10.09.2004

Ghazel

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Ghazel

Seit 7 Jahren arbeitet die Künstlerin Ghazel an ihrer Video-Installation „Ich“ („Me“): In einem dunklen Raum sind auf drei nebeneinander stehenden Videoschirmen Filme aus dem weiblichen Alltag zu sehen. Keiner ist länger als zwei Minuten. Eine Frau („Ich“) bügelt, geht einkaufen, mäht den Rasen, tanzt zu Popmusik, badet im Meer. All das, was junge Frauen auf aller Welt tun, tut sie im Tschador. Dadurch wenden sich die höchst profanen Szenen ins Absurde. Wer geht schon mit Tschador in die Badewanne? Indem das „Ich“ sich bewegt, als sei er gar nicht da, unterlaufen Ghazels Bilder die übliche Frage des Dafür-oder-Dagegen-Seins.

Die Filmsequenzen erinnern ans frühe Kintopp – ein Held, richtiger: eine Heldin agiert in einer völlig unspektakulären Wirklichkeit wie ein falscher Fuffziger. Untermauert wird die Anspielung durch die Gedanken der dargestellten Person, die – wie im Stummfilm – den Filmsequenzen Weiß auf Schwarz vorangestellt sind. „Ich habe immer Schwierigkeiten, einen Ort zu finden, wo ich mich konzentrieren kann“, steht da etwa, und dann sieht man, wie die Frau mit Buch und Tschador in die Badewanne steigt. Durch die äußerst verdichteten Statements, die Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Verzweiflungen eines jungen Mädchens ausdrücken, lüftet sich für den Betrachter der uniforme Schleier und das Individuum, das einem entgegentritt, unterläuft die politische Konfrontation mit Witz.

Ghazel, 1966 im Iran geboren, war 15 Jahre alt, als in ihrem Heimatland nach der islamischen Revolution das Tragen des Schleiers Zwang wurde. Viele Mädchen ihrer Generation erfanden sich, um sich mit der neuen Lage zu arrangieren, ein Leben in Parallelwelten, deren Grenzen eine permanente Herausforderung waren. Wie viele junge Frauen ging Ghazel zum Studium ins Ausland. Sie absolvierte die Hochschule der Bildenden Künste in Nimes. Heute lebt und arbeitet sie in Paris und Teheran. Bevor sie mit ihren filmischen Selbstporträts begann, hatte sie sich in Happenings und Installationen mit ihrem nomadisierenden Leben auseinander gesetzt. Die in nicht immer fehlerfreiem Englisch verfassten Texte illustrieren zugleich Fremdheit und Zugehörigkeit zum Westen und zur Westkunst: „Mein Werk erzählt von der Aussenseiterin, die ich im Westen bin, und von der Außenseiterin, die ich im Iran bin.“ So persönlich ihre Arbeiten sind: Die Frage der Identität, die sich bei vielen der nomadisierenden Künstler in einer Faszination am Verlorenen artikuliert, stellt sie nicht, sondern richtet ihre Poesie und ihren Humor auf das tägliche Weiterleben.

„Ich“ entführt den Betrachter sowohl in den Iran als auch in die eigenen vier Wände – bis er irgendwann dort angekommen ist, wo auch Ghazel ist: auf der Schwelle zwischen entfremdetem Eigenem und angeeignetem Fremden. M.L.K.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2004, von M.L.K.