08.10.2004

Die Bomben der Nachbarn

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Die Bomben der Nachbarn

DIE chinesischen Zensurbehörden haben das Magazin „Strategie und Management“ verboten, ein Sprachrohr der reformorientierten Intellektuellen des Landes, weil es in einem Artikel das Regime in Nordkorea deutlich kritisiert hatte. Was Nordkorea angeht, reagiert China derzeit äußerst nervös. Denn die Nordkoreagespräche unter chinesischer Leitung kommen nicht voran. Die Führung in Pjöngjang möchte am liebsten das Ergebnis der US-Wahlen abwarten und verweigert sich beharrlich den internationalen Kontrollen. In dieses Konzept passt, dass sich nun auch Südkorea wegen eigener Atomexperimente zu verantworten hat.

Von DINGLI SHEN *

Seit Peking und Washington im Jahr 1979 ihre Beziehungen „normalisiert“ haben, hat das Verhältnis zu den USA für die Volksrepublik China enorme Bedeutung, ja die höchste außenpolitische Priorität. Bei Gelegenheit wurde dieses Verhältnis sogar – unisono mit Washington – als „konstruktive strategische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ bezeichnet. Die Hoffnungen, die solche vollmundigen Botschaften ausdrückten, wurden jedoch immer wieder enttäuscht.

Der Einsatz chinesischer Raketen – wenn auch ohne Gefechtsköpfe – bei den Militärmanövern von 1995 und 1996 in der Taiwanstraße, der die Entsendung von US-Flugzeugträgern in die Region auslöste, die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 im Zuge der Nato-Luftangriffe auf Serbien sowie der Zusammenstoß eines US-Spionageflugzeugs mit einem chinesischen Kampfjet 2001 über dem Südchinesischen Meer sind nur einige der Turbulenzen, die es in den Beziehungen zwischen beiden Ländern immer wieder gab. Und auch heute herrscht noch auf beiden Seiten ein erhebliches Misstrauen, zumal man in Peking wie in Washington dem bilateralen Verhältnis nicht wirklich eine strategischen Qualität beimisst.

Dennoch zeigt sich seit 2002 in der chinesischen Diplomatie eine „neue Reife“, die sich von traditionelleren Mustern chinesischer Außenpolitik unterscheidet. Dieser neue Hyperrealismus orientiert sich stärker an den materiellen Interessen des Landes. Das neue Paradigma lässt sich an Chinas Irak- und Nordkoreapolitik belegen, an der sichtbar wird, wie es seine Interessen wahrzunehmen und zu schützen gedenkt. Damit lässt sich auch besser studieren, wie der außenpolitische Entscheidungsprozess in Peking funktioniert.

Der Krieg im Irak – für Peking ein Dilemma

ES kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Saddam Husseins Regierung Verbrechen und Fehler begangen hat. Ebenso klar ist aber auch, dass der Irak keine unmittelbare Bedrohung für andere Staaten darstellte, als die USA im März 2003 ihren Präventivkrieg begannen. Weil dieser Krieg unnötig und rechtlich unbegründet war, konnte sich China nicht an die Seite Amerikas stellen. Doch man konnte sich auch nicht gänzlich aus dem Konflikt heraushalten, weil die Vereinigten Staaten auch in der UNO Unterstützung für ihren Kurs einforderten und China zu den fünf ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrats gehört, die ein Vetorecht besitzen.

Es gibt noch weitere Gründe, weshalb China die Vereinigten Staaten nicht unterstützen konnte. China ist in stärkerem Maße auf Öllieferungen aus dem Mittleren Osten angewiesen als die USA. Diese Abhängigkeit wird mit der Verstetigung des Wirtschaftsaufschwungs in China immer größer. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Sicherung der Energieversorgung zu einem zentralen Bestandteil der chinesischen Sicherheitspolitik geworden. Ein Krieg gegen Irak implizierte in den Augen der chinesischen Außenpolitiker die Gefahr, dass die USA ihre Kontrolle über die Öllieferungen aus dem Nahen Osten und anderen Regionen noch verstärken.

Obwohl die Regierung in Peking entschieden gegen den Krieg war, konnte sich China jedoch auch nicht an die Spitze der Kriegsgegner stellen. Das Land ist wirtschaftlich stark von den USA abhängig, mit denen es ein Fünftel seines Außenhandels abwickelt. Man musste also auch die Kosten einer eindeutigen Frontstellung gegen die Irakpolitik Washingtons bedenken. In den chinesischen Zeitungen war zwar nur wenig über die Rechtmäßigkeit des Krieges und damit auch über die Berechtigung der chinesischen Haltung zu lesen, doch zwei Einschätzungen wurden immerhin deutlich. Zum einen war man sich angesichts der Haltung von Frankreich, Deutschland und Russland und deren heftiger Kontroverse mit den USA am 14. Februar 2003 sicher, dass jeder Versuch, ein Mandat für den Krieg zu erhalten, an einem Veto im Sicherheitsrat scheitern musste. Zum anderen gingen die politischen Entscheidungsträger in Peking offenbar davon aus, dass die Bush-Administration den Krieg auch ohne Ermächtigung durch eine UN-Resolution beginnen würde – selbst wenn China gemeinsam mit Frankreich und Russland ein Veto eingelegt hätte.

Dennoch hofften die USA auch nach dem 14. Februar, eine Mehrheit von neun Stimmen für ihren Vorschlag zu erhalten, also wenigstens einen „Achtungserfolg“ zu erzielen. Wäre es zu einer Abstimmung im Sicherheitsrat gekommen, wäre China in eine sehr schwierige Lage geraten. Mit den USA zu stimmen war unvorstellbar, doch gegen sie zu stimmen wäre politisch womöglich äußerst riskant gewesen und hätte die Beziehungen zwischen China und den USA gefährdet, an denen beide Länder sehr interessiert waren. Eine Stimmenthaltung schließlich hätte Chinas Stellung als wichtiger weltpolitischer Akteur geschwächt und bei den Gegnern des Irakkrieges den Eindruck der Prinzipienlosigkeit geweckt. Am Ende realisierte die US-Regierung auch dank der Überzeugungsarbeit der chinesischen Diplomaten, dass sie niemals neun Stimmen für ihren Resolutionsentwurf erhalten würde. So konnte der Sicherheitsrat eine offene Spaltung vermeiden, und China blieb möglicherweise eine massive Beeinträchtigung seiner Interessen erspart.

Eine weit größere Herausforderung als die vorgebliche Existenz biologischer oder chemischer Massenvernichtungsmittel im Irak stellte die mutmaßliche Entwicklung von Atomwaffen durch Nordkorea dar. Denn erstens haben China und Nordkorea eine gemeinsame Grenze, und zweitens geht es bei diesem Konflikt um Nuklearwaffen. 1994 hatten die USA die Bemühungen Chinas um den Abbau der Spannungen zwischen Pjöngjang und Washington durchaus gewürdigt, auch wenn die tatsächlichen Aktivitäten Chinas nicht ganz durchsichtig waren. Als dann aber Nordkorea im Oktober 2002 nach Aussagen des US-Sondergesandten James Kelly eingestand, dass es tatsächlich die Entwicklung von Atomwaffen betreibt, erfuhren die Beziehungen zwischen China und den USA eine erneute Belastungsprobe.

Washington glaubte damals, Peking habe einen starken Einfluss auf Pjöngjang und solle seine Möglichkeiten im Interesse der USA wie auch im eigenen Interesse nutzen. Anfang 2003 beklagten sich die Vereinigten Staaten vernehmlich, dass China nicht genügend Druck auf Nordkorea ausübe. In Washington zogen manche Regierungsvertreter den sarkastischen Schluss, dass man nunmehr Japan zu einer atomaren Aufrüstung ermutigen solle.

In Wahrheit irritiert die nordkoreanische Bombe die Chinesen ebenso stark wie die Amerikaner. Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen liegt nicht im chinesischen Interesse, schon gar nicht, wenn es sich um ein unmittelbares Nachbarland handelt. Die Entwicklung von Atomwaffen durch Nordkorea stellt ein Problem für Sicherheit und Stabilität in Nordostasien dar, und zwar unabhängig davon, ob nukleare Rüstung aus Gründen der nationalen Sicherheit zur Abwehr einer US-amerikanischen „Bedrohung“ gerechtfertigt scheint oder nicht. Denn damit werden die Beziehungen zwischen den USA und Nordkorea nur noch stärker belastet, die Gefahr eines Krieges nimmt zu, und andere Länder der Region könnten sich ermutigt oder gezwungen fühlen, eine atomare Bewaffnung anzustreben. Hinzu kommt, dass eine Krise um Nordkorea mit Sicherheit gewaltige Flüchtlingsströme auslösen würde. Vor allem aber müsste China im Falle einer militärischen Auseinandersetzung auf der koreanischen Halbinsel die Entscheidung treffen, ob es Partei ergreifen oder sich heraushalten soll.

Natürlich kann Peking nicht behaupten, es sei außerstande, Einfluss auf Nordkorea auszuüben. China liefert Nordkorea einen großen Teil seines Energiebedarfs, dazu Lebensmittel, Dünger und andere Versorgungsgüter. Diese Lieferungen dürften etwa ein Viertel der gesamten chinesischen Entwicklungshilfe ausmachen. Doch China muss auf die Sicherheit aller beteiligten Parteien Rücksicht nehmen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Regierung in Pjöngjang davon ausgeht, Nordkorea könnte im Hinblick auf die Verteidigung Chinas eine Pufferzone sein.

Diese Aspekte können das frühere Verhalten Chinas erklären. Doch da die Situation durch die wiederholt verkündeten atomaren Ambitionen Nordkoreas deutlich verschärft wurde, hat Peking seit Frühjahr 2003 eine intensive Reisediplomatie entfaltet: Die Vizeminister Dai Bingguo und Wang Yi fuhren mehrfach nach Pjöngjang, und Staatspräsident Hu Jintao schickte einen Brief an Nordkoreas Führer Kim Jong-Il, in dem er die Interessen seines Landes darlegte. Minister Li Zhaoxing und Vizeminister Wang Yi reisten nach Washington, um die Bemühungen zu koordinieren, die auf die Aufnahme multilateraler Gespräche zielen. Außerdem unternahm Qian Qichen, der Architekt der neuen chinesischen Diplomatie, im letzten Jahr einen inoffiziellen Besuch in Pjöngjang, wohl um für ein besseres Klima zu sorgen und für Gespräche zwischen Nordkorea und den Vereinigten Staaten zu plädieren.

Die oberste Führung Chinas, sowohl Staatspräsident Jiang als auch Staatspräsident Hu, engagierte sich persönlich. Vor drei Jahren äußerte sich Staatspräsident Jiang öffentlich zur mutmaßlichen Entwicklung von Atomwaffen und forderte eine „gerechte und vernünftige“ Lösung nicht nur von den USA, sondern auch von Nordkorea. In seinem Brief soll Staatspräsident Hu seinen Amtskollegen Kim Jong-Il gedrängt haben, an multilateralen Gesprächen teilzunehmen, um die Spannung zu verringern. Er soll Nordkorea sogar darauf hingewiesen haben, dass es die Verantwortung für alle negativen Folgen trägt, die aus der Ablehnung von Verhandlungen erwachsen könnten.

Es heißt ferner, Hu habe die Führung der Kleinen Außenpolitischen Führungsgruppe der KP Chinas übernommen. Die Zentrale Verbindungsabteilung der Partei soll in diesem elitären Entscheidungsgremium eine besondere Rolle spielen. Unter Führung ihres damaligen Ministers Dai Bingguo unterhielt diese Abteilung gute Arbeitsbeziehungen zu führenden kommunistischen Parteien in der ganzen Welt. Dais Leistung wurde offenbar sehr geschätzt: Im Frühjahr 2003 wurde er zum (Ersten) Vizeaußenminister ernannt. In der Hierarchie des Parteisystems bedeutet dies, dass er das gesamte Ministerium leitet. Dais Besuch in Nordkorea im Frühjahr 2003 war von entscheidender Bedeutung, weil es ihm gelang, Kim Jong-Il zu treffen und ihm den Brief von Staatspräsident Hu zu übergeben. Erst danach soll Kim der Aufnahme von Gesprächen in Peking zugestimmt haben.

Manchen Militärs dürfte die potenzielle Bedrohung durch nordkoreanische Atomwaffen wohl nicht so ernst erscheinen wie die durch die Atommacht Indien. Einige mögen zudem glauben, im Notfall könnte China durchaus friedlich mit einem atomar gerüsteten Nordkorea leben. In diesem Kontext spielt das seit langem ungelöste Taiwanproblem eine bedeutende Rolle. Manche Militärs könnten nämlich das Überleben Nordkoreas als hilfreich empfinden, wenn es darum geht, den militärischen Einfluss Amerikas im Fernen Osten in Grenzen zu halten. Aus dieser Sicht darf China Druckmittel nur sehr vorsichtig einsetzen, um das Überleben Nordkoreas nicht zu gefährden.

Auch der Einsatz von Druckmitteln gehört heute zu den Elementen, die das chinesisch-nordkoreanische Verhältnis bestimmen. Trotz des Dementis einiger chinesischer Offizieller und beteiligter Unternehmen kann man weiterhin davon ausgehen, dass China im Frühjahr 2003 die Öllieferungen nach Nordkorea für drei Tage unterbrochen hatte. Dass dies „aus technischen Gründen“ geschah, wie es dann doch auch zu hören war, erscheint im Kontext des Atomwaffenproblems ziemlich unglaubhaft.

China bemüht sich sehr um die sorgfältige Austarierung der Interessen, verfängt sich aber zuweilen auch in Widersprüchen. So stimmte China zwar dem Beschluss der Internationalen Atomenergiebehörde zu, das Problem des nordkoreanischen Atomprogramms vor den Weltsicherheitsrat zu bringen, womit es noch einmal seine Verärgerung über Pjöngjang ausdrückte. Doch im Sicherheitsrat schlug China dann vor, das Problem nicht zu behandeln, um Raum für weitere diplomatische Bemühungen zu schaffen. Nach der Pekinger Gesprächsrunde vom August 2003 soll zudem der damalige Vizeminister Wang Yi den USA mangelnde Initiative bei der Lösung des Problems vorgeworfen haben.

Obwohl die außenpolitischen Entscheidungsprozesse in China heute durchsichtiger sind als früher und obwohl anzunehmen ist, dass die Außenpolitik zunehmend von Think-Tanks und von der öffentlichen Meinung beeinflusst wird, ist vieles noch immer reichlich undurchsichtig. Dennoch, seit China von einer „Zeit wichtiger strategischer Chancen“ spricht, ist die Außenpolitik berechenbarer geworden. Priorität haben dabei die Beziehungen zu den anderen Großmächten – unter denen die Vereinigten Staaten ohne Zweifel die wichtigste sind. Sicher wird Pjöngjang auch weiterhin diplomatische Spiele treiben, aber im Bewusstsein seiner Prioritäten und mit Geduld und Kompetenz wird es China gelingen, die kommenden schwierigen Situationen zu bewältigen.

deutsch von Michael Bischoff

* Dekan des Institute of International Studies und stellvertretender Direktor des Center for American Studies an der Fundan-Universität in Schanghai.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von DINGLI SHEN