Kultur versus Handelsrecht
ZWEI Wochen nach Cancun wird die Unesco vom 29. September bis 17. Oktober ihre 32. Vollversammlung abhalten. Auf der Tagesordnung steht die Förderung „kultureller Vielfalt“, eine Formulierung, die ins Positive wendet, was mit dem alten Titel „Ausnahmeregelungen für Kulturgüter“ noch eher negativ formuliert war.
Die Frage steht auch in der Europäischen Union und innerhalb der Welthandelsorganisation zur Debatte. Ihre diversen Aspekte werden auch in rund einhundert internationalen Dokumenten behandelt, die teils verpflichtenden Charakter besitzen (Chartas, Übereinkommen, Protokolle, Verträge, EU-Programme und EU-Richtlinien), teils bloße Absichtserklärungen darstellen (Erklärungen, Resolutionen, Empfehlungen, Aktionspläne), in vielen Fällen jedenfalls toter Buchstabe blieben.
Die besondes engagierte Regierung Frankreichs(1) will nichts weniger als die Verabschiedung eines internationalen Übereinkommens durchsetzen, das eine den übrigen völkerrechtlichen Normen gleichgestellte Forderung nach kultureller Vielfalt festschreibt. Die Konvention soll erstens den besonderen Charakter kultureller Güter und Dienstleistungen anerkennen. Zweitens soll jede Regierung das verbriefte Recht haben, gesetzliche, verfahrensmäßige und finanzielle Maßnahmen zu ergreifen, um das kulturelle und sprachliche Erbe ihres Landes zu schützen. Drittens soll die Konvention die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den südlichen Ländern anerkennen, etwa in Gestalt von Abkommen zur Koproduktion von Kinofilmen und anderen audiovisuellen) Produkten, mit dem erklärten Ziel, den weniger entwickelten Ländern Zugang zu den Förderprogrammen und Vertriebsnetzen der Industrieländer zu verschaffen.
Aber einflussreiche Kräfte sind gegen diese Vorstellungen am Werke. An der Spitze der Neinsager steht die US-Regierung, gefolgt von zahlreichen anderen, nicht zuletzt der Welthandelsorganisation selbst. Stärkere Vorbehalte haben auch Brasilien, die meisten EU-Mitgliedstaaten (wie auch eine Mehrheit der EU-Kommission) und eine Reihe anderer Staaten. Das Pro-Lager wird angeführt von Kanada, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Marokko, Mexiko, sowie den frankophonen Ländern.
OBWOHL die WTO in keinem der Vorbereitungsdokumente zur Unesco-Vollversammlung erwähnt wird, ist offensichtlich, dass die Befürworter der so genannten französischen Ausnahme die Welthandelsorganisation an die Kandare nehmen wollen. Auf eine internationale Rechtsnorm zum Schutz kultureller Vielfalt könnte man sich in den Verhandlungen über das Allgemeine Abkommen zum Dienstleistungsverkehr (Gats)(2) wie auch in Verfahren vor dem WTO-Streitbeilegungsorgan berufen.
Spinnt man das Szenario weiter, könnte man im Konfliktfall den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anrufen, der als einzige Instanz befugt ist, die wechselseitige Vereinbarkeit völkerrechtlicher Normen zu beurteilen. Damit aber wäre die Vorrangstellung des Handelsrechts gegenüber allen anderen Rechten (Soziales, Umwelt, Kultur) in Frage gestellt – und auch die Rolle der WTO als Speerspitze der Globalisierung.
Was die Unesco betrifft, so sieht die Sache für die Konventionsbefürworter auf dem Papier gar nicht so schlecht aus. Schließlich hat die Vollversammlung (in der alle Mitgliedstaaten sitzen) im Dezember 2001 einstimmig eine Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt verabschiedet, die ausdrücklich auf ein normatives Instrumentarium Bezug nimmt. Und im April 2003 beschloss der Exekutivrat (in dem 50 Staaten vertreten sind), ebenfalls einstimmig, Verhandlungen über ein solches Instrumentarium auf die Tagesordnung der nächsten Vollversammlung zu setzen.
Nun kehren aber im Herbst dieses Jahres die USA in die Weltkulturorganisation zurück und werden 25 Prozent des Unesco-Haushalts bestreiten.(3) Zudem weiß man, das der derzeitige Generaldirektor, der Japaner Koichiro Matsuura, nicht unbedingt für eine solche Konvention eintritt. Er glaubte, die Frage der kulturellen Vielfalt mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung von 2001 ein für alle Mal vom Tisch zu haben. Vor allem aber will er nichts unternehmen, was Washington missfallen könnte.
Die Frage ist, ob die US-Amerikaner, die sich auf dem Gebiet der Kultur stärker protektionistisch verhalten als die meisten anderen Länder(4), sofort nach ihrer Rückkehr in die Unesco die Feindseligkeiten gegen Frankreich und seine Verbündeten eröffnen werden. Oder ob sie – was ihnen kaum schwerer fallen dürfte –den schon jetzt spürbaren Druck auf unentschlossene Regierungen verstärken und auf diese Weise dafür sorgen werden, dass die Verhandlungen im Sande verlaufen. Als Termin für die Verabschiedung einer eventuellen Konvention wird die Vollversammlung im August 2005 ins Auge gefasst. Wie hitzig die Diskussion geführt werden wird, wird sich schon im Vorfeld entscheiden. Womöglich kommt es in dieser Frage zu einem ähnlichen Tauziehen zwischen Washington und Paris wie vor einigen Monaten beim Irakkrieg.
Fußnoten: 1 Paris konnte in letzter Minute durchsetzen, dass im Verfassungentwurf des Europäischen Konvents hinsichtlich audiovisueller und kultureller Fragen weiterhin die Einstimmigkeitsregel gilt, wenn die kulturelle Vielfalt in Gefahr ist. Für alle anderen Dienstleistungen, namentlich Bildung und Gesundheit, reicht die qualifizierte Mehrheit – die Schockwaffe der „Liberalisierung“ –, um das Mandat der Kommission für internationale Verhandlungen zu beschließen. 2 Bis zum heutigen Tag haben sich im Rahmen des Gats erst 25 der 146 WTO-Mitgliedstaaten zur Liberalisierung des audiovisuellen Sektors verpflichtet. Die EU ist in diesem Bereich keine Verpflichtungen eingegangen. 3 Die USA haben die Unesco im Dezember 1984 verlassen. 4 Die USA importieren nur Prozent ihres „Verbrauchs“ an kulturellen Gütern und Dienstleistungen.