08.10.2004

Der Sommerpalast

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Der Sommerpalast

WERTER Captain Butler,

Sie bitten mich, mein Herr, um meine Meinung über die China-Expedition. Sie finden diese Expedition ehrenwert und schön, und Sie sind so freundlich, Wert auf meinen Eindruck zu legen; Ihrer Ansicht nach ist die unter dem Doppelbanner der Königin Victoria und des Kaisers Napoleon durchgeführte China-Expedition eine Ruhmestat, an der Frankreich und England gleichermaßen teilhaben, und Sie möchten wissen, welches Maß an Beifall ich diesem englischen und französischen Sieg zu zollen bereit bin.

Da Sie meine Meinung kennen lernen möchten, folgt sie hier:

In einem Winkel der Welt gab es einst ein Weltwunder; dieses Wunder nannte sich Sommerpalast. Die Kunst kennt zwei Grundsätze: die Idee, welche die europäische Kunst hervorbringt, und die Chimäre, welche die Kunst des Ostens hervorbringt. Der Sommerpalast gehörte der chimärischen Kunst an, der Parthenon der ideellen Kunst. Alles, was die Einbildungskraft eines fast außermenschlichen Volkes zur Welt bringen kann, war dort vorhanden. Dieser war nicht, wie der Parthenon, ein seltenes und einmaliges Werk; er war etwas wie das gewaltige Modell einer Chimäre, wenn die Chimäre überhaupt ein Modell haben kann.

Stellen Sie sich irgendein unbeschreibliches Bauwerk vor, ein Mondgebäude vielleicht, und schon haben Sie den Sommerpalast. Stellen Sie sich vor, Sie bauen einen Traum aus Marmor, Jade, Bronze, Porzellan, versehen ihn mit einem Gebälk aus Zedernholz, bedecken ihn mit Edelsteinen, drapieren ihn mit Seide, schaffen hier das Heiligtum, dort den Harem und die Zitadelle, bringen hier die Götter, dort die Ungeheuer unter, lackieren, emaillieren, vergolden, putzen ihn, lassen von Architekten, die eigentlich Dichter sind, die 1 001 Träume der 1 001 Nächte errichten und fügen Gärten, Becken, Wasser- und Schaumfontänen, Schwäne, Ibisse und Pfauen hinzu, kurzum, Sie imaginieren eine Art blendende Höhle der menschlichen Phantasie, die wie Tempel und Palast in einem erscheint, so etwa war dieses Monument. Zu seiner Erschaffung hat es der langsamen Arbeit zweier Generationen bedurft. Dieses Bauwerk, so gewaltig wie eine Stadt, war durch Jahrhunderte errichtet worden – für wen? Für die Völker. Denn, was die Zeit geschaffen hat, gehört den Menschen. Die Künstler, die Dichter, die Philosophen kannten den Sommerpalast; Voltaire spricht davon. Es hieß: der Parthenon in Griechenland, die Pyramiden in Ägypten, das Kolosseum in Rom, Notre-Dame in Paris, der Sommerpalast im Osten. Wer ihn nicht sah, träumte ihn. Er war so etwas wie ein Furcht einflößendes, unbekanntes Meisterwerk, das man in der Ferne wer weiß welcher Dämmerung undeutlich erblickt, gleichsam eine Silhouette der asiatischen Zivilisation am Horizont der europäischen.

Dieses Wunder ist verschwunden.

Eines Tages sind zwei Banditen in den Sommerpalast eingedrungen. Der eine plünderte, der andere legte Feuer. Manchmal ist der Sieg ein Dieb, wie es scheint. Die Zerstörung des Sommerpalastes im großen Stile ging zu gleichen Teilen auf das Konto beider Sieger. Verbunden hiermit ist Elgins Name, der die fatale Eigenschaft besitzt, dass man an den Parthenon denkt. Was man dem Parthenon angetan hatte, das hat man auch dem Sommerpalast angetan, nur vollständiger und besser, sodass nichts geblieben ist. Alle Schätze aus allen unseren Kathedralen zusammengenommen kämen nicht jenem prächtigen und ungeheuren Museum des Ostens gleich. Es gab dort nicht nur Meisterwerke der Kunst, sondern auch eine wahre Anhäufung von Goldschmiedearbeiten. Große Tat, fette Beute. Der eine der beiden Sieger stopfte sich die Taschen voll; als der andere dies sah, füllte er sich die Truhen. Und lachend, Arm in Arm, kehrten sie nach Europa zurück. Dies ist die Geschichte der zwei Banditen.

Wir Europäer sind die Zivilisierten, und für uns sind die Chinesen die Barbaren. Hier sieht man nun, was die Zivilisation der Barbarei angetan hat.

Vor der Geschichte wird der eine der beiden Banditen Frankreich heißen, der andere England. Ich aber erhebe Einspruch, und ich danke Ihnen, dass Sie mir die Gelegenheit dazu geben; denn was können die Geführten schon für die Verbrechen der Führenden; Regierungen mögen Banditen sein, die Völker nie.

Das französische Kaiserreich hat die Hälfte dieses Sieges eingesackt und stellt heute mit einer gewissen Besitzernaivität den prächtigen Plunder des Sommerpalastes zur Schau.

Ich hoffe, dass der Tag kommen wird, wo das befreite und gereinigte Frankreich dem beraubten China die Beute zurückgeben wird.

Einstweilen, das stelle ich fest, gibt es einen Diebstahl und zwei Diebe.

Dies ist, mein Herr, das Maß des Beifalls, den ich der China-Expedition zolle.

Hauteville House, 25. November 1861

VICTOR HUGO

deutsch Rainer G. Schmidt

Fußnote: Veröffentlicht in: Nora Wang, Ye Xin, Wang Lou, „Victor Hugo et le sac du Palais d‘été“, Les Indes savantes/You Feng 2003.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von VICTOR HUGO