12.09.2003

Der Kampf geht so nicht weiter

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Der Kampf geht so nicht weiter

DER Konflikt zwischen Israel und Palästina geht in eine neue Eskalationsrunde. Der Rücktritt von Mahmud Abbas markiert das Ende der Roadmap, der weder die radikalen Palästinenser noch die Regierung Scharon eine Chance geben wollten. Jetzt droht Israel mit der physischen Liquidierung aller Hamas-Führer und der Ausweisung von Jassir Arafat. Das wird der Hamas weiteren Zulauf bringen und die Aufgabe erschweren, die palästinensische Autonomieverwaltung zu demokratisieren und die Lehren aus dem Scheitern der zweiten Intifada zu ziehen. Von GRAHAM USHER *

Am 4. Juni dieses Jahres wurde Mahmud Abbas (Abu Masen) beim Gipfel in Akaba von US-Präsident Bush in Anwesenheit des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon als „annehmbares Gesicht“ des palästinensischen Nationalismus abgesegnet. Damit schien eine politische Strategie besiegelt, für die Abbas und seine Anhänger innerhalb der palästinensischen Führung mindestens ein Jahr lang geworben hatten. Diese Strategie ging – wohlwollend formuliert – davon aus, dass die Beendigung der bewaffneten Intifada die einzige Chance für das Überleben der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sei. Damit wäre zugleich der Rückzug der Israelis aus den wiederbesetzten palästinensischen Gebieten zu erzwingen – und die Bush-Administration würde veranlasst, sich erneut im Israel-Palästina-Konflikt zu engagieren. Negativer formuliert lief diese Position jedoch auf das Eingeständnis hinaus, dass die Intifada als ein nationaler Aufstand, der fast 3 000 Palästinenser das Leben gekostet hatte, gescheitert war und dass in der „Roadmap“, die das so genannte Quartett (USA, EU, UNO und Russland) am 20. Dezember 2002 verabschiedet hatte, die Kapitulationsbedingungen niedergelegt waren.

Die Niederlage eines solchen Aufstands ist beinahe vorhersehbar, denn er besaß weder klar definierte Ziele noch eine wirkliche Strategie. Die Intifada entsprang lediglich dem allgemeinen Gefühl, dass man die Ergebnisse des Oslo-Prozesses um jeden Preis revidieren und korrigieren sowie sich der palästinensischen Führer, die den Vertrag einst ausgehandelt hatten, entledigen müsse.

Das Scheitern zeigte sich schon im April 2002, als in nur einem Monat 275 Pälestinenser und 105 Israelis getötet wurden, darunter 28 bei einem Passah-Mahl in einem Hotel in Netanja. Dieses Blutbad lieferte Scharon letztendlich genau den Anlass für den „Krieg gegen den Terrorismus“, den er brauchte, um Jassir Arafat, der Palästinensischen Autonomiebehörde und dem Oslo-Prozess mitsamt seinen Resultaten den Garaus zu machen.

Zwischen dem 28. März und dem 4. April 2002 unternahm die israelische Armee eine massive und sorgfältig geplante militärische Offensive unter dem Codenamen „Defensive Shield“. Sie marschierte in das Westjordanland ein und besetzte erneut alle Städte bis auf Hebron und Jericho. Dabei wurden 250 Palästinenser getötet und tausende verwundet, und nach mehreren Verhaftungswellen saßen über 8 000 Palästinenser im Gefängnis. Scharon machte dem letzten Anschein von „Selbstregierung“ ein Ende und stellte erneut alle palästinensischen Städte, Dörfer und Flüchtlingslager unter israelisches Kriegsrecht. Das bedeutete ein Zurück zu dem Status quo vor Oslo (September 1993). Dieses Ziel hatte Scharon schon seit langem angestrebt: Es bedeutete zum einen die strategische Zerstörung wichtiger PA-Institutionen, zum anderen die territoriale Neuordnung des Westjordanlandes, das heißt die Aufteilung der palästinensischen Gebiete in acht Zonen, voneinander getrennt durch israelische Siedlungen und von der Armee kontrollierte Pufferzonen.

Die Hoffnungen der Palästinenser und der arabischen Welt, dass die internationale Gemeinschaft gegen die Liquidierung des Oslo-Prozesses intervenieren würde, haben sich schnell zerschlagen. Die Forderung von Präsident Bush, die israelische Armee solle aus den erneut besetzten Gebieten abrücken, „und zwar sofort“, wurde von Scharon schlicht ignoriert. Deshalb unternahm US-Außenminister Colin Powell eine achttägige Rundreise, die ihn über Madrid, Rabat, Riad, Kairo und Amman nach Jerusalem führte. Dort angekommen, handelte er weder einen Waffenstillstand noch einen Rückzug der Israelis aus, sondern nur einen nebulösen „Zeithorizont“, nach dem sich die israelische Armee bis zum 21. April aus den Städten des Westjordanlands zurückziehen sollte. Powells einziges Zugeständnis an die Gefühle der Araber bestand darin, dass er Arafat in den Trümmern seines Amtssitzes in Ramallah aufsuchte.

Die Bedeutung dieses Treffens lag für die Palästinenser – und für Israel – praktisch nur darin, dass die USA damit Arafat in seiner Rolle als Palästinenserchef eine letzte Galgenfrist einräumten, genauer: dass sie erst noch eine alternative Führung aufbauen mussten. Als Gegenleistung für das Stillschweigen der USA zu den Kriegsverbrechen, die israelische Truppen im Flüchtlingslager von Dschenin begangen hatten, hob Scharon am 2. Mai widerstrebend den faktischen Hausarrest für Arafat auf.

Als Lohn für seine „Zurückhaltung“ konnte Scharon kurz darauf seinen militärischen Sieg noch mit einem diplomatischen Erfolg abrunden: In enger Absprache mit dem israelischen Regierungschef konkretisierte Bush am 24. Juni 2002 seine „Vision“ für ein Palästina, das „in Frieden und Sicherheit an der Seite Israels“ existieren sollte. Nach diesem Konzept hing fortan jeder politische Fortschritt davon ab, dass die Palästinenser „eine neue und andere Führung“ wählen, die dem „Terrorismus“ ein Ende setzen und die Sicherheitsstrukturen wie auch die ökonomischen und politischen Institutionen reformieren sollte.

Eine Legitimation für Scharon

SOBALD diese Konditionen zur Zufriedenheit der USA und Israels erfüllt wären, könnte ein „provisorischer“ palästinensischer Staat – mit von Israel bestimmten Grenzen – ausgerufen werden. Wenn das alles unter Dach und Fach wäre, könnte man „innerhalb von drei Jahren“ eine endgültige Einigung über den Status Jerusalems, die Siedlungen, die Flüchtlinge und die permanenten Grenzen erzielen. Diese Bedingungen sollten zu den wichtigsten Parametern der von Bush vorgeschlagenen Roadmap werden.

Die Palästinenser hatten das Ausmaß ihrer Niederlage schnell erkannt. Das gilt vor allem für die Kämpfer, die den Aufstand angeführt hatten: die Mitglieder der Tansim, des paramilitärischen Flügels der Fatah. Diesen Kadern war jetzt klar, dass die bewaffnete Intifada, und vor allem die Selbstmordanschläge innerhalb Israels, für die Sache der Palästinenser katastrophale Folgen gehabt hatten. Der Aufstand hatte Scharon die innenpolitische Legitimation – und die amerikanische Lizenz – verschafft, die er für seine kolonialen Ambitionen im Westjordanland benötigte. Zudem hatte die Revolte die letzten Sympathiereserven erschöpft, von denen die Palästinenser auf diplomatischer Ebene wie in der öffentlichen Meinung – vor allem in Europa – hatten zehren können. Und schließlich machte sie auch den politischen Führungsanspruch der Tansim zunichte.

Viele der 6 000 Palästinenser, die Israel im Lauf der Rückeroberung des Westjordanlands verhaften ließ, waren Tansim-Milizionäre der mittleren Funktionärsebene, die den politischen und militärischen Führungskern der Fatah ausmachten. Als größten Erfolg feierte die Regierung Scharon im April 2002 die Verhaftung von Marwan Barguti, dem charismatischen Generalsekretär der Fatah im Westjordanland, die live im Fernsehen übertragen wurde. Davor waren schon dutzende lokaler Fatah-Führer im Kampf gefallen oder ermordet worden. Ihre Nachfolger waren oft junge und unerfahrene „Warlords“, die eher bandenartig organisiert waren und sich ihrem Clan und ihrer lokalen Gruppe oder Gemeinschaft ebenso stark verpflichtet fühlten wie der nationalen Führungsspitze. Das Resultat war eine zersplitterte und chaotische Bewegung mit einer wachsenden Kluft zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel, aber auch innerhalb der jeweiligen Führungsebene.

Um den kompletten Zusammenbruch aufzuhalten, rief die politische Führung der Tansim (zum Teil aus dem Gefängnis) Anfang Mai 2002 zu einer Wende auf. Konkret wurden drei Forderungen erhoben: Erstens sollte eine neue und gestärkte PLO-Spitze oder Nationale Notstandsführung entstehen, die für die politische Strategie und alle weiteren Verhandlungen mit Israel zuständig sein sollte. Zweitens forderte man eine straffere, professionelle und reformierte PA-Behörde, die sich auf eine einzige Aufgabe konzentrieren sollte: den Menschen endlich saubere, effiziente und kontrollierbare Leistungen zu bieten. Drittens forderte man eine verbindliche Übereinkunft mit allen palästinensischen Fraktionen (vor allem mit dem wichtigsten Fatah-Rivalen, der islamistischen Hamas) über „die Mittel und das Terrain des Widerstands“.

Mit Hilfe dieser demokratischen Veränderungen wollte die Tansim nicht nur die Verluste wettmachen, die sie durch die Neubesetzung der palästinensischen Gebiete erlitten hatte. Sie wollte auch die Ablösung der alten Fatah- und PA-Spitze vorantreiben, die nach Aussage eines Tansim-Führers mangels einer klaren Strategie „die Palästinenser in die heutige Krise manövriert hatten“. Bei einer solchen Kritik war es kaum verwunderlich, dass die aktuelle Führung bemüht war, die proklamierte „Revolution innerhalb der Revolution“ bereits im Keim zu ersticken.

Altgediente Fatah-Führer wie Mahmud Abbas hatten die „Militarisierung“ der Intifada schon lange als tödliche Gefahr sowohl für die Existenz der PA als auch für ihre eigenen Führungspositionen angesehen. Bei der immensen Zahl palästinensischer Intifada-Opfer konnten Abbas und andere aber nicht offen auf die Beendigung des bewaffneten Kampfes dringen. Als Ausweg zogen sie eine neue „Reform“-Diskussion vor, die das Problem des Widerstands völlig ausblendete.

Dieser Ansatz fügte sich perfekt in die diplomatischen Bemühungen der EU, der UN, Russlands und der USA. Dieses so genannte Quartett war damals gerade bemüht, aus der erwähnten Bush-Rede einen diplomatischen Masterplan für die Beendigung der Intifada zu zimmern. Im Verein mit Abbas entwarf das Quartett die Roadmap, die eine aufgezwungene Reform beinhaltete, statt auf die von der Tansim vorgeschlagene demokratischen Transformation zu setzen.

„Reform“ bedeutete von nun an eine Restrukturierung der maroden Sicherheitsstrukturen und Finanzinstitutionen der PA, und zwar ganz im Sinne der CIA und des IWF. Abbas schlug keine schlüssige Strategie für den Widerstand vor, sondern einen einseitigen, mit allen Fraktionen vereinbarten Waffenstillstand. Dabei sollten die palästinensischen Sicherheitskräfte die Kontrolle über die von den Israelis neu besetzten palästinensischen Gebiete erhalten, nachdem diese phasen- und abschnittweise aus diesen Gebieten abgezogen wären. Unterstützt durch das Zentralkomitee der Fatah, versprach Abbas außerdem, dem „Phänomen der Milizen“ ein Ende zu machen, wobei er betonte, die „Verteidigung des palästinensischen Volkes“ sei einzig und allein die Aufgabe der PA-eigenen Polizei.

Abbas wusste allerdings sehr genau, dass die Palästinenser von diesen Polizeikräften enttäuscht waren, hatten doch viele der befehlshabenden Offiziere während der Operation „Defensive Shield“ einfach die Flucht ergriffen. Deshalb versprach er „eine radikale Reform in allen Bereichen“. Allerdings beschränkte er des Weiteren seinen Reformeifer auf den Vorschlag, die PA-Gremien neu zu wählen und den neu geschaffenen Posten eines palästinensischen Regierungschefs zu übernehmen, an den Arafat einige seiner Kompetenzen abzutreten habe. Damit war auch den Forderungen von Bush und Scharon entsprochen, die als Voraussetzung für einen neuen politischen Anlauf eine „andere palästinensische Führung“ verlangten. Viele Tansim-Mitglieder sahen in solchen Formulierungen den Versuch, ihre Forderungen nach mehr Demokratie für einen Regimewechsel zu instrumentalisieren.

Wobei dieser von Israel und den USA diktierte Regimewechsel von ihrer gescheiterten Führung hingenommen wurde, weil angeblich nur noch ein solcher Wechsel der PA in der Region und auf internationaler Ebene politische Legitimation verschaffen konnte. Der Tansim war ebenfalls klar, dass das obsessive Bestreben Israels und der USA, Arafat als politische Figur auszuschalten, deren Reformaufrufe in der palästinensischen Öffentlichkeit nur noch unglaubwürdiger machte.

Am 19. September nahm die israelische Armee Arafats Hauptquartier in Ramallah erneut unter Beschuss, nachdem zwei Selbstmordattentäter sieben israelische Zivilisten getötet hatten. Daraufhin kam es im gesamten Westjordanland und im Gaza-Streifen zu Demonstrationen zur Verteidigung von Arafat, da man dessen Ausweisung oder Schlimmeres befürchtete. Arafat wertete diese überwiegend spontanen Demonstrationen als „Referendum“ zu seiner Führungsrolle und bedrängte den Palästinensischen Legislativrat, jede Diskussion über die Ernennung eines palästinensischen Ministerpräsidenten auf die Zeit „nach der Gründung eines palästinensischen Staates“ zu verschieben. Geschickt tat er außerdem alle Forderungen nach einer demokratischen Kontrolle seines Führungsstils als von Israel und den USA inspirierte Verschwörung ab. Gleichzeitig beauftragte er die Fatah-Milizen, dieses Argument auch allen reformwilligen Kräften beizubringen.

Arafats Appell an die Loyalität seiner Anhänger funktionierte. Das bedeutete das Ende der Reform als eines von den Palästinensern selbst betriebenen Prozesses. Nun traten diplomatische Vertreter des Quartetts auf den Plan, denen klar war, was die USA als Gegenleistung für die Publikation der Roadmap forderten: nicht nur eine kontrollierte Restrukturierung der Sicherheitsorgane und Finanzinstitutionen der PA, sondern auch die Ernennung eines neuen Premierministers als politische Alternative zu Arafat. Die Methode, mit dem der palästinensische Führer dazu gebracht wurde, die Beschneidung seiner Machtbefugnisse zu akzeptieren, war die massive Einschüchterung.

Im Dezember 2002 stand bereits fest, dass der Krieg gegen den Irak nur noch eine Frage der Zeit war. Und es war auch kein Geheimnis, dass viele Leute in der israelischen Regierung mit dem Gedanken spielten, Arafat im Zuge dieses Krieges ein für alle Mal loszuwerden.

Vor diesem Hintergrund sandte das Quartett eine klare Botschaft an Arafat: Sein Überleben sei nur dann gewährleistet, wenn er die Ernennung eines Premierministers „mit wirklichen Machtbefugnissen“ akzeptieren werde. Der widerstrebende Arafat war nur unter großem Druck bereit, diesem Vorschlag und auch der personellen Besetzung zuzustimmen: Abbas war der einzige Kandidat, der sowohl für die USA als auch für die Fatah annehmbar war. Vier Monate später wurde Abbas endlich – nach zermürbenden Auseinandersetzungen mit Arafat über jede einzelne seiner Kompetenzen – am 9. März 2003 vom Palästinensischen Legislativrat gewählt. Und von George W. Bush sogleich als „neuer Führer der Palätinensischen Autonomiebehörde“ bezeichnet.

Nach den Vorgaben der Roadmap war die Aufgabe von Abbas so einfach wie gigantisch. Als Gegenleistung für das „Engagement“ der USA, die damit der Palästinenserregierung das Überleben sicherten, musste die PA „allen Gewaltakten gegen Israelis ein Ende setzen“, und zwar überall, auch in den besetzten Gebieten. Für Israel stand fest, dass dies Ziel nur mit einem palästinensischen Bürgerkrieg zu erreichen sei. Abbas zog einen anderen Weg vor: zunächst einen von allen palästinensischen Fraktionen akzeptierten Waffenstillstand, anschließend die Auflösung und Entwaffnung ihrer Milizen – und zwar möglichst im Konsens, wenn nötig aber auch mit gewaltsamen Mitteln.

Viele Palästinenser hielten das erste Ziel für erreichbar, da die Intifada in einer Sackgasse steckte. Aber kaum einer hielt auch das zweite Ziel für durchsetzbar: Angesichts der Stärke und Entschlossenheit des „bewaffneten Widerstands“ – und vor allem seiner tödlichsten Fraktion, der islamistischen Hamas – schien eine Entwaffnung ausgeschlossen.

Ende 2002 war die Hamas in den besetzten Gebieten zu einer dominierenden und zunehmend selbstständig agierenden Kraft geworden. Damit konnte sie das Vakuum füllen, das die Israelis durch die Zerschlagung der Tansim hinterlassen hatten.

Wie Meinungsumfragen zeigen, war die Hamas damals bereits ebenso populär wie die Fatah. Ihren Aufstieg verdankte sie nicht nur dem bewaffneten Widerstand ihrer Kämpfer gegen die israelischen Invasoren. Ein wichtige Rolle spielten auch der Zerfall der PA-eigenen Polizeikräfte, die militärische und teilweise auch politische Einheitsfront mit der Tansim und nicht zuletzt die Popularität ihrer Selbstmordattentate auf israelischem Territorium.

Doch ebenso bedeutsam für das Ansehen der Hamas waren ihre organisatorische Disziplin und ihr soziales Engagement: Ihre vielen Wohlfahrtseinrichtungen und sozialen Leistungen hoben sich überaus vorteilhaft von den ineffizienten und maroden PA-Ministerien ab. Und dieser Kontrast verstärkte sich noch als Folge der israelischen Strategie der kollektiven Bestrafung, die auf die Abriegelung der Palästinensergebiete und die Zerstörung der PA-Institutionen setzte. Infolgedessen war die Hamas nicht mehr nur eine Bewegung, die gegen die PA-Führung und deren politischen Kurs opponierte, sie entwickelte sich vielmehr zur „politischen, sozialen, militärischen und ideologischen Alternative zu den bestehenden palästinensischen Verhältnissen“ wie es Siad Abu Amr ausdrückt, Kulturminister der PA und zugleich ein genauer Kenner des palästinensischen Islamismus.

Diese neuen Kräfteverhältnisse wurden offenbar, als die Hamas alle Vorlagen der Tansim für eine „gemeinsame Widerstandspolitik“ ausschlug. Die ernsthaftesten Diskussionen über eine solche interfraktionelle Vereinbarung fanden im August 2002 in Gaza und im Februar 2003 in Kairo statt. Bei beiden Treffen insistierte die Fatah auf zwei Punkten: Ziel des nationalen Kampfes sei die Errichtung eines palästinensischen Staates im Gaza-Streifen und im Westjordanland und der Widerstand des Volkes habe sich auf diese Regionen zu beschränken. Außerdem wurde die Hamas aufgefordert, sich im Vorfeld der neuen PA-Wahlen einer Regierung der nationalen Einheit anzuschließen.

Doch die Hamas äußerte sich zu allen Punkten ablehnend. Nach Aussagen von Abdel Asis Rantisi, einem hohen Hamas-Vertreter, besteht sie auf dem Recht auf Widerstand „im gesamten palästinensischen Land“, was für ihn Israel einschließt. Einer Regierung der nationalen Einheit würde die Hamas nur dann beitreten, wenn diese „die Intifada und den Widerstand“ unterstützt. Und auch eine gemeinsame politische Linie würde sie nicht befolgen, weil es, wie Rantisi meint, „keine gemeinsame politische Strategie von Fatah und Hamas gibt“.

Doch die entscheidende Kluft sieht Rantisi bei den politischen Zielen. Zwar sieht auch die Hamas als unmittelbares Ziel die Beendigung der Besatzung, doch sie lehnt es ab, die nationalen und religiösen Ansprüche auf das frühere Mandatsgebiet Palästina aufzugeben, zu dem auch das gesamte heutige Israel gehört. „Die Intifada wird Israel zum Rückzug aus den 1967 besetzten Gebieten zwingen“, meint Rantisi. „Das bedeutet aber nicht, dass der arabisch-israelische Konflikt damit zu Ende ist.“

Das äußerste Zugeständnis, zu dem sich die Islamisten bereit fanden, war ein zeitlich begrenzter Waffenstillstand unter bestimmten Auflagen. Als Gegenleistung verlangten sie „Garantien“, dass die Israelis aus den neu besetzten Gebieten abziehen, dass sie palästinensische Gefangene ungeachtet ihrer fraktionellen Zugehörigkeit entlassen und ihre Strategie der gezielten Tötung von militärischen und politischen Hamas-Kadern aufgeben. Dies waren schließlich auch die Bedingungen für einen Waffenstillstand, auf die sich die Hamas, der Islamische Dschihad und die Fatah am 29. Juni 2003 nach monatelangen zähen Verhandlungen verständigt haben. Die drei Parteien verpflichteten sich, diesen Waffenstillstand drei Monate einzuhalten, unter der Voraussetzung, dass die PA keine ihrer Kämpfer verhaftet oder entwaffnet. Doch die islamistischen Organisationen beendeten die Waffenruhe bereits am 21. August mit einem Attentat in Jerusalem, das gegen einen Bus mit ultraorthodoxen Juden gerichtet war.

Vor Beginn der Al-Aksa-Intifada im September 2000 litt die palästinensische Nationalbewegung unter einer unzulänglichen Führung, heute leidet sie unter dreien.

Die erste Führungsgruppe ist das alte Regime, das heute im Gewand der Palästinensischen Autonomiebehörde auftritt, und in zwei Lager zerfallen ist. Das eine, zu dem Abbas gehört, akzeptiert unbesehen das Programm der USA als einzige Möglichkeit, internationale Unterstützung für die palästinensische Sache zu gewinnen. Das andere Lager befürchtet, die israelisch-amerikanische Strategie der Ausgrenzung Arafats werde unweigerlich zu ihrem eigenen Untergang führen, also zur Erosion ihrer grundlegenden nationalen Forderungen: Selbstbestimmung, Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten und Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge. Gemeinsam ist beiden Lagern innerhalb der alten Führung, dass sie die Roadmap akzeptieren und deren Forderung erfüllen, dem Widerstand in Form des „Terrorismus“ abzuschwören.

Die zweite Gruppe ist die nachwachsende Führung der geschwächten Tansim. Ihre nationale und innenpolitische Strategie wird immer noch von der Mehrheit der Palästinenser im Gaza-Streifen und im Westjordanland unterstützt. Das gilt vor allem für ihre Aussage, dass ein Staat in den besetzten Gebieten das strategische Hauptziel des nationalen Kampfes sein müsse. Aber der enorme Aderlass, den die Tansim bei der Rückkehr der Israelis hinnehmen musste, hat sie gezwungen, die bewaffnete Initifada als Strategie für die Befreiung Palästinas zu überdenken. Die Mehrheit in der politischen Führung der Tansim neigt heute dazu, den Waffenstillstand, die Roadmap und Abbas als Premierminister aus taktischen Gründen zu unterstützen. Mit dieser Taktik wollen sie ihre Anführer aus den israelischen Gefängnissen freibekommen und neue PA-Wahlen ermöglichen. Mit Hilfe von Neuwahlen will diese junge Garde der Fatah nach Ansicht des palästinensischen Experten Khalil Schikaki „die alte Garde zerschlagen und die Macht übernehmen“.

Die dritte Gruppierung ist der bewaffnete Widerstand, der vom radikalen Flügel der Hamas angeführt wird, aber auch von Fatah-Ablegern wie den Al-Aksa-Brigaden und dem „Komitee des Volkswiderstands“ (PRC). Diese Gruppen, die der islamistischen Ideologie anhängen und ein immer engeres Bündnis mit islamistischen und nationalistischen Kräften in der gesamten arabischen Welt anstreben, verfolgen das unausgesprochene Ziel, eine neue nationale Bewegung auf den Trümmern der alten zu errichten. Ihre Strategie ist die des „absoluten Widerstandes“, die von der Hisbollah im Südlibanon erfunden wurde. Ihr nationales Ziel ist nicht der Friede, sondern der erzwungene Abzug Israels aus allen, oder fast allen, besetzten Gebieten.

Diese politischen, ideologischen und organisatorischen Ungereimtheiten sind das bittere Ergebnis eines Aufstandes, von dem sich viele Tansim-Mitglieder sehr viel mehr versprochen hatten. Sie sahen in der Intifada das Mittel, das Ende der Besatzung mittels Revision der destruktiven Oslo-Vertäge zu beschleunigen, aber auch einen Katalysator, um das palästinensische Regime zu demokratisieren und ihre eigenen Leute in die führenden Positionen zu bringen.

Drei Jahre später hat sich keines dieser Ziele erfüllt. Die Führung liegt noch immer in den Händen so diskreditierter Figuren wie Abbas und Arafat, der Widerstand dagegen in den Händen der Hamas und der Kräfte, die an einer militärischen Lösung festhalten. Damit ergibt sich das Bild einer zerrissenen Bewegung mit zwei oder gar drei unvereinbaren Strategien. Aber dieser innere Konflikt wird nicht ausgetragen, sondern durch temporäre Vereinbarungen – wie beim Waffenstillstand – eher unterdrückt.

Viele Palästinenser sehen den einzigen Ausweg aus der Sackgasse in dem Bemühen um eine gemeinsame und verbindliche Befreiungsstrategie der Nach-Oslo-Ära, wie sie bereits in Gaza und Kairo erörtert wurde. Doch eine solche Strategie sollte nicht wieder nur von den verschiedenen Fraktionen abgesegnet werden. Sie müsste vielmehr aus dem demokratischen Urteil des palästinensischen Volkes erwachsen und sich in Wahlen ausdrücken. Wahlen auf nationaler Ebene sind derzeit vermutlich die einzige Möglichkeit für eine Einigung der verschiedenen Strömungen in der palästinensischen Bewegung. Und die einzige Ebene, auf der die Richtung des nationalen Unabhängigkeitskampfes demokratisch legitimert werden kann.

Aus seiner Gefängniszelle in Israel hat Marwan Barguti erklärt, dass Wahlen der „demokratische und legale Weg“ seien, um den Abgang von vielen PA-Funktionären und Führungskräften zu erzwingen, die „ihrer Rolle und Verantwortung“ nicht gerecht geworden sind. Auch die Hamas-Führer (unter anderem auch Rantisi) haben erklärt, dass sie sich einer mehrheitlichen Entscheidung fügen würden, „wenn die Wahlen frei und ohne die Einschränkungen der Oslo-Verträge“ stattfänden. Das gelte auch für eine mögliche Entscheidung, bewaffnete Angriffe innerhalb Israels zu untersagen. Dagegen gilt eine demokratische Entscheidung als undenkbar, die bewaffnete Aktionen gegen Soldaten und Siedler in den besetzten Gebieten verbieten würde.

Doch solche Wahlen werden die Palästinenser gegen den erbitterten Widerstand Israels und der USA erkämpfen müssen, die sich jeder Abstimmung widersetzen würden, die etwa Arafat eine zweite Amtszeit als Präsident zugestehen oder der Hamas ein größeres Gewicht in einer künftigen palästinensischen Regierung und im politischen System einräumen könnte.

Ohne eine umfassende Reform dieser Art jedoch, meinen viele palästinensische Beobachter, wird die Intifada endgültig zum Debakel werden. Ohnehin ist an die Stelle des nationalen Kampfes gegen die Besetzung längst etwas anderes getreten: ein destruktives, verantwortungsloses und letztlich sinnloses Ringen um die Führung der Palästinenser nach dem Scheitern von Oslo.

deutsch von Elisabeth Wellershaus

* Journalist, lebt in Jerusalem und schreibt u. a. regelmäßig für den Economist und das Middle East Research Institute. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Dispatches from Palestine: the Collapse of the Oslo Agreement“, London (Pluto Press) 1999.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2003, von GRAHAM USHER