schwer zu überprüfen, denn seine Augen waren verbunden.“ Doch María Canales will Schriftstellerin werden: „So wird in Chile Literatur gemacht“, kommentiert Sebastián, der Ich-Erzähler des Romans, und fügt hinzu: „Und nicht nur in Chile, auch in Argentinien und Mexiko, in Guatemala und Uruguay und in Spanien und in Frankreich und in Deutschland und im grünen England und im fröhlichen Italien. So wird Literatur gemacht. Oder das, was wir, um nicht auf dem Müll zu landen, Literatur nennen.“
deutsch von Christian Hansen
* Journalistin
Fußnoten: 1 Roberto Bolaño starb am 15. Juli 2003 fünfzigjährig in einem Krankenhaus in Barcelona an Leberversagen, während er auf eine Transplantation wartete. Sein Roman „Stern in der Ferne“, übersetzt von Christian Hansen, erschien in München (Kunstmann) 2000. 2 Keines der anderen im Text zitierten Bücher ist bislang auf Deutsch erschienen. Die zitierten Textstellen wurden – mit Ausnahme der Zitate aus „Nocturno de Chile“, Barcelona (Anagrama) 2000 – nach dem Wortlaut des spanischen Artikels übersetzt.