12.09.2003

Das Gemauschel geht weiter

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Das Gemauschel geht weiter

ETLICHE Regierungen dürften inzwischen gewiss bedauern, dass sie 1994 die Statuten der Welthandelsorganisation auf der ersten WTO-Konferenz in Marrakesch unterzeichnet haben. Eigentlich war die neue Organisation als ständiges Diskussionsforum für multilaterale Handelsfragen konzipiert, sollte also mit der Tradition der „Verhandlungsrunden“ brechen, die für ihre Vorläuferorganisation, das Gatt(1), charakteristisch war. Schon bald aber wurde klar, dass sich an der überkommenen Funktionsweise nichts ändern würde.(2)

Nach wie vor steht die normalerweise im Zweijahresrhythmus stattfindende viertägige Ministerkonferenz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die laufenden Verhandlungen über spezifische Sachfragen – Zugang zu Arzneimitteln, Landwirtschaft, Dienstleistungen, Ausnahmeregelungen für Entwicklungsländer, Marktzugang für nichtlandwirtschaftliche Erzeugnisse und andere mehr – folgen ihrem eigenen Zeitplan und sind thematisch völlig separiert, formelle Querverbindungen fehlen also ganz. Vor allem aber finden solche Gesprächsrunden an solchen Orten statt, wo es bestimmt keine Demonstranten gibt.

Bei der nächsten Ministerkonferenz, die vom 10. bis 14. September im mexikanischen Cancún tagt – davor hatte man sich im November 2001 in Doha getroffen(3) –, stehen keine besonderen Entscheidungen an: Man tagt, weil die Statuten es so wollen. Dennoch zirkulieren im Vorfeld dieser WTO-Konferenz – ähnlich wie bei EU-Verhandlungen, bei denen es angeblich immer um irgendwelche hochdramatischen Entscheidungen geht, obwohl gar nichts Dringliches ansteht – alle möglichen Mutmaßungen, und am Ende wird das Ganze wieder einmal als „Erfolg“ oder als „Scheitern“ bewertet.

Aber woran erkennt man einen „Erfolg“? Ganz einfach daran, dass die „Liberalisierungsmaßnahmen“ auf allen anstehenden – und wenn möglich sogar auf weiteren – Verhandlungsfeldern fortgeführt und noch verschärft werden.

Dass diese Liberalisierungsstrategie im Sinne der betroffenen Bevölkerungsgruppen erfolgreich ist, steht für die Liberalen außer Frage, denn so verlangt es ja ihr Credo. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Der koreanische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang hat nachgerechnet (gestützt auch auf die Arbeiten des Schweizer Ökonomen Paul Bairoch, der früher beim Gatt tätig war), dass die Weltwirtschaft in den Jahren 1980 bis 2000, dem goldenen Zeitalter von Freihandel und Deregulierung, langsamer gewachsen ist als in der Periode 1960–1980, die doch im Ruch eines „archaischen“ Protektionismus und einer interventionistischen Wirtschaftspolitik steht.(4)

Dabei gäbe es ein einfaches Mittel, der Sache auf den Grund zu gehen. Der französische Wirtschafts- und Sozialrat (CES) hat in einer vorzüglich dokumentierten Stellungnahme(5) vorgeschlagen, eine öffentliche Bilanz zu erstellen über „die nicht handelsbezogenen Folgewirkungen der Abkommen von Marrakesch und ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, auf die Reduktion der Einkommensunterschiede zwischen den Ländern als Funktion ihres jeweiligen Entwicklungsniveaus, auf die Beschäftigung, die territoriale Verteilung der Produktionsaktivität, die Umwelt und die Umsetzung sozialer Normen“. Der CES macht den nahe liegenden Vorschlag, die EU (oder ersatzweise auch Frankreich) sollten den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen auffordern, eine entsprechende Evaluierung durchzuführen.

Merkwürdig nur, dass EU-Kommissar Pascal Lamy, der dank seiner vielen PR-Freunde ständig in den wichtigen Medien präsent ist, die Anregung noch nicht aufgegriffen hat. Oder ist er sich, obwohl er ständig über die Segnungen der Handelsliberalisierung tönt, seiner Sache doch nicht so sicher? Dann sollte er sich doch einmal mit seinen Thesen dem Publikum stellen. Zur Unterstützung könnte er ja noch drei bedeutende Figuren vorsingen lassen, die kürzlich in einem gemeinsam verfassten Artikel den globalisierten Handel als Instrument im Dienste der Armen gefeiert haben. Diese drei tollen Persönlichkeiten haben sich in ihren früheren und in ihren derzeitigen Ämtern, wie alle Welt weiß, als Vorkämpfer der Armen profiliert: Robert Rubin, ehemals Finanzminister der USA und heute im Vorstand der Citigroup, Shoichiro Toyoda, Ehrenpräsident des japanischen Arbeitgeberverbands, und Dominique Strauss-Kahn, ehemals (sozialistischer) französischer Finanzminister.(6)

Dass der europäische Kommissar im Moment zu beschäftigt ist, um diesen Vorschlag aufzugreifen, kann man indes verstehen. In Cancún gilt es zuallererst, zu verhindern, dass die Inszenierung mit einem Fiasko endet. „Die Welt ist keine Ware“, rufen die Demonstranten gegen die WTO. Doch die Liberalisierung soll weitergehen, und deshalb muss man in Cancún ganz dringend zu Kompromissen kommen. Der Deal lautet: Ich gebe hier nach, du gibst da nach, und dann geht es vereint gegen die anderen.

Zwar löst der agrarpolitische Minimalkonsens zwischen der EU und den USA (siehe Seite 8) keines der grundsätzlichen Probleme, besiegelt aber den transatlantischen Schulterschluss gegen eine Reihe von südlichen Ländern, die für die angebliche „Marktöffnung“ einige Gegenleistungen erbringen sollen. So sollen die berühmten „Singapur-Fragen“(7) erneut auf den Verhandlungstisch kommen: Fragen der Investitionen, des Wettbewerbs, der Transparenz im öffentlichten Beschaffungswesen und natürlich weitere „Handelserleichterungen“. Pascal Lamy und sein US-amerikanischer Freund Robert Zoellick legen sich deshalb so sehr ins Zeug, weil sie hoffen, die im Süden noch existierenden Schutzwälle gegen die Offensive der EU- und US-Konzerne gemeinsam schleifen zu können.

In puncto Investitionen will die WTO mit wenigen Detailänderungen durch das Fenster wieder hereinholen, was 1998 durch die Tür der OECD hinausbefördert wurde: das Multilaterale Investitionsabkommen. Zweifelhaft ist allerdings, ob die südlichen Länder, allen voran Indien, dieses Kapitel wieder öffnen wollen. Zumal wenn beim Thema Arzneimittel der US-Handelsbeauftragte (Zoellick ist Gefangener der eigenen Pharmalobby) der einhelligen Auffassung der anderen 145 WTO-Mitglieder widerspricht, dass die armen Länder Zugang zu Generika brauchen, die sie nicht selbst herstellen können.(8)

Viele Fragen von ebenso grundsätzlicher Bedeutung sind hingegen tabu: dass zum Beispiel gerade die Intensivierung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs das Sozial- und Umweltdumping begünstigt; oder dass Washington den schwankenden Dollarkurs als handelspolitische Waffe einsetzt; oder dass das Problem der öffentlichen Verschuldung der Entwicklungsländer gelöst werden muss. Denn nur weil die Rückzahlung der Auslandsschulden als sankrosankt gilt, sind die Länder der Dritten Welt gezwungen, Agrarerzeugnisse zu exportieren, obwohl – wie beispielsweise in Brasilien – ein Großteil der Bevölkerung nicht genügend zu essen hat. Ein schlechthin aberwitziger Zustand, der für die Konten der Gläubiger jedoch günstig ist und darüber hinaus die Abhängigkeit von Ländern verlängert, die vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen.

Man wundert sich daher nicht, dass die WTO, die internationalen Finanzinstitutionen, die EU-Kommission und die Regierungen der nördlichen Länder verweigern, was hunderte von NGOs und Gewerkschaften fordern und mit dem Wirtschafts- und Sozialrat jetzt auch eine offizielle Institution der französischen Republik: eine detaillierte Bilanz der seit acht Jahren unter der Ägide der WTO betriebenen Liberalisierungpolitik. Statt weiterer Liberalisierung steht jetzt etwas anderes an: die Operation „Wahrheit über die Liberalisierung“.

deutsch von Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) organisierte seit 1947 acht Verhandlungsrunden, deren letzte – die Uruguay-Runde 1986–1993 – in die Gründung der Welthandelsorganisation mündete. 2 Dazu Olivier Catteano, „Comprendre le cycle de négociations multilatérales de Doha, son contexte, ses enjeux, ses perspectives“, Les Études du CERI 92, Paris, Dezember 2002. 3 Siehe Bernard Cassen und François Clairmont, „Nach der WTO-Konferenz“, Le Monde diplomatique, Dezember 2001. 4 Ha-Joon Chang, „Was der Freihandel mit einer umgestoßenen Leiter zu tun hat“, Le Monde diplomatique, Juni 2003. 5 Jean-Claude Pasty, „De Doha à Cancun: la libéralisation des échanges au service du progrès humain?“, Conseil Économique et Social, Paris, 28. Mai 2003. 6 „Sharing the benefits of global trade“, Financial Times, London, 19. Mai 2003. 7 In Singapur wurde zwei Jahre nach der Gründungskonferenz in Marrakesch die zweite WTO-Konferenz abgehalten. 8 Dazu Germán Velásquez, „Forschung, Medikament, Patient“, Le Monde diplomatique, Juli 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2003, von BERNARD CASSEN