12.09.2003

Falsche Vorstellung

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Falsche Vorstellung

Von ALAIN GRESH

DIE Welt ist – das dürfen wir mit Bestimmtheit behaupten – besser geworden, seit die USA und ihre Verbündeten in den Irak einmarschiert sind.“ Diese Aussage stammt, wie sollte es anders sein, von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der auch auf die Außenpolitik seines Landes maßgeblichen Einfluss nimmt. Rumsfeld äußerte sich als geladener Zeuge vor einem Untersuchungssausschuss des US-Senats zum Irakkrieg, doch er nutzte die Gelegenheit, den Senatoren abermals die Weltsicht der Neokonservativen in der Bush-Regierung einzuhämmern: Im Krieg gegen den Terrorismus eile man von Sieg zu Sieg, das Taliban-Regime habe aufgehört zu existieren, der Wiederaufbau Afghanistans komme gut voran, die Herrschaft Saddam Husseins sei nur noch ein ferner Albtraum, der Irak befinde sich, trotz mancher Schwierigkeiten, auf dem Weg in die Demokratie, und auch die Offensive gegen al-Qaida zeitige Erfolge.

Offenbar verstehen Muslime und Araber eben nur die Sprache der Gewalt. Wer daran noch zweifelt, muss sich von Tom DeLay, dem Fraktionsvorsitzenden der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus (nebenbei ein protestantischer Fundamentalist und führender Vertreter der „christlichen Zionisten“) in klaren Worten belehren lassen: „Vor dem 11. September galten die USA in der arabischen Welt als Papiertiger. Wir hatten damals einen Präsidenten, der gegen den Terrorismus lediglich ein paar Bomben in der Wüste abwarf. Darüber konnten die sich nur mokieren. Aber jetzt haben sie begriffen, dass wir es ernst meinen und unsere Macht einsetzen. Vor der Macht haben sie Respekt“ (siehe International Herald Tribune, 26./27. Juli 2003).

Und allen Skeptikern, die nach einer militärischen Intervention der USA im Irak eine neue Welle des Terrorismus kommen sahen, gab der rechte Publizist Daniel Pipes – treuer Anhänger der Politik von Ariel Scharon und selbst ernannter Experte für Geist und Seele der Muslime – schon am 8. April 2003 die passende Antwort: „Es ist im Gegenteil sehr viel wahrscheinlicher, dass der Krieg gegen den Irak auch den Terrorismus eindämmen wird. […] Nach einem Sieg der Alliierten im Irak dürfte sich die Empörung der Muslime allmählich legen.“ Der Bush-Freund Pipes, dessen Nominierung durch den Präsidenten für den Aufsichtsrat der Kongressstiftung „Institute of Peace“ vor einiger Zeit für Schlagzeilen sorgte, warnte noch 1990 vor der „wachsenden Zuwanderung von Menschen dunkler Hautfarbe, die andere Ernährungsgewohnheiten und Hygienevorstellungen haben als wir“ (zitiert nach The Washington Post, 25. Juli 2003). Als weitsichtiger Experte tat er sich bereits 1987 hervor: Er empfahl US-Militärhilfe für Saddam Hussein im Kampf gegen den Iran.

OFFENBAR haben diese rechten amerikanischen Ideologen den Bezug zur Realität verloren. Um ihre Vorstellungen zu untermauern, ist ihnen jede Lüge recht. Zwei Jahre nach dem 11. September stellt sich allerdings jedem nüchternen Beobachter die Frage, warum sich die unbestreitbaren militärischen Erfolge der USA in Afghanistan und im Irak auf politischer Ebene nicht auszahlen. Die Regierung Bush hat in allen Schlachten gesiegt, aber ihren Krieg gegen den Terrorismus hat sie nicht gewonnen.

Al-Qaida musste einige Schläge einstecken, ihre terroristischen Aktivitäten hat sie jedoch keineswegs eingestellt. In den letzten Monaten hat die Organisation (oder Gruppierungen, die in ihrem Namen aufgetreten sind) mehrfach wieder zugeschlagen: die Attentate vom 12. Mai in Riad (35 Tote), vom 16. Mai in Casablanca (über 40 Tote) und vom 5. August in Jakarta (16 Tote). Im August gab es zwei spektakuläre Anschläge in Bagdad – auf die jordanische Botschaft und das UN-Hauptquartier –, und wenn die Nachrichten aus Washington zutreffen, zieht es immer mehr islamistische Kämpfer in den Irak. Daniel Pipes hat die Lage offensichtlich nicht begriffen: Die militärischen Angriffe der USA in Afghanistan und im Irak und ihre Unfähigkeit, das Palästinaproblem zu lösen, scheinen der al-Qaida immer neue Leute zuzuführen.

In einer Kolumne mit dem Titel „Amerikas Irrtum“ (Le Figaro, 7. August 2003) hat Olivier Roy die „Ideologisierung“ des Kampfs gegen den Terrorismus kritisiert. Die Regierung Bush laufe Gefahr, „die falschen Ziele anzugreifen und mit großem finanziellem Aufwand Kampagnen durchzuführen, die mit dem Terrorismus nichts zu tun haben.“ Roy wendet sich vor allem gegen „eine fragwürdige Strategie, die bereits vor dem 11. September konzipiert war: Die so genannten Schurkenstaaten (allen voran der Irak) standen auf der Abschussliste. […] Und deshalb musste die Bekämpfung des Terrorismus als Krieg definiert werden. Bislang sind Verhaftungen von führenden Al-Qaida-Mitgliedern aber nur durch klassische Polizeimethoden erfolgt – durch Beschattung und Einschleusen von Agenten. Das Resultat der militärischen Operationen waren entweder tote Kämpfer oder Fehlschläge: Bin Laden und Mullah Omar scheinen noch immer recht heil und munter zu sein.“

Zwei Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes herrscht in Afghanistan – dem ersten Ziel der Großoffensive gegen den Terrorismus – immer noch Chaos. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, wenn man die Gesamtheit der Meldungen betrachtet, die von den Nachrichtenagenturen verbreitet, aber von den internationalen Medien nur selektiv wiedergegeben werden. Allein in der Woche vom 13. bis 20. August meldeten die Agenturen mehr als hundert Tote. In der südafghanischen Provinz Helmand explodierte eine Bombe in einem Bus; in der Nachbarprovinz Orusgan lieferten sich zwei rivalisierende Stammesführer, die beide loyal zur Zentralregierung hielten, ein blutiges Gefecht; in den Provinzen Khost und Paktika kam es zu Gefechten zwischen Militär und hunderten von Taliban-Kämpfern.

Sind das nur die letzten Zuckungen eines besiegten Gegners? Die International Crisis Group(1), eine supranationale Organisation zur Überwachung von Krisengebieten, mit Sitz in Brüssel, kam in einem Afghanistan-Report vom 5. August („The Problem of Pashtun Alienation“) zu folgendem Schluss: „Welche Gefahren sich aus der zunehmend feindlichen Haltung der Paschtunen [der größten Ethnie des Landes, A. G.] für Afghanistan ergeben, dürfte auf der Hand liegen. Der Siegeszug der Taliban erklärte sich nicht nur durch die militärische Unterstützung seitens Pakistans, sondern durch den Hass, den die Warlords durch ihre Übergriffe gegen die Bevölkerung und durch ihr System der Zwangsabgaben erzeugt hatten. Dass die Taliban am Beginn ihres Vormarschs den Süden befrieden und ein gewisses Maß an Sicherheit wiederherstellen konnten, war für viele Menschen eine große Erleichterung. Heute herrschen im Süden und Osten schon fast wieder die Bedingungen, die den Erfolg der Taliban ermöglicht haben: Unsicherheit, konkurrierende Einflussnahme der Nachbarstaaten und Behinderung der Wirtschaftstätigkeit. Eine Reihe von Taliban-Führern, die sich auf alte Kontakte zu den pakistanischen Grenzprovinzen stützen können, haben erneut an Einfluss gewonnen und versuchen, den Unmut in der Bevölkerung für ihre Zwecke zu nutzen.“

Ähnliche Schlüsse zieht ein im Juli 2003 veröffentlichter Bericht („Killing you is a very easy thing for us“) der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.(2) Er betont, dass „in fast allen südöstlichen Verwaltungsbezirken die Regierung Übergriffe bewusst ignoriert hat oder gar an ihnen beteiligt war“. Die gegenwärtige Lage – Verletzung der Menschenrechte und allgemeine Unsicherheit – sei „weitgehend die Folge von Entscheidungen, Taten und Unterlassungen der US-Regierung, der Regierungen anderer Staaten der Koalition sowie von Teilen der Übergangsregierung“. An anderer Stelle kritisiert der Report die Zusammenarbeit der Alliierten mit Warlords, unter deren Verantwortung Gräueltaten geschehen sind.

Im Haushaltsjahr 2003 (das im September endet) gaben die USA fast 10 Milliarden Dollar für ihre 9 000 Soldaten in Afghanistan aus, während das Land nur 600 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe von den USA erhielt. Aufgeschreckt durch die geringen Fortschritte, will die Bush-Administration im nächsten Jahr bis zu einer Milliarde für die Entwicklungshilfe aufwenden und 200 bis 250 Berater ins Land schicken – was weithin als eine Art Kolonialpolitik verstanden werden dürfte.

Es gibt eine Gemeinsamkeit, die Kabul mit Bagdad verbindet – die ständigen Stromausfälle. Fünf Monate nach dem Sturz des Hussein-Regimes funktioniert die Grundversorgung noch immer nicht zufrieden stellend. So dürfen die Einwohner der Hauptstadt weiterhin die US- Soldaten und ihre futuristische Ausrüstung bestaunen, ihr Nachschubsystem bewundern, das ihnen stets genug Mineralwasser und Essensrationen sichert – und sich fragen, warum diese High-Tech-Truppe es nicht schafft, die Trinkwasserversorgung, die Telefonverbindungen und die Stromleitungen in Ordnung zu bringen. Das Land bleibt isoliert: Noch immer ist der internationale Flughafen von Bagdad geschlossen, und auf der Straße nach Amman – während des Embargos die Lebensader des Irak – treiben heute Straßenräuber ihr Unwesen.

Nach dem Golfkrieg von 1991 gelang es der irakischen Regierung innerhalb weniger Monate und trotz Sanktionen, die Grundversorgung der Bevölkerung wieder sicherzustellen – obwohl der angerichtete Schaden viel größer war als 2003. Im Frühjahr 2003 wurden die US-Strategen vom totalen Zusammenbruch der Zentralgewalt und der öffentlichen Ordnung völlig überrascht. Allerdings hatten sich die USA auch jahrelang taub gestellt, denn es hatte ja warnende Stimmen gegeben, vor allem von Nichtregierungsorganisationen, die nicht nur auf die Zunahme von Kindersterblichkeit und Unterernährung und den Verfall des Gesundheitswesens hinwiesen, sondern auch auf die in Auflösung begriffenen Sozialstrukturen: Die Einschulungsquote war drastisch zurückgegangen, Teile der Mittelschicht waren ins Ausland geflohen, die Kriminalität war dramatisch gestiegen. Dass es nach der „Befreiung“ von 2003 zu Plünderungen kam, war insofern nicht verwunderlich. Einen erneuten Krieg konnte die nach 1991 notdürftig geflickte Infrastruktur nicht verkraften.

Der Wiederaufbau kommt wohl auch deshalb nicht voran, weil die Verantwortlichen in Washington ihre eigene Agenda haben. Zum einen soll den Regierungen des „alten Europa“ ein Denkzettel verpasst werden; schon deshalb lässt man die Reparatur der Kraftwerke nicht von den Firmen ausführen, die das moderne Elektrizitätsnetz des Irak installiert haben – Siemens (Deutschland) und ABB (Schweden) – und das Telefonnetz nicht vom Hersteller Alcatel (Frankreich) überholen und erneuern. Und natürlich geht es auch darum, die größeren Aufträge den US-Firmen zuzuschanzen, auf deren Wahlkampfspenden die Republikanische Partei angewiesen ist.

Die irakische Bevölkerung leidet. Sie schätzt sich glücklich, den finsteren Diktator losgeworden zu sein, und doch traut sie den Amerikanern alles zu, auch die Kolonisierung des Landes. Diese Ambivalenz hat Max Rodenbeck in einer Reportage für die New York Review of Books sehr anschaulich geschildert.(3) Er fragte einen Provinzgouverneur – einen altgedienten Gegner Saddam Husseins –, ob er den Aufenthaltsort von Ali Hassan al-Madschid („Chemie-Ali“) kenne, einem (inzwischen gefassten) hochrangigen Mitglied des alten Regimes. Der Gouverneur entgegnete, er wisse darüber nichts, fügte aber hinzu: „Mir ist bekannt, wo andere Führer des Regimes sich verstecken. Aber an die Amerikaner gebe ich keine Informationen weiter. Ich bin ein Sohn des Irak, und meine Kinder sollen in diesem Land aufwachsen. Ich könnte später einmal wie ein Verräter dastehen.“ Und dann meinte er nach kurzem Nachdenken: „Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Amerikaner nach ihren eigenen Regeln spielen. Was wird aus den festgenommenen Kartenspielfiguren?(4) Bringen sie die nach Guantánamo? Oder werden sie irgendwann freigelassen? Es wäre etwas anderes, wenn wir wüssten, dass diese verdammten Verbrecher hier im Irak vor Gericht kommen.“

Auf der Rückfahrt nach diesem Interview erfuhr Rodenbeck von seinem Taxifahrer, man habe den früheren Vizepräsidenten Issat Ibrahim al-Duri (den „Kreuz-König“ im amerikanischen Kartensatz) das Haus des Gouverneurs betreten sehen.

Bislang verwaltet das Pentagon den Irak tatsächlich wie eine Kolonie. Den Widerstand rechnet man allein den Anhängern des alten Regimes zu – auf das Misstrauen in der Bevölkerung kann man sich offenbar keinen Reim machen: Was haben die Leute gegen die USA? Verdanken sie ihnen nicht die Befreiung von der Diktatur? Die Iraker wissen es besser, sie kennen die Verantwortung der US-Regierungen für ihren langen Leidensweg. Aus ihrer Sicht steht noch immer eine Entschuldigung für die Unterstützung aus, die Saddam Hussein von den USA in den 1980er-Jahren erfahren hat – eine Entschuldigung, die übrigens auch von französischer Seite noch nicht gekommen ist. Und haben die USA je bedauert, dass die Golfkriegsallianz im Frühjahr 1991 tatenlos zusah, als das Regime die Aufstände vor allem im Süden des Irak gnadenlos niederschlug? Waren die USA nicht die treibende Kraft hinter dem Embargo, das so viele Opfer gekostet hat? Und was ist mit den tausenden von Zivilisten, die im jüngsten Krieg durch Napalm und Splitterbomben ums Leben kamen?(5)

Der Iraq Body Count (IBC), ein Internetprojekt internationaler Friedensaktivisten,(6) kam in seiner Auswertung öffentlich zugänglicher Meldungen Ende August auf mindestens 6 116, höchstens 7 836 getötete Zivilisten seit Beginn der Kampfhandlungen. Während des Krieges (den Präsident Bush am 1. Mai für beendet erklärte) wurden nach IBC-Angaben außerdem etwa 20 000 Menschen verletzt – Entschädigungsforderungen dieser Opfer haben die US-Behörden bislang zurückgewiesen.(7) Selbst wenn pro Opfer 10 000 Dollar veranschlagt würden, beliefe sich die Gesamtschadenssumme auf nur 200 Millionen Dollar – Peanuts im Vergleich mit den Besatzungskosten. Am 17. Juni 2003 hat der Entschädigungsausschuss der Vereinten Nationen (UNCC) beschlossen, aus beschlagnahmten irakischen Vermögen 190 Millionen Dollar zur Kompensation der im Golfkrieg 1991 entstandenen Schäden auszuzahlen, mehr als die Hälfte davon bekam das besonders bedürftige Emirat Kuwait.(8)

Seit dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen fanden die Verluste der US- Truppen im besetzten Irak in den Medien große Beachtung, kaum erwähnt wurden dagegen die vielen hundert Iraker, die bei alliierten Polizeiaktionen oder durch die Explosion von Blindgängern ums Leben kamen. Über 5 000 Gefangene, deren Mehrheit mit den Verbrechen des Hussein-Regimes nichts zu schaffen hatte, warten noch immer auf ein juristisches Verfahren. Amnesty international hat in einem Report vom 23. Juli 2003 auf „Folterung und Misshandlung“ dieser Gefangenen hingewiesen und betont, dass „durch Einsatz von Schusswaffen seitens der Koalitionsstreitkräfte“ eine Reihe von Gefangenen ums Leben gekommen sei.

Zu den ersten Maßnahmen der US-Streitkräfte im besetzten Irak gehörte die Organisation von „Wahlen“ in Mossul: Die Vertreter aller religiösen und ethnischen Gruppen (Kurden, Araber, Assyrer, Turkmenen usw.) der rund eine Million Einwohner zählenden Stadt durften im Mai einen Repräsentanten in den neuen Stadtrat entsenden. Dort wurde dann ein Bürgermeister gewählt – der allerdings sunnitischer Araber sein musste.

Einige Wochen darauf trat dann der irakische Übergangsrat zusammen, ein Gremium ohne echte Exekutivgewalt, das der Besatzungsmacht einen „irakischen Anstrich“ verschaffen sollte. Ein arabischer Kommentator zeigte sich entsetzt über die Gründungsveranstaltung: „Es gab getrennte Diskussionszirkel. Schiiten, Sunniten und Kurden blieben jeweils unter sich. Wer nicht zu diesen Gruppen zählte oder meinte, nicht aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit in den Rat berufen zu sein, musste sich gedulden. Ein Repräsentant verließ schon dieses erste Treffen.“(9) Inzwischen gelten strenge Regeln der Zuordnung zur einen oder anderen „Identität“ – ganz wie einst im Libanon oder in Bosnien. Die Besatzungsmacht beschwört die Rechte der Minderheiten und verspielt damit die Möglichkeit, ein geeintes und demokratisches Staatswesen aufzubauen.

Immer mehr Iraker gelangen zu der Ansicht, es gehe den USA am Ende doch nur um die strategische Vorherrschaft in der Region und den Zugriff auf die Ölvorkommen – auch wenn die irakischen Fördermengen zurzeit nur einen Bruchteil der Besatzungskosten decken können. Für das Fiskaljahr 2003 hat das US-Parlament weitere 62,37 Milliarden Dollar zur Finanzierung der Präsenz im Irak bewilligt: Das Besatzungsregime kostet die USA 3,9 Milliarden Dollar im Monat und trägt wesentlich zum beunruhigenden Anstieg des Haushaltsdefizits bei. Im Gegensatz zu 1991, als die Kriegskosten von 60 Milliarden Dollar noch von der Golfkriegsallianz gemeinsam aufgebracht wurden, müssen die Vereinigten Staaten die Lasten heute weitgehend noch allein tragen.

Überdies erweist sich schon die umfassende Stationierung von Truppen im Ausland als Problem. „Es ist wirklich kaum zu begreifen, dass die Stabilisierung des Irak nach dem Sturz Saddams mehr Truppen erfordert als der Krieg“, meinte kürzlich der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz.(10) Vermutlich fehlte es ihm und seinen neokonservativen Gesinnungsgenossen schon vor dem Waffengang an Vorstellungsvermögen. Derzeit stehen 148 000 US-Soldaten im Irak, und sie reichen offensichtlich nicht aus, um Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Von den insgesamt 33 Kampfeinheiten der US-Armee wurden bereits 16 in den Irak verlegt, bis auf 3 sind auch alle übrigen als strategische Reserve oder in anderen Missionen weltweit im Einsatz – von Afghanistan bis Südkorea. Unter solchen Bedingungen wird es immer schwieriger, die Soldaten abzulösen. Ihre Einsatzdauer beträgt jetzt mindestens ein Jahr. In den USA hat sich schon eine Bewegung der Familienangehörigen gegründet, die – nicht zuletzt wegen der zunehmenden Verluste an den vielen Fronten – mit der Parole „Bring them home now“ operiert.

In ihrer Not suchen die USA nach Hilfstruppen. Nach Angaben aus Washington sollen bereits dutzende von Nationen Soldaten entsandt oder ihre Unterstützung zugesagt haben – doch leider waren nur vier Staaten darunter, die mehr als tausend Mann abstellen konnten. Und den größten Teil der Kosten für diese Helfer werden die USA übernehmen. Formell hat Polen seit August das militärische Oberkommando über eine Zone südlich von Bagdad, zu der Kerbala (aber nicht Nadschaf, die andere heilige Stätte der Schiiten) gehört. Dort sollen die polnischen Einheiten, unterstützt von kleinen Truppenkontingenten aus Spanien, Honduras und El Salvador, die öffentliche Ordnung wahren, Stammeskonflikte schlichten und die Beziehungen zu den schiitischen Würdenträgern regeln. Um diese schwierigen Aufgaben bewältigen zu können, tragen alle polnischen Soldaten eine Wunderwaffe im Tornister: ein Traktat mit Reden von Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, auf Polnisch, Englisch und Arabisch. Das wird ihnen zweifellos helfen, die Herzen der Iraker zu gewinnen.(11)

Von Afghanistan bis Irak droht die von Donald Rumsfeld angekündigte „beste aller Welten“ im Chaos zu versinken. Die Ordnungsvorstellungen der USA lassen sich in diesen Ländern offenbar nicht durchsetzen – und auch nicht ihre Pläne für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina.

Wie soll es weitergehen? Als Bagdad gefallen war, konnte man in Frankreich die Meinung hören, es sei nun Zeit, sich den „Siegern“ anzuschließen.(12) In diesem Sinne stimmte Paris am 22. Mai 2003 im Sicherheitsrat für die Resolution 1483, die die US-amerikanische Besatzung des Irak absegnete. Mit zweifelhafter Wirkung, wie man sieht.

Soll die internationale Gemeinschaft nun den Vereinigten Staaten aus der Patsche helfen, ihnen den Rückzug aus der durch ihre Schuld verfahrenen Situation im Irak und im Nahen Osten erleichtern?(13) Die Frage ist falsch gestellt. Denn helfen muss man vor allem den Irakern (und den anderen Ländern in der Region). Sie sind die Leidtragenden in einer schon lange chaotischen Situation, die durch den Krieg und die extremistische Politik der Regierung Bush weiter verschärft wurde.

Der Weg zum Frieden kann nur über die Vereinten Nationen führen, und darauf müssen sich jetzt alle Initiativen konzentrieren – das sind wir der irakischen Bevölkerung schuldig.

deutsch von Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 www.crisisweb.org. 2 www.hrw.org/reports/2003/afghanistan0703. 3 New York Review of Books vom 14. August 2003. Die Reportage findet sich unter www.nybooks.com/articles/16513. 4 Eine Anspielung auf ein Kartenspiel, das an die US-Truppen im Irak verteilt wurde: 55 Karten zeigen die Porträts der flüchtigen Funktionäre des gestürzten Regimes. Saddam Hussein ist das Pikass. 5 Siehe die Reportage von Christophe Ayad über den Luftangriff auf Hilla am 1. April 2003. Libération, 14. August 2003. 6 www.iraqbodycount.net. 7 Siehe The Washington Post, 31. Mai 2003. 8 Siehe Alain Gresh, „Der Irak wird zahlen“, Le Monde diplomatique, Oktober 2000. 9 Abdulwahab Badrakhan, in: Al Hayat (London), 2. August 2003. 10 Zit. nach Slate, 5. August 2003. 11 Siehe Le Figaro, 14. August 2003. 12 Siehe Alain Gresh, „Verbrechen, Lügen und Befreiung“, Le Monde diplomatique, Mai 2003. 13 Diese Haltung vertritt z. B. Jean Daniel in seinem Leitartikel im Nouvel Observateur vom 3. Juli 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2003, von ALAIN GRESH