12.09.2003

Krokodile auf dem Acker

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Krokodile auf dem Acker

NACH wie vor verfügen in Südafrika die weißen Farmer über den Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Leidtragender des ungerechten Erbes aus der Zeit des Apartheid-Regimes ist die schwarze Landbevölkerung, die mehrheitlich in bitterer Armut lebt. Anders als Simbabwe, wo radikale Landenteignungen ohne Entschädigung beschlossen wurden, verfolgt die südafrikanische Regierung eine versöhnlichere Politik, um die alte Elite nicht zu vergraulen. Dadurch ändert sich kaum etwas an dem sozialen Ungleichgewicht innerhalb der südafrikanischen Gesellschaft. Und die benachteiligte schwarze Mehrheit des Landes beginnt sich zu wehren. Von COLETTE BRAECKMAN *

Drei runde Hütten und ein kleines Ziegelhaus auf dreißig Quadratmetern trockenem Boden. Kein Trinkwasser, kein Strom. Seit fünfzehn Jahren lebt hier, in der Region KwaZulu-Natal (Südafrika), die Familie Ntuli, knapp zwanzig Personen, in der Mehrzahl Frauen, Kinder in verdreckten Kleidern und Jugendliche. Sie alle leben von den 650 Rand (77,15 Euro) im Monat, die Sarah, die Großmutter, vom Staat als Invalidenrente erhält.

Die vier gesunden Männer der Familie sind auf Arbeitsuche in der nahen Stadt Newcastle. Die riesigen Maisfelder jenseits der Brücke, die über die Schnellstraße führt, werden Tag und Nacht durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem versorgt. Familie Ntuli muss das Wasser in Kanistern aus dem schmutzigen Fluss unterhalb der Straße holen. Die Landschaft ist von Mauern und Stacheldrahtzäunen durchzogen. Sarah zeigt auf einen kleinen Grabhügel am Horizont: „Da liegen unsere Vorfahren begraben, aber jetzt können wir nicht mehr hin, der Farmer hat es uns verboten.“

„Früher haben wir auf der Farm der Cilliers gearbeitet“, erzählt uns die alte Frau mit dem sanften Blick. „Wir bekamen keinen Lohn, aber wir durften hier wohnen. Und wir durften unser Vieh um das Haus herum weiden lassen. Manchmal gab der Farmer uns 150 Rand (18 Euro) für einen Monat. Damit ist es jetzt vorbei. Seit die Regierung erlassen hat, dass jeder Landarbeiter, der auf dem Land eines weißen Farmers lebt, einen Lohn von 650 Rand im Monat erhalten muss, hat der Baas (Afrikaans für „Chef“ oder in diesem Fall „Farmer“) beschlossen, dass wir weggehen sollen, weil er nicht das Geld hat, uns zu bezahlen. Unsere drei Kühe hat man uns weggenommen und verkauft. Eigentlich dürfen wir nicht einmal das Wasser aus dem Fluss holen.“

Weniger als fünfzig Meter von dem bescheidenen Wohnquartier entfernt rauschen auf der Schnellstraße die Pick-ups der Farmer und die Überlandbusse vorbei. Doch auf dem Pfad, der sich durch das Gestrüpp schlängelt, dürfen die Jungen nicht einmal mit dem Fahrrad oder Moped fahren: Er ist Privateigentum.

Zurück auf der Straße, stellt sich uns eine Frau in den Weg, die uns mit dem Mobiltelefon in der Hand bereits erwartet hat. Sie habe ihren Mann, ihren Sohn und die Polizei schon verständigt. Wütend fährt sie uns an: „Was machen Sie hier auf meinem Grund und Boden? Wen haben Sie um Erlaubnis gefragt?“ Ist es etwa verboten, die Familie Ntuli in ihrem Haus zu besuchen? Haben diese Leute etwa nicht die Freiheit, Besuch zu bekommen? Nun verliert Mangaliso Kubheka die Geduld. Er ist Koordinator der im Juli 2001 gegründeten landesweiten Organisation „Landless People‘s Movement – LPM“ („Bewegung der Landlosen“): „Das Land gehört Ihnen vielleicht, aber nicht die Menschen, die darauf leben. Die sind Bürger des neuen Südafrika, und sie haben Rechte.“ Und dann bricht es aus ihm heraus: „Außerdem – als ihr aus Europa gekommen seit, habt ihr das Land nicht mitgebracht.“

Überall in der Region trifft man auf das gleiche Bild, und die Geschichten ähneln einander: Schwarze Familien, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, leben auf einem kleinen Stück Land am Rande riesiger Besitzungen, und überall hat sich das Verhältnis zu den weißen Farmern verschlechtert. In den letzten Monaten wurden einige umgebracht, und auch Vieh wurde gestohlen. Für Mangaliso Kubheka sind das zwar Verbrechen, aber auch eine Folgeerscheinung der wachsenden Spannungen: „Jahrzehntelang haben die Landarbeiter fast umsonst für die weißen Farmer geschuftet, und jetzt behaupten die Farmer, sie hätten kein Geld, um die Leute vernünftig zu bezahlen. Darum vertreiben sie die Arbeiter und ihre Familien und stellen bei Bedarf Saisonarbeiter ein.“

„Jagdgebiete“ und „Wildreservate“ schießen in KwaZulu-Natal wie in ganz Südafrika aus dem Boden. Haben sich die weißen Farmer erst einmal ihrer Arbeiter entledigt, siedeln viele von ihnen Krokodile, Nashörner und Elefanten auf ihrem Land an und eröffnen Naturparks für Touristen.

Nach neun Jahren wohlwollenden Abwartens könnte die Geduld der südafrikanischen Landbevölkerung demnächst zu Ende sein. Immer mehr Menschen schließen sich der von Mangaliso Kubheka gegründeten LPM an. Nach Kontakten mit deren brasilianischem Pendant MST (Movimiento de los sin tierra) kündigt Kubheka nun direktere Aktionen an: „Wir verurteilen zwar, dass sich in Simbabwe(1) die Parteifunktionäre das umverteilte Land unter den Nagel gerissen haben. Aber irgendwann werden auch wir auf die Methode der Landbesetzung zurückgreifen. Wir versuchen gerade, eine „Armee der landlosen Bauern“ aufzubauen, weniger um irgendjemand anzugreifen, als vielmehr um uns gegen die privaten Sicherheitsdienste zu verteidigen. Die von den Farmern engagierten Trupps drangsalieren die Landarbeiter und hindern die Familien daran, ihre Toten dort zu begraben, wo sie seit Jahrzehnten gelebt haben.“

Die Farmer verwehren den ehemaligen Landarbeitern die Beerdigungen, weil sie wissen, dass die Angehörigen sonst ein Recht einfordern könnten, zurückzukommen oder auf dem „Land ihrer Ahnen“ zu bleiben.

Im neuen Südafrika beherrschen andere Themen die Tagesordnung: die Aidsepidemie, von der jeder fünfte Erwachsene betroffen ist;(2) die umstrittene Rolle als Regionalmacht, die Präsident Mbeki seinem Land verschaffen möchte; außerdem die Umsetzung des Programms „New Partnership for Africa‘s Development – Nepad“ (Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung). Doch die schwerste Hypothek der Apartheid ist immer noch die Landfrage, auch wenn die Interessen der Landarbeiter mangels politischer Unterstützung heute ebenso wenig beachtet werden wie früher.

Überall im Land ist der Kontrast deutlich sichtbar: auf der einen Seite riesige, sorgfältig eingezäunte Ländereien mit Viehweiden und industriellem Anbau von Nutzpflanzen; die Straßen, die hindurchführen, sind in exzellentem Zustand; auf der anderen Seite schwarze Familien, die auf winzigen Parzellen hausen. Am Ende der ungeteerten Pisten stößt man vielfach auf das, was von den einstigen „Homelands“ geblieben ist: ausgelaugtes, erodiertes Land, das alle gesunden Männer in Richtung Stadt verlassen haben.

Unter dem Apartheid-Regime hatte es die größte Umsiedlung und Enteignung des vergangenen Jahrhunderts in der Geschichte des Landes gegeben. Von 1960 bis 1980 wurden mehr als 3,5 Millionen Schwarze von ihrem Land vertrieben und in den „Homelands“ oder den Townships am Rande der Großstädte eingepfercht. Die ihres Bodens beraubten Schwarzen waren nun keine potenziellen Rivalen mehr für die weißen Farmer, sondern dienten als billiges Arbeitskräftereservoir für Farmen, Bergwerke und Industrie. Als der Afrikanische Nationalkongress (ANC) 1994 an die Macht kam, bemühte er sich um den Umbau einer Gesellschaft, in der 60.000 weiße Farmer über 87 Prozent des Bodens verfügten, während Millionen von Schwarzen sich die restlichen 13 Prozent teilten. Jeder wusste, dass die Vertreibung der Schwarzen vom Land ihrer Vorfahren und die entschädigungslosen Enteignungen nicht nur das Ergebnis der kolonialen Eroberung oder des Burenkriegs waren, sondern Ergebnis einer Politik, die seit 1913 ganz gezielt verfolgt wurde (damals wurden mit dem „Land Act“ Gebiete festgelegt, in denen sich nur Weiße ansiedeln durften). Als die Afrikaander 1948 an die Macht kamen, wurden die „Homelands“ geschaffen, und der rassistische Staat beschleunigte die im 19. Jahrhundert begonnene Zwangsumsiedlung der einheimischen Bevölkerung.

Man hätte also hoffen können, dass der neue, von einer schwarzen Mehrheit geführte südafrikanische Staat sich aktiv darum bemühen würde, die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu beseitigen. Doch für ein rasches Vorgehen fehlte das Geld. Einer der wichtigsten Kompromisse zwischen dem Afrikanischen Nationalkongress und der Regierung Frederick de Klerks war das Vorhaben, die weiße Bevölkerung und insbesondere die Farmer in den neuen Staat zu integrieren. So konnte es kaum überraschen, dass die vom damaligen Landwirtschaftsminister Derek Hanekom als vordringlich bezeichnete Landreform zwar mit ehrgeizigen Zielen aufwartete, in der Praxis aber moderat ausfiel. Sie bestand aus drei Teilen: der Rückerstattung von Land (Restitution of Land Rights Act, 1994), einer Reform des Pachtsystems, die größere Rechtssicherheit für die Pächter bringen sollte (Communal Property Associations Act, 1996), und der eigentlichen Landreform (Labour Tenants Act, 1996, und Extension of Security Tenure Act, 1997).

Die Umverteilung sollte den am stärksten benachteiligten Gruppen die Möglichkeit bieten, Grund und Boden zu erwerben. Der Staat, der in der Vergangenheit die Beschlagnahmungen organisiert hatte, verzichtete nun auf seine Vorrechte und auf Zwangsmaßnahmen jeglicher Art. Er setzte auf eine so genannte marktgestützte Landreform, die auf dem Grundsatz allseitiger Freiwilligkeit beruhte. Schwarze Bauern, die Land erwerben wollten, konnten dies auf eigene Faust tun, sofern sie die nötigen Mittel besaßen oder sich mit anderen Kaufwilligen zusammentaten, um die vom Staat versprochene Hilfe von maximal 16 000 Rand (1 900 Euro) pro Person in Anspruch zu nehmen.

Trotz der ungleichen Ausgangsbedingungen für die Beteiligten bestand also das Grundprinzip in der Freiheit aller Parteien und der Achtung des Privateigentums. Das 1994 erlassene Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm sah vor, in den folgenden fünf Jahren 30 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche umzuverteilen.

Seit die von einer schwarzen Mehrheit geführte Regierung an der Macht ist, hat sie zahlreiche finanzielle Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen für die Landbevölkerung eingeführt, zudem mobile Krankenhäuser geschaffen, Schulen errichtet und die Versorgung mit Trinkwasser verbessert (für das die Verbraucher allerdings zahlen müssen, da die Wasserversorgung privatisiert wurde). Doch die Fortschritte hielten sich in Grenzen: Bis Juni 2000 waren von 65 000 Anträgen auf Rückerstattung von Grundbesitz nur 6 250 positiv beschieden worden, und erst 1 Prozent des Landes war umverteilt.(3) Innerhalb von acht Jahren wurden 1 098 008 Hektar übertragen, das sind 0,89 Prozent der Gesamtfläche und 1,2 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche Südafrikas.

Von den Opfern der Zwangsumsiedlung haben nach acht Jahren 386 000 Personen Leistungen aus den Entschädigungsprogrammen erhalten. Aber in Wirklichkeit waren es nur selten landlose Bauern; die meisten waren Städter, die eine pauschale Entschädigung von 40 000 Rand (4 740 Euro) erhielten. Weiße Farmer konnten dagegen bis zu 3 Millionen Rand für die Aufgabe einer Farm verlangen. Im Juni 2000 bekräftigte die Regierung allerdings ihre Absicht, innerhalb der nächsten fünf Jahre 15 Millionen Hektar Land an schwarze Landwirte zu übertragen, ein Versprechen, dessen Umfang dem Dreifachen des für 2003/2004 vorgesehenen Budgets für den Landerwerb entspricht.

Darüber kann Mangaliso Kubheka nur müde lächeln: „Wenn wir den Behörden sagen, dass ein Farmer bereit ist, Land zu verkaufen, und schwarze Bauern sich selbstständig machen wollen, erhalten wir oft keine Antwort. Und dann heißt es immer, es sei kein Geld da; dabei hat der Landwirtschaftsminister nicht einmal die Mittel ausgeschöpft, die ihm für den Rückkauf von Land zur Verfügung stehen.“

In Wirklichkeit, so erklärt die Association for Rural Advancement (Afra), die seit zwanzig Jahren für die Landreform kämpft, liegen die Prioritäten der Regierung anderswo. In Pietermaritzburg, nördlich von Durban, sagt uns Sanjaya Pillay, der Sprecher der Organisation: „Für die Regierung haben nicht die Armen Priorität, sondern sie setzt lieber auf die Stärkeren, die so genannten neuen Farmer.“ Anders formuliert: Die Kredite gehen an schwarze Farmer, die in der Lage sind, den Eigenanteil von 5 000 Rand (590 Euro) aufzubringen.

Das bedeutet, dass 70 Prozent der Landbevölkerung ausgeschlossen sind, nämlich alle, die mit einem Jahreseinkommen unter 1 680 Rand arm sind. Die Unternehmungsfreudigsten, die schon jetzt Zugang zu einflussreichen Kreisen haben, werden also die wahren Nutznießer der Reform sein. Für die 7 Millionen Menschen, die auf 65 000 weißen Farmen leben, oder die 12 Millionen Schwarzen in den ehemaligen Homelands hat sich noch nicht viel geändert.

Nach Ansicht der Afra ist „die wichtigste Errungenschaft des neuen Regimes die Abschaffung der rein rassisch bedingten Ungleichheit. Es gibt inzwischen schwarze Farmer, die von weißen Farmern kooptiert wurden, und wenn sie erfolgreich sind, wird darauf ganz besonders hingewiesen. Es gibt auch Beispiele für monitoring(4), bei dem weiße Farmer schwarze Kollegen ‚adoptieren‘ und ausbilden.“ Die landlosen Bauern hingegen sind heute stärker marginalisiert als früher. Und auch denjenigen, die in den Städten leben und angesichts einer Arbeitslosenquote von 45 Prozent in die Landwirtschaft zurückkehren wollen, bietet man keine Lösungen an. In Sanjaya Pillays Augen ist das Programm für Wachstum, Beschäftigung und Umverteilung (Growth, Employment and Redistribution Strategy, Gers) schuld daran, dass die ursprünglichen Ziele zugunsten der Liberalisierung, der Öffnung der Märkte, der Privatisierung der Wasserversorgung usw. aufgegeben wurden.

Und tatsächlich hat der ANC bislang kein Unterstützungsprogramm für Arme entwickelt, sondern setzt auf die Modernisierung des ländlichen Sektors, der ganz auf Devisen bringende Exporte und die Logik des Marktes ausgerichtet sein soll. „Eine Reform, die den Afrikaandern nicht gelungen wäre.“

deutsch von Michael Bischoff

* Journalistin, Le Soir, Brüssel. Autorin von „Nouveaux Prédateurs“, Paris (Fayard) 2003.

Fußnoten: 1 Siehe Colette Braeckman, „Günstlingswirtschaft als Landreform“, Le Monde diplomatique, Mai 2002. 2 Siehe Philippe Rivière, „Die zweite Apartheid heißt Aids“, Le Monde diplomatique, August 2002. 3 Siehe Tom Lebert, „Tinkering at the Edges, Land reform in South Africa, 1994 to 2001“, Bericht für die „International Conference on Access to Land“ vom 19. bis 23. März 2001 in Bonn. 4 Eine Art Betreuung und Unterstützung.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2003, von COLETTE BRAECKMAN