10.09.2004

An die Jugend

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An die Jugend

Sergej Netschajew (1847–1882), legte in den „Worten an die Jugend“ seine Auffassung einer revolutionären Propaganda der Tat dar. Netschajew ermordete einen angeblichen Verräter und starb im Gefängnis. Auf diesem Mordfall basiert Dostojewskis Roman „Die Dämonen“.

Von SERGEJ NETSCHAJEW

ZU einer echten Revolution sind Menschen erforderlich, und zwar nicht solche, die, an der Spitze der Volksmassen stehend, über sie gebieten, sondern solche, die, unter der Menge selbst unbemerkt verborgen, ein vermittelndes Glied zwischen den Volksmassen sind und so der Bewegung unmerklich ein und dieselbe Richtung, einen Geist und einen Charakter verleihen. Nur diesen Sinn hat die Leitung einer geheimen vorbereitenden Organisation und nur in Bezug darauf ist sie notwendig.

Die Leiter einer echten Volksrevolution zeigen sich, sobald sie das Leben darauf vorbereitet hat, durch Handlungen, schließen sich eng aneinander an und organisieren sich während des Verlaufs der Sache selbst.

[...] Die von den Revolutionsideen durchdrungenen, unmittelbar vor der Umwälzung lebenden Generationen bergen in ihrer Mitte Menschen, welche die Zerstörungswut nicht in sich unterdrücken können und die noch vor Ausbruch des allgemeinen Kampfes schleunigst den Feind ausfindig machen und, ohne zu denken, ihn vernichten.

Zuerst gleichsam als Ausnahmefälle, die von den Zeitgenossen als Handlungen des Fanatismus oder der Wut bezeichnet werden, müssen sie immer mehr in verschiedenen Formen wiederkehren, um dann gleichsam zu einer epidemischen Leidenschaft der Jugend zu werden und sich schließlich in einen allgemeinen Aufstand zu verwandeln. Dies ist der natürliche Weg.

Die Vernichtung hochstehender Personen, in denen die Regierungsformen oder die Formen der ökonomischen Zersetzung sich verkörpern, muss mit Einzeltaten begonnen werden. Weiterhin wird diese Arbeit immer leichter werden; in demselben Maße, in dem die Panik um sich greifen wird, die dem Untergang geweiht ist. [...] Unser Erstes ist der Kampf, kalter, erbitterter Kampf; unser Ziel ist die vollständige Zerstörung aller beengenden Bande. [...]

Die italienischen Bauern verstehen jetzt, die echte Revolution ins Werk zu setzen: sie verbrennen alles Papier, sobald sie sich einer Stadt bemächtigen. Eine solche Vernichtung muss überall stattfinden. Wir sagen: Eine unvollständige Zerstörung ist unvereinbar mit dem Aufbau und daher muss sie absolut und ausschließlich sein. Die jetzige Generation muss mit der echten Revolution beginnen. Sie muss mit der völligen Veränderung aller sozialen Lebensbedingungen beginnen, das heißt, die jetzige Generation muss alles Bestehende ohne Unterschied blindlings zerstören in dem einzigen Gedanken: möglichst rasch und möglichst viel. Und da die jetzige Generation selbst unter dem Einfluss jener verabscheuungswürdigen Lebensbedingungen stand, welche sie jetzt zu zerstören hat, so darf der Aufbau nicht ihre Sache sein, sondern die Sache jener reinen Kräfte, die in den Tagen der Erneuerung entstehen. Die Abscheulichkeiten der zeitgenössischen Zivilisation, in der wir aufgewachsen, haben uns der Fähigkeit beraubt, das Paradiesgebäude des zukünftigen Lebens aufzurichten, von dem wir nur eine nebelhafte Vorstellung haben können, indem wir uns das dem bestehenden ekelhaften Zeug Entgegengesetzte denken! [...]

Wir wenden uns jetzt zum ersten und letzten Mal an alle oppositionellen Elemente im russischen Leben und fordern sie zur sofortigen praktischen Tätigkeit auf. Sie mögen sich im Kampfe all den Ihrigen zu erkennen geben und im Namen der Sache und ihrer Tätigkeit sich ihnen anschließen. Wir werden keine Wiederholungen und Aufrufe mehr erschallen lassen. Wer Ohren und Augen hat, wird die Kämpfenden sehen und hören und wenn er sich ihnen nicht anschließt, so werden nicht wir es sein, die an seinem Untergang schuld sein werden, ebenso wenig wie daran, dass alles, was sich aus Feigheit und Niederträchtigkeit hinter den Kulissen versteckt, mit diesen Kulissen erbarmungs- und schonungslos zerschmettert werden wird. Wenn wir auch keine andere Tätigkeit als die Sache der Zerstörung anerkennen, so sind wir dennoch der Meinung, dass die Formen, in denen diese Tätigkeit sich äußern mag, außerordentlich mannigfaltig sein können. Gift, Dolch, Schlinge und dergleichen! [...] Die Revolution heiligt alles in diesem Kampfe in gleicher Weise. Das Feld ist also frei! [...] Die Opfer sind von der unverhohlenen Volksempörung gezeichnet! Mögen also alle ehrlichen, frischen Köpfe sich nach jahrhundertelanger Schändung zur Erneuerung des Lebens aufraffen. Mögen die letzten Tage der sozialen Blutegel trübe sein. Jammergeschrei der Angst und der Reue wird in der Gesellschaft ertönen.Die lumpigen Literaten werden lyrische Töne anschlagen. Sollen wir darauf achten? Mitnichten. Wir müssen gleichgültig gegen all dieses Geheul bleiben und uns mit den dem Untergange Geweihten in keinerlei Kompromisse einlassen. Man wird es Terrorismus nennen. [...] Nun wohl, uns ist es gleichgültig. Wir scheren uns nicht um ihre Meinung. [...]

Die jetzige Generation muss selbst eine schonungslose, rohe Kraft schaffen und unaufhaltsam den Weg der Zerstörung gehen. Der gesunde, unverdorbene Verstand der Jugend muss begreifen, dass es bedeutend menschlicher ist, dutzende, ja hunderte von Verhassten zu erdolchen und zu ersticken, als im Verein mit ihnen sich an systematischen, gesetzlichen Mordtaten [...] zu beteiligen, woran unsere Tschinowniks, unsere Gelehrten, unsere Popen, unsere Kaufleute, mit einem Wort, alle Leute von Stand, welche die, die zu keinem Stande gehören, unterdrücken, mehr oder minder unmittelbar teilhaben. [...] Mögen also alle gesunden, jungen Köpfe sofort an die heilige Sache der Ausrottung des Bösen, der Läuterung und Aufklärung der russischen Erde durch Feuer und Schwert gehen und sich brüderlich mit denen vereinigen, die dasselbe in ganz Europa tun werden.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von SERGEJ NETSCHAJEW